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2012
02 – Innocentia-Park

#8 Rüdiger und Julia

Auf der Treppe sagte Eva leichthin: „Grüß deinen Bruder von mir! Er soll nicht so schüchtern sein.“
––Margareta kamen diese zwei Sätze wichtiger vor als alle Bruchrechnung. „Ich werde es ihm gleich sagen.“
––Eva merkte, wie viel besser Margareta diese Aufgabe gefiel als alle vorigen und sagte: „Ach nein, lass das lieber! Sonst kommt er noch auf dumme Gedanken.“
––Die Wohnzimmertür ging auf. Die junge Frau Leseberg erschien. Aus Margaretas Blickwinkel war sie doppelt zu sehen: in der wirklichen Welt und im Spiegel – ein Zweitel und ein Zweitel. Ihre Mutter war der Zähler; das Spiegelbild war der Nenner. Einhalb und einhalb ist eins.
––„Na, wie geht es?“, fragte Frau Leseberg.
––„Wir werden es schon schaffen, nicht wahr, Margareta?“, sagte Eva. „Morgen machen wir weiter.“
––„Margareta ist ein liebes Mädchen, sie ist sehr gutwillig“, sagte Frau Leseberg und strich Margareta übers Haar, „aber manchmal weiß ich gar nicht, was in ihrem Kopf vorgeht.“ Sie sah Margareta fragend an, als erwarte sie eine Antwort.
––Aber Margareta wollte keine Antwort geben: „‚Gutwillig‘, das klingt nach ‚nett, aber blöd‘. Und so etwas zu einer Fremden!“
––„Also bis morgen!“
––„Auf Wiedersehen, Eva!“ – „Wie gefällt sie dir?“, fragte Frau Leseberg, als Eva die Tür hinter sich geschlossen hatte.
––„Sie ist sehr gutwillig“, sagte Margareta.
––Frau Leseberg schüttelte den Kopf und lächelte. Dann drehte sie sich um und ging zurück ins Wohnzimmer, wo ihre Schwiegereltern beim Tee saßen.
––Margareta nahm die Treppe in ein paar hastigen Sprüngen und stürzte in Kais Zimmer.
––„He, anklopfen!“ Kai lag auf seinem Bett, die Hände über der Hose.
––„Ist dir schlecht?“, fragte Margareta.
––„Nein, mir ist nicht schlecht“, sagte Kai abweisend.
––„Warum liegst du dann auf dem Bett?“
––„Ich ruhe mich aus.“
––„Wovon?“
––„Was willst du denn?“
––„Eva lässt dich grüßen. Sie sagt, du sollst nicht so schüchtern sein.“
––Kai sprang auf. „Wirklich?“
––„Ja. Aber dann hat sie gesagt, ich soll es dir doch nicht sagen.“
––„Und warum tust du es dann?“
––„Ich glaube, sie mag dich.“
––„Wie kommst du darauf?!“
––„Sie hat so gelächelt, als du rausgingst.“
––„Wirklich?“
––„Findest du ihre Brüste schön?“
––„Ihre Brüste? Wieso ihre Brüste?“
––„Du hast gestern Nachmittag immer ihre Brüste angesehen.“
––„Ich, ich – also, na ja. Sie gefällt mir gut, aber ich glaube, wir sollten nicht darüber sprechen.“
––„Ich sage nichts.“ Margareta drehte sich um und ging aus dem Zimmer.
––Kai rührte sich nicht.

Margareta setzte sich auf ihren Lieblingsplatz und sah hinunter: der Vorgarten, die Straße, der Park. Der Schnee war weggetaut. Es nieselte vom dunklen Himmel in die dunkle Erde. Manchmal fuhr ein Auto vorbei. Beine sahen unter einem Schirm hervor. Das Vorderdach des Hauses glänzte stumpf. Margareta hätte gerne vom obersten Stockwerk der neuen Grindelhäuser heruntergesehen, aber sie kannte dort niemanden, bei dem sie hätte klingeln können. Wie mochte der Park von so hoch oben aussehen? Vielleicht so, als ob man fliegen könnte.
––Kai war ein gut aussehender Junge und er war nur ein Jahr jünger als Eva. Aber Eva war katholisch und ungarisch. Kai war evangelisch und deutsch. Wie in der Geschichte, die Großvater ihr neulich erzählt hatte: Ein Junge und ein Mädchen kamen von ganz unterschiedlichen Familien, und sie liebten sich, aber die beiden Familien waren gegen sie. Deshalb mussten sie sterben. Das Mädchen hatte Julia geheißen, das wusste Margareta noch, aber der Name des Jungen fiel ihr nicht mehr ein, aber sie würde den Großvater fragen. Irgendetwas mit ‚R‘ … Reinhard, Richard, Rüdiger? Ein Viertel, zwei Viertel, drei Viertel. Das war der Zähler. Ein Viertel, ein Fünftel, ein Sechstel – das war der Nenner. Margareta musste etwas unternehmen, damit es Eva und Kai nicht so ergehen würde wie Julia und ihrem Freund. Für sich selbst konnte sie zurzeit nichts tun. Vielleicht später, wenn sie die Gesichtsoperation hinter sich hatte und Bruchrechnung beherrschte. Und vielleicht würde ihr dann auch jemand helfen, wenn sie etwas ganz dringend wollte. Ein Viertel, einhalb, ein Ganzes: alles.

24 Kommentare zu “#8 Rüdiger und Julia

  1. „Findest du ihre Brüste schön?“ Hahaha! Wahrscheinlich ist das näher an der Wahrheit wie die Jugendlichen sprechen als gedacht.

      1. Es gibt wahrscheinlich auch noch pornolose Pausen. Aber was erwartet man von einem „Kulturland“, dessen erfolgreichster aller Filme F(u)ack you Goethe hieß? Wie man in die Kids reinruft, so schallt es heraus.

      2. Was angeboten wird, wird auch konsumiert. Da brauch man sich keine Illusionen machen. Besser als Verbot oder Ignoranz wäre sicherlich auch hier Aufklärung.

    1. O Rüdiger, Rüdiger, warum bist du Rüdiger? Verleugne um meinetwillen deinen Vater und entsage deinem Namen oder willst du nicht, so schwöre mir nur deine Liebe, und ich will nicht länger eine Capulet sein.

  2. Die kleine Margareta als Kupplerin. Hoffentlich geht die Kai/Eva Geschichte nicht so aus wie Romeo und Julias Schicksal.

      1. Gibt’s Jugendliche in der Pubertät, die nicht an Brüsten (oder den entsprechenden männlichen / transsexuellen / glutenfreien / und und…) Geschlechtsmerkmalen interessiert sind?

    1. Ob Schönheitsoperationen als Allerweltslösung für die eigenen Probleme herhalten sollten? Ich zweifle.

      1. Ach, wenn es nicht doch irgendwie immer die Gefahr gäbe hinterher völlig entstellt zu sein, würde ich mich wahrscheinlich auch hinreissen lassen. Wer will nicht schöner sein als er/sie ist?

      2. Charme ist der unsichtbare Teil der Schönheit, ohne den niemand wirklich schön sein kann. (Sophia Loren) Charme kann man locker gegen einige weitere Begriffe austauschen. Der Look allein macht es sehr selten.

      3. Schönheit ohne Charme ist bloß zum Angucken. Charme lässt sich bis zu einem gewissen Grade lernen, aber angeboren ist er natürlich bequemer.

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