Als ich zum dritten Mal wegsollte, war es meine Schuld – in gewisser Weise. Ich hatte bei der Prüfung zum ‚Industriekaufmann‘ so gut abgeschnitten, dass mir laut Statuten ein Auslandsjahr gewährt wurde. Nach den paar Semestern Jura und dem scheinbar berufshinderlichen Kompositionsstudium hatte ich bei der ‚Deutschen Grammophon‘ als Spätlehrling Unterschlupf gefunden: Praxis dort, Theorie und Abschluss bei Mutter ‚Siemens‘: Berlin, München, Erlangen, alles ohne meine leibliche Mutter; das war schon heftig. Doch nun: London! Ganz allein, mit noch nicht ganz fünfundzwanzig. ‚Deutsche Grammophon‘ war nur noch ein Etikett für Klassik-Aufnahmen. Das Unternehmen hieß ‚Polydor International‘ und verdiente mein Gehalt überwiegend mit der Art von Pop, die ich nicht mochte. In Deutschland war ‚Polydor‘ ein Schnulzen-Label für Roy-Black-Verehrer, im Ausland galt es als erste Adresse für Hard-Rock-Fans, beides so gar nicht meine Welt. Mein Freund Harald und ich, wir begeisterten uns an effektvoller Verlogenheit: Shirley Bassey, Scott Walker, Gene Pitney – der Sound von gestern.

Harald und ich hatten zusammen Abitur gemacht und verschlossen uns gemeinsam im Tiefgeschoss meines Elternhauses vor der Realität. Dem Katholizismus entwuchs ich allmählich, das Absolute mochte ich noch nicht fahren lassen: das Gute, das Wahre, das Schöne, sie waren mir als Goethe- und Beethoven-Experte nach wie vor heilig, zumal diese Begriffe zwischen Partitur und Party-Keller herrlich abstrakt blieben.

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Durch Kathrin hatte ich weitere Elbvorort-Mädchen mit katholischen Eltern kennen gelernt. Sie alle sollten bei den Ursulinen am Dammtor Abitur machen. Gisela war die Einzige, der das auch mit Bravour gelang, trotzdem war sie die Erste, die sich umbrachte, dazu brauchte Tine erst dreißig Jahre später den Alkohol, die anderen leben noch. Damals fuhren wir einmal in der Woche ins Kino oder gleich in Clubs, die sich durch eine gewisse, oder gar ausgeprägte, schwüle Atmosphäre auszeichneten. Der heterosexuelle Harald und die erlebnishungrigen Höheren Töchter machten das gern mit, weil es so schön verrucht war, und ich tobte mich dabei in Gedanken aus. In Wirklichkeit ‚sublimierte‘ ich zur Freude meiner Mutter, indem ich, statt Orgasmen zu provozieren, Orchesterwerke schrieb.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Manchmal kam auch Hans-Dieter mit Haschisch-Konfekt oder Marihuana-Bröseln, die besonders Tine sehr gekonnt mittels eines Kugelschreibers ohne Mine einsog. Dann wehten süße Schwaden und Doors-Riffs durch meinen, unseren Keller; aber auch Mozart-Kadenzen klangen mit Nachhilfe der Substanzen noch sehr viel einleuchtender. Wenn es dabei zu laut herging, drohte meine Mutter am folgenden Morgen: „Das nächste Mal komme ich im Nachthemd mit Lockenwicklern runter und schreie: ‚Ruhe!‘ Dann wirst du dich sehr genieren.“ Das beeindruckte mich nicht besonders, denn wer von uns beiden sich da mehr genieren würde, war ziemlich klar.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Wenn es zu ruhig war, mahnte meine Mutter. „Du weißt doch, dass wir wegen Kuppelei verklagt werden können!“ Aber selbst das geschah nie; denn erst zogen Kathrins streng katholische Eltern mit ihr weg, und dann wurde zum ersten September 1969 der Paragraf abgeschafft. Dass mich die gleichzeitige Entschärfung des Paragrafen über Unzucht zwischen Männern ebenfalls interessierte, ahnten meine Eltern beruhigenderweise nicht.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Ja, meine Eltern hatten es eigentlich gut mit mir, und ich bei ihnen auch. Meine Freunde waren stets willkommen und nie aufrührerisch. Für Taten waren wir zu zimperlich, aber schwärmen konnten wir gut: „Sich etwas vorzustellen, ist schöner, als es zu haben“, redeten wir uns ein, aber wir waren trotzdem keine Müßiggänger, wir saßen nicht nur rum, sondern wir arbeiteten hart an Dingen, von denen uns klar war, dass sie niemandem nutzten, höchstens uns schadeten. Selbst von Genies müssen zeitlebens die meisten ihrer Errungenschaften hart erarbeitet werden: Erst wer sich zu Tode geschuftet hat, hat sich den Anspruch erworben, ‚Leiche‘ genannt zu werden, und ganz so weit waren wir ja noch nicht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Harald und ich, wir taten noch etwas. Und was wir taten, war sinnlos, aber nicht unsinnlich, denn Asketen wollten auch wir nicht sein. Wozu? Verzichten taten wir ausschließlich auf das, was wir nicht mochten – oder uns nicht leisten konnten. (Na ja, bei mir kam noch das, was ich mich nicht traute, dazu.) Wenn uns auch die Größe zum Dandytum fehlte: Wir bewältigten, was wir zu leisten imstande waren. Risikolos genossen wir unsere einerseits unzeitgemäßen und andererseits viel zu jedermannsseligen Präferenzen, und so postulierten wir als die drei wichtigsten Werte des Abendlandes: Dekadenz, Laszivität und Morbidität. Die Trinität von Dekadenz, Laszivität und Morbidität wurde unseren Hirngespinsten zufolge von Ulbricht verherrlicht, und für diese Ideale mussten die Werktätigen auf den Ostberliner Paraden zu den Klängen unserer Lieblingsband, den schwülstigen Walker-Brothers, nicht nur Fahne schwingend marschieren, sondern auch ihre Hand vor der Tribüne devot in den Asphalt rammen. Klingt das reaktionär? Klingt das destruktiv? Oder war unser Leben bloß der Albernheit geweiht?

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Hochmütig vergötterten wir den Unfug und waren stolz darauf. Für uns war ‚elitär‘ auch damals kein Schimpfwort. Nichts sollte sein wie alles. Wir verabscheuten Nüchternheit. Wir liebten Pathos, besonders falsches, aber niemals politisches. Unsere Waffe war das Wort, und das Wort war Quatsch. Wer den folgenden Clip schön laut hört, bekommt ein Gefühl für unsere damalige Welt, wer ihn leise hört, nicht. Und wer noch mehr vom Geheimnis des Lebens erfahren will, die/der hört sich anschließend den Bach an, von dem das Anfangsmotiv zu „In My Room“ geklaut ist.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

So nutzten wir die Zeit und die mangelnde Gelegenheit zu Schlimmerem, um uns mit unseren Schrullen und Zoten weiter von der Engagiertheit unserer Altersgenossen abzusetzen und uns zu Avantgardisten der herannahenden Nonsens-Kultur zu stilisieren. Nur dass wir seelenvoller waren. Die ‚Zuspät-Romantik‘ taufte ich unsere Epoche, deren Zeugnisse unsere gezeichneten, geschriebenen und geklebten Halbjahresübersichten waren. Sie hießen, um sich gegen Tempel, Pyramiden und Dome anderer Kulturen abzusetzen: das Eigentlich-Wesentliche, abgekürzt: EW. Die EWs fassten unser Leben – oder besser: ‚das Leben‘ – zusammen. Wir lebten vor allem, um Stoff für EWs zu sammeln, und  wir achteten darauf, uns jeden Tag ein Stückchen neu zu erfinden und die Erfindung als Landgewinn unseres Kontinents zu vereinnahmen. War das erst geschehen, dann hatte auch der abgedroschenste Witz noch eine reelle Chance, wieder und wieder von uns belacht zu werden. Doch nun würde Schluss sein mit all dem: mit den Clubs, mit dem Rausch, mit der Jugend. Allein nach London: Meine Welt würde untergehen. Jetzt kam der Alltag. Oder das Wagnis. Oder die Metamorphose. In jedem Fall etwas Ungewolltes, das mich schon Wochen zuvor im Schaumbad der Nostalgie wehmütig die Zehen krümmen ließ.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

21 Kommentare zu “#1.3 Unsere Epoche

  1. Oh London, ich habe immer davon phantasiert dorthin auszuwandern. Wenn auch nur für ein paar Jahre. Metamorphose geht ja in jedem Alter.

    1. Sie sind tatsächlich auch der erste in meinem Umfeld (wenn man das als Leser so sagen kann), der „allein nach London“ als ungewollt bezeichnen würde.

    2. Nicht „ungewollt“, sondern „ungewohnt“. In diesem Absatz mache ich mich ja über meine späte Abnabelung lustig. Das heute auch im Fernsehen so beliebte Wort „Verarschen“ war damals im Hochdeutschen noch nicht gebräuchlich.

  2. „Das nächste Mal komme ich im Nachthemd mit Lockenwicklern runter und schreie: Ruhe!“ Besser geht es nicht 😂

  3. Ein bißchen vermisse ich Kommentare zu den beiden Video-Clips. Hat sich die etwa keiner in voller Lautstärke betrachtet? Das ist wie Hummern essen und die Scheren liegen lassen.

    1. Hahaha, ich bin natürlich gerne der erste! Die Walker Brothers waren allerdings nie so meines. Bach selbstverständlich schon. Dass Sie extra die BEST VERSION EVER! der Toccata und Fuge in D-moll herausgesucht haben spricht für Sie.

    2. Die Zeichnungen lassen die Youtube-links halt ein bischen alt aussehen 😉 Walker und Bach haben das natürlich nicht verdient.

    3. Naja. Der Sound ist von youtube, die Illustration zu „In My Room“ nicht. Dass die Werktätigen ihre Hand vor Ulbrichts Tribüne in den Asphalt rammen mussten, entstammte nicht dem damaligen Sozialismus, sondern meinem real existierenden Wahnsinn.

  4. Sie waren damals wohl ungefähr um die 27-28, stimmt das? Das ist definitiv ein ordentliches Nesthocker-Alter. Da ist die Wiedergeburt natürlich umso schmerzhafter, aber hoffentlich auch umso grandioser. Ich bin gespannt wie es weitergeht.

  5. War der Track der Walker Brothers nun eine Hymne zum Sozialismus oder zur Gegenbewegung? Ich empfand sie recht unpolitisch bisher. Die blutigen Finger sind schauderlich, bekam Gänsehaut.

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