Am Montagmorgen holte mich George Wishard ab, und dass ich seinen Namen nach siebenundvierzig Jahren immer noch, ohne nachzuschlagen, mühelos aus meinem Gedächtnis kramen kann, während ich überlegen muss, wie die vorige deutsche Umweltministerin hieß oder der Schauspieler, der im vorletzten Tatort der Täter war, zeugt davon, welche durchgreifende Rolle George Wishard in meinem Leben gespielt hat.

Er war das genaue Gegenteil von mir: unbekümmert, draufgängerisch, optimistisch. Die wichtigsten Händler wurden von ihm besucht, das hatte doch mehr Gewicht als ein einfacher Vertreter, der seine Mappe mit Covern durchblätterte und sich unsicher erkundigte, ob das ahnungslose Mädchen, das zwischen Browser-Board und Kasse regierte, etwas von den akustischen Schätzen bestellen mochte, über die die Plattentaschen visuell Auskunft gaben.

George trat weitaus eindrucksvoller in den Laden, und seine Siegesgewissheit schüchterte manch schottische Verkäuferin ein, bis sie dann bei Brahms doch sagte: „That’s actually not my cup of tea.“ Für das, was man nicht braucht, steht man nicht an. Für Lebensmittel habe ich noch nie angestanden, an keinem Buffet der Welt. Lieber würde ich verhungern als darauf zu verzichten, dass mir der Ober die Mahlzeit zuteilt. In Clubs, in denen ich nicht wegen irgendwelcher Verbindungen zum Türsteher an der Schlange vorbei reingelassen wurde, bin ich nie gegangen. Wenn man dagegen will, dass Leute sich um Überflüssiges reißen, muss man Werbung machen. Davon lebt der Kapitalismus, der Sozialismus brauchte das nicht, die Menschheit ihn auch nicht.

Schallplatten sind überflüssig, aber es gibt Verrückte, die sich lieber die neue Interpretation einer Bach-Suite kaufen als ein neues Sweatshirt. Die waren Teil der Kundschaft, die mein zukünftiges Gehalt bezahlen sollten, zusammen mit denen, die ihrer Großmutter zum Geburtstag Karajan schenkten. Hier in Schottland waren mehr Tammy Lee und Middle Of The Road für meine Miete im angesehenen Londoner Nordwesten zuständig. Polydor UK zahlte mir etwas dazu, weil die Wohnung teurer war als von Hamburg vorgesehen. Sehr nobel! Mein Gehalt bekam ich in der Buchhaltung bar ausgezahlt, manchmal auch zweimal, weil die Angestellten nicht so genau wussten, was sie taten; und weil ich ein sparsamer Mensch bin, habe ich anschließend noch längere Zeit in Hamburg von meinem Londoner Verdienst gelebt.

In George Wishards Auto ging es mir eher nicht so gut: Ich fühlte mich sauelend. Wir fuhren durch die kurvenreiche, hügelige schottische Gegend, trafen einige bedeutsame Händler, und ich dachte, ich stürbe. Woran, wusste ich nicht so genau: Schwäche? Angst? Herzversagen? Ein solcher Zustand ist lächerlich, bloß nicht, wenn man ihn hat. Als es kurz nach zwölf und die Pubs geöffnet waren, genehmigten George und ich mir einen doppelten Whisky. Danach ging es mir gleich besser, eigentlich gut, und ich hätte den Tag sicher heil überstanden, wenn nicht der Abend gewesen wäre.

Foto: Alexey Lysenko/Shutterstock

Die schottischen Schallplattenhändler waren nicht sonderlich anspruchsvoll, und ich spielte das Spiel mit, es die Ladenbesitzern eine Ehre sein zu lassen, mich empfangen zu dürfen. Aus der Zentrale in Deutschland! Natürlich vermittelte ich jedem das Gefühl, nur seinetwegen im britischen Norden zu sein, und da ich mir das selbst einbildete, machte es meine Vorstellung umso glaubwürdiger. George Wishard war zufrieden, weshalb er mir den Abend versaute.

Foto: Privatarchiv H. R.

Gegen sieben holte George mich im Hotel ab, mit dem Vertreter von Perth und Umgebung. Man ist ja im Englischen immer rasch beim Vornamen, was mir damals etwas befremdlich vorkam. Ich war es halt gewohnt, dass sich im Kreise meiner Eltern gesiezt wurde, selbst wenn man sich jahrelang kannte und schätzte. Deshalb hatte ich – noch daheim – bereits in Anwesenheit meines Vaters am Mittagstisch meine Mutter über zwei sehr unattraktive Damen aus dem Golfclub befragt: „Würdest du dich scheiden lassen, wenn Guntram mit Frau Elting und Frau Nedelmann gleichzeitig ein Verhältnis anfinge?“ Meine Eltern aßen in solchen Fällen ihren Salat kommentarlos zu Ende.

Foto: TunedIn by Westend61/Shutterstock

Eine Zeitlang nannte ich meine Mutter „Lobetal“, was sie dann allerdings mit „Quatschemaul“ konterte. George und der aus Perth waren nicht so schlimm, aber der Belustigung halber hatten sie zwei Wesen dabei, die George schon im Voraus als „Chicks“ bezeichnet hatte. Etwas burschikos ausgedrückt sollten das vermutlich Hühner sein, im Deutschen hätte man wohl ‚Miezen‘ gesagt. Not my cup of tea. Es war allerdings weder die Zeit noch ich der Kerl, der gesagt hätte: „Ich bin schwul. Lasst mich in Ruh’ mit den Schnepfen, und ihr beiden seid auch nicht mein Geschmack!“ Jesus war noch ein klein wenig meine Zuversicht, und ich hoffte noch, Guntram einen Gefallen zu tun, wenn ich dereinst die Tochter eines seiner Golfpartner heiraten würde. So übte ich mich also notgedrungen, aber trotzdem touristenstolz, mit den Mädels im Square Dance und versuchte, bei meinen Kollegen im Bierkonsum mitzuhalten. Auf drei unterschiedlichen Volksbelustigungen wurde meine Einsatzfreudigkeit auf die Probe gestellt, und weil es sich um ‚Privatveranstaltungen‘ handelte, durfte man auch nach zehn noch weiter das zechen, was einem schmeckte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Gegen Mitternacht karrte uns George dann doch in Richtung Heim, was in einer Kurve nicht so toll gelang und, wie er behauptete, mit seinem Alkoholkonsum nichts zu tun hatte. Wir bekamen das Auto dann sogar ohne fremde Hilfe wieder auf die Straße, und George schärfte mir ein, in jedem Fall zu behaupten, der Unfall sei auf einer Dienstfahrt passiert, ich sei dabei gewesen. Für die Versicherung war das wichtig. Natürlich fragte mich niemand, und so kam es zu einer der wenigen Lügen, die ich nicht aussprechen musste und zu einem firmenbezahlten neuen Kotflügel für Georges Vauxhall.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Robotriot/Wikimedia

Als wir vor der Tür einer der beiden ‚Chicks‘ landeten, mit lädierten Reifen und aufgedunsenen Gesichtern, wurde ich ermuntert, aufgefordert, gedrängt, sie nach oben zu begleiten. Das tat ich auch und stellte fest, dass sie die Wohnung mit zwei anderen – leider, Gott sei Dank? – abwesenden, weiteren Chicks teilte. Ich verabschiedete mich also mit gespielter Ängstlichkeit und lief die Treppe zurück zu Georges ramponiertem Wagen. Beide Herren waren tief enttäuscht, dass ich das Huhn nicht ordentlich durchgefickt hatte, ich war eher froh, dass die Männer sicherheitshalber doch noch nicht abgeknattert waren. So konnten sie mich zum Hotel bringen, während ich beteuerte, wie gern ich mir das dralle Ding vorgenommen hätte, wenn mich nicht Rücksicht auf die Mitbewohnerinnen abgehalten hätte. In einer Mischung aus Mitleid und Überlegenheitsgefühl ließen sie mich ziehen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Der jugendliche Nachtportier fuhr mich im Fahrstuhl nach oben, wobei ich trotz der Enge seine Tuchfühlung als etwas indiskret empfand. Nach einer Weile, ich stand gerade Zähne putzend im Schlafanzug, klopfte es. Ich spülte den Mund und öffnete. Der Nachtportier, der blondgelockte, hielt mir einen undefinierbaren Fetzen vor die Nase und fragte mich, ob ich das unten vergessen hätte. Ich verneinte höflich, schloss die Tür und war nicht bereit, auf weitere Attacken gegen meinen Körper und meine arme Seele zu reagieren, fiel ins Bett und fand dort das, womit ich am Morgen erst gar nicht hätte aufhören sollen: Schlaf.

Foto oben links: Edler von Rabenstein/Fotolia | Fotos (2): Privatarchiv H. R.

19 Kommentare zu “#1.6 Im Graben

  1. …und ich dachte schon, das klopfen des Nachtportiers führt zur ersten leidenschaftlichen Nacht im Vereinigten Königreich. Aber vielleicht wäre das zu klischeebeladen 😉

    1. Youtube war 1971 selbst für aufgewecke Zeitgenossen genauso (un)vorstellbar wie eine Sushi-Bar für Goethe. Manchmal kommt die festgehaltene Realität der Phantasie eben nicht zur Hilfe.

  2. Mit Namen von Regisseuren, Musikern, Künstlern etc. bin ich ziemlich gut. Im Alltag kann ich mir allerdings kaum merken wen ich da vor mir hab. Verkehrte Welt.

    1. Musik, Kunst, Kultur braucht man um durch’s Leben zu kommen und nicht vom Alltag zermürbt zu werden. Ist also auch nicht überflüssig.

  3. Anstehen (vor allem für gutes Essen) macht mir nichts aus. Wenn der Kapitalismus nicht in nächtliches Campen ausartet (siehe Iphone-Release, Limited Edition Turnschuhe etc.) ist das schon alles im grünen Bereich…

  4. Ach Gott, James Last! Ich erinner mich noch zu gut an haufenweise Platten meine Mutter. Ziemlich Piefig.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

sieben + vier =