Wenn etwas schiefgegangen ist, gibt man auf oder versucht es nochmal. Beides erfordert Weisheit. Den Weltkrieg umzukehren, wie es mein Großvater nach dem Ersten beim ‚Stahlhelm‘ probiert hat oder einige SS-Offiziere nach dem Zweiten von Südamerika aus, das ist töricht. Nach gescheiterten Probeaufnahmen und blöden Werbespots weiter zu versuchen, Star zu werden, wie es James Dean und Marylin Monroe getan haben, kann sich auszahlen. (Unglücklich bleiben kann man ja trotzdem.) Wichtig sei vor allem – sagen Psychologen – nach einem Flugzeugunglück, einem Autounfall oder einem Sturz vom Pferd rasch wieder das entsprechende Fortbewegungsmittel zu besteigen, damit sich die unangenehme Erfahrung nicht im Hirn festsetzt und zum Trauma wird. Runtergefallen vom Stier? Überlebt? Gleich wieder rauf auf den Bullen! Rodeo. Meine Devise war: Wenn das unerbetene Leben schon sein muss, dann in der Arena, nicht auf der Tribüne. Torero sein, nicht Trottel!

Das brachte mich zwei Jahre und viele Einsichten später zurück nach Edinburgh. Allerdings nicht ohne Aufwand, doch passiert war inzwischen so viel, dass ich, um den Leser nicht ratlos zu lassen oder gar zum Selberdenken zu zwingen, einiges einfügen muss, wie so oft.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Foto Mitte: MeiBo/Wikimedia Commons |

In Hamburg, in der Zentrale, wurde der Platz des Product Managers für klassische Neuveröffentlichungen frei. Der Chef der Abteilung hatte sich für höhere Aufgaben qualifiziert, und sein zweiter Mann bekam die Stelle nicht, was er als so ungerecht empfand, dass er die Abteilung verließ. Stattdessen bekam ein Produzent den Posten, den Pali, der viel zu sagen hatte, für jung und dynamisch hielt. Bisher hatte der Neuling sich um Kubelik und Stockhausen gekümmert, hatte einen Doktor in Musikwissenschaft und kurzfristig meine jüngere Cousine zur Freundin, was dazu führte, dass sie mir zum 24. Geburtstag, um das Geld für Blumen zu sparen, ein Freiexemplar der 5-LP-Kassette mit Avantgarde-Dreck schenkte, die ihr Freund produziert hatte. Selbst Tulpen mit Spargelkraut wären mir lieber gewesen. Aber er, ihr Freund, war sehr charmant und sehr ansehnlich, und so hätte meine Mutter sicher ähnlich entschieden wie Pali.

Ich hatte mich in der Ausbildungszeit in der Abteilung ‚Klassische Repertoire-Auswertung‘ schon beliebt gemacht, bei den Sekretärinnen, weil mir auffiel, wenn sie beim Friseur gewesen waren, und das zu erwähnen damals noch nicht als sexistisch galt, beim Chef, weil ich Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden konnte und die Mondscheinsonate von der Appassionata. Der neue Abteilungsleiter – ab jetzt nenne ich ihn einfach als Pseudonym ‚Werner‘ – kannte mich ja bereits als Cousin meiner Cousine, und der scheidende als aufgewecktes Bürschchen, und so wurde ich vorzeitig aus London zurückbeordert, um die Vakanz zu füllen. Es war das einzige Mal, dass Pali keinen Einfluss auf meine Karriere genommen hat. Ihn, Pali, hatte ich kennengelernt, weil sich Irene 1967, als ich noch Kontrapunkt und Instrumentation studierte, meine Schlager nicht länger von mir selbst interpretiert anhören wollte, sondern endlich im Radio von jemand Berufenerem. (Leider habe ich von meiner Mutter nicht nur das gute jüdische Misstrauen der Welt gegenüber mitbekommen, sondern auch ihr völliges Unvermögen, einen Ton so zu singen, wie er gemeint ist.)

Fotos 83): Privatarchiv H. R.

Irenes beste Freundin Nina hatte noch eine weitere Freundin; der gehörte das Kindermodengeschäft, in dem Pali die Garderobe für seine Tochter Gioia einkaufte; zu der war er gekommen wie die Jungfrau zum Kinde: „Wenn Tobias“, sein damaliger Schwarm, „heute wieder nicht kommt, heirate ich Digne“, habe er sich geschworen. Tobias kam nicht, Pali heiratete Digne, ließ sich aber bald scheiden, und dabei bekam Pali Gioia zugesprochen, weil selbst die Richter der Adenauer-Zeit der Meinung waren, dass das Mädel besser bei seinem Vater aufgehoben sei als bei dieser Mutter.

Foto: Privatarchiv H. R.

Meine eigenen Kinder-Anziehsachen waren stets bei ‚C&A‘ gekauft worden, deshalb begegnete ich Pali von Anfang an mit großer Ehrfurcht, obwohl Nina leicht konspirativ hatte durchblicken lassen: „Der ist aber vom anderen Ufer.“ Mehr hätte mich Nina nicht erschrecken und entzücken können, und so erschien ich im Oktober 1967 in Palis Büro, um ihm meine ins Tonbandgerät gekrächzten Lieder vorzuspielen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Pali leitete 1967 das Literarische Archiv der ‚Deutschen Grammophon‘ und nahm auch Erich Kästner auf. Näher an den deutschen Schlager konnte ich es durch die Beziehungen meiner Eltern nicht bringen. Offensichtlich nicht nah genug, um meine Werke von einer Berühmtheit wie Wencke Myhre trällern zu lassen, aber als zwei Jahre später Irene eine Annonce der ‚Deutschen Grammophon‘ las, bewarb ich mich. Pali war zwar dem Betreuer der kaufmännischen Lehrlinge, Herrn Bertz, so nah wie Grönland dem Äquator, aber wenn meine Großmutter vierzig Jahre zuvor über den Tennisclub Guntram beim Leiter der Kokswerke eine Karriere ermöglicht hatte, von deren Früchten ich heute esse, dann musste Irene es doch schaffen, mich per Stellenanzeige in die Hitparaden zu katapultieren.

Fotos: Privatarchiv H. R.

Werner hatte mir insofern einen Bärendienst erwiesen, als er den ganzen Flur entlang getönt hatte, wenn ich erst käme, würde alles toll. Blicke ich jetzt auf meine Karriere zurück, hatte er nicht mal Unrecht, aber damals wurde ich von meinen zukünftigen Kollegen empfangen, als sei ich die eingeschleppte Cholera. Außer von Silke, muss ich sagen. Wir erkannten einander gleich als zwei Höhere Töchter aus den Elbvororten. Die anderen waren reserviert.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der Marketing-Chef hieß Wolfgang Siegling, zahlte mir ein Spott-Gehalt von 1.200 DM im Monat und kam eigentlich nie aus seinem Eckzimmer, allenfalls mal, wenn er auf die Toilette musste. Ob er aus Angst oder aus Hochmut so zurückgezogen lebte, blieb mir unklar, beherrscht wurde der Flur jedenfalls von Pali, der nun nicht mehr das Literarische Archiv, sondern ‚Creative Services‘ leitete, also Werbung und Aufmachung, und er wusste und kannte alles, außer Musik, aber für die war da Werner zuständig.

Glücklicherweise erwies sich Werner als inkompetent, was für mich sehr nützlich war. Einmal beschwerte sich Pali beim Chef seines Chefs über seine eigene optische Besetzung: „Ich kann mit dem nicht. Der ist nicht nur dumm, sondern auch faul.“ „Seien Sie doch froh!“, bekam Pali zur Antwort: „Es wäre ja schrecklich, wenn er bei seiner Doofheit auch noch fleißig wäre.“

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

28 Kommentare zu “#2.1 Pali

  1. Anziehsachen-Kaufen bei C&A hat mich für Jahrzehnte geschädigt. Eines der wenigen Sachen, die ich meiner Mutter nicht verzeihe.

  2. „Es wäre ja schrecklich, wenn er bei seiner Doofheit auch noch fleißig wäre.“ Wie wahr! Sehr gelacht!

    1. Phantasielosigkeit belästigt weit weniger als lärmiger Avantgarde-Dreck von 1970: Wenn es ruhig ist, kann man eigenen Phantasien nachspinnen, und wenn man keine eigenen Phantasien hat, dann vermisst man sowieso nichts.

  3. Vielleicht ganz gut, dass Sie es nicht in die Hitparade geschafft haben. Schlager ist ja nun auch nicht unbedingt … ich weiss gar nicht was. Aber in jeden Fall nicht unbedingt meins.

    1. Das stimmt allerdings. Vielleicht sollte man doch noch einmal das Genre „gedankenschwere Schlager“ ausprobieren? Quasi als Infiltration der Mainstream-Meinung durch dauerhaftes Mitsingen?

      1. Möglicherweise sind wir wirklich alle Genies und alle Trottel. Je nach Sichtweise. Keine Ahnung.

  4. Huuuuuuch, Hanno Rinke komplett neu! Ich bin noch ein bischen verwirrt, aber sehr begeistert. Kompliment für den neuen Look!

  5. Da schließe ich mich gleich an. Schöner frischer Look. Aber jetzt wo nochmal aufgeräumt wurde fällt mir auf… wo ist denn Edinburgh 2.0? Oder gibt’s die „Nuller“ gar nicht?

  6. ich würde ihre tracks sehr gerne einmal neu interpretiert hören, sind wirklich gute lieder dabei. pali hätte das erkennen sollen.

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