Am Sonntagvormittag holte mich Robert Leslie ab. Er unterhielt freiberuflich für die ‚Deutsche Grammophon‘ UK die Kontakte zu Künstlern und Journalisten. Robert war witzig, intrigant und so sehr ‚Tunte‘, dass ich dieses Wort ausnahmsweise benutzen muss. Angezogen war er immer grässlich, aber was er sagte und welches Gesicht er dazu machte, das war doch aufsehenerregender als sein Textil-Geschmack. Robert ging einmal in der Woche ins Krankenhaus, in den Operationssaal, als freiwillige Aushilfskraft, weil er, wie er Peter Russel gesagt haben soll, so gern menschliches Blut sieht. Seine Urlaube verbrachte er in Marokko, weil dort die Knaben besonders willig sind.

Foto links: Dan Race/Shutterstock | Foto rechts: s4svisuals/Shutterstock

Peter erzählte so etwas immer mit wertfreiem Erstaunen und gab von sich selbst zu, dass er es sehr genösse, wenn Flüge besonders turbulent waren. Dann weidete er sich an Angst und Schrecken seiner Mitpassagiere.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts oben: Jonas Glaubitz/Fotolia | Foto rechts unten: Jürgen Fälchle/Fotolia

Mit Robert unternahm ich einen ausgedehnten Rundgang, einschließlich Schlossbesichtigung, und brauchte die ganze Zeit über wenig mehr zu sagen als: „Nooo! Really?“ Anschließend besuchte ich noch einmal die National Gallery, um eine weitere Scharte von meinem Aufenthalt vor zwei Jahren auszuwetzen: Rokoko.

Ins Tagebuch von 1971 hatte ich geschrieben:

In der Galerie hängen einige Bilder, die man angucken kann. Vor allem ein kleiner Kopf von Rembrandt, von dem die Ignoranten natürlich keine Reproduktion hatten – sowas durchgeistigt Sanftes! Stattdessen fand ich im Shop die Reproduktion eines Watteau, der war aber gar nicht da. Ich forschte und fragte. War doch oben ein Raum abgesperrt. Davor stand mit stumpfem Gesicht so eine Scheiße von Wärter, der sicher nicht mal Rubens von Picasso unterscheiden kann, und versperrte den Zutritt, hatte die Obergewalt darüber, ob ich mich an der schmerzlich-eleganten, elegisch-heiteren Kunst des Rokoko, der höchsten Stilisierung formalistischer Empfindsamkeit laben dürfte. Ich, der Einzige, der, mit Ausnahme meines Freundes Harald, diese heiter-melancholische Grazie zu begreifen imstande ist, muss sich von einer solchen Kackwurst Vorschriften darüber machen lassen, ob Seele und Augen erschauen und erschaudern dürfen. Grund: Die ‚BBC‘ machte Aufnahmen. Aus dem mir unzugänglichen Raum kam jemand vom Team heraus, dem man ansah, dass er nicht durchblickte. Mit ehrlicher Wut im Bauch und starrem Dünkel im Herzen verließ ich die Stätte.

Nun konnte ich den Rokoko-Saal begehen, aber, wie das so ist, inzwischen interessierten mich andere Epochen. Das brachte mir die nicht völlig neue Einsicht, dass, wenn man im Alter jemanden bekommen könnte, nachdem man sich in der Jugend verzehrt hatte, dann ist das Interesse womöglich so erloschen oder der Gegenstand einstmaliger Begierde so ramponiert, dass man mit einer gewissen Genugtuung nicht zugreift. Dass es für diesen Sinneswandel aber wirklich nicht mehr als zwei Jahre braucht, habe ich im sexuellen Bereich in den beiden nächsten Dekaden mehrfach schadenfroh erleben dürfen: Jemanden stehen lassen zu können, ist fast so schön, wie ihn zu bekommen. Das sah ich im Pub des Hotels am Abend etwas anders, zumal das Angenehme am Sex unter Hotelgästen ist, dass hinterher keiner eine Taxe braucht.

Am Montag fuhr ich mit dem Zug nach Glasgow, zu Eric, das hatte ich ihm versprochen. Er holte mich vom Bahnhof ab, führte mich ein wenig herum und dann zu sich nach Hause. Natürlich hatte er sich freigenommen für den Tag und war so unüberspielbar aufgeregt, dass er mir richtig leidtat. Mitleid ist für Nutten sicher eine arbeitserleichternde Empfindung, zur Steigerung der Fleischeslust trägt Mitleid allerdings wenig bei. Es gab etwas zu essen und zu trinken, und als er merkte, dass die Sache schiefzugehen drohte, versuchte er, mich mit Alkohol vollzufüllen, ohne zu ahnen, dass gerade das die einzige Möglichkeit ist, mich vom Trinken abzuhalten.

Foto: Ievgenii Meyer/Shutterstock

Er war so nett, so bemüht und auch gar nicht unansehnlich, und ich habe mich in den folgenden Jahren oft genug nach der Maxime verhalten: ‚mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen‘, aber hier und heute wollte ich einfach nicht. Was ich getan hätte, wenn er versucht hätte, mich zu überrumpeln, weiß ich nicht, doch ich vermute, es war schon zu spät; ich hätte ihn abgeschüttelt. Aber so blieb sowieso alles freundlich. Er blieb lieb, ich gab mich gezügelt temperamentvoll und ließ mich am späten Nachmittag von ihm zurückbringen zum Bahnhof. Über Felder und Dörfer sah ich in den Sonnenuntergang und war traurig, dass ich ihn traurig gemacht hatte. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

21 Kommentare zu “#2.4 Menschenblut

  1. Bin ich von Robert Leslie nun fasziniert oder abgestossen? Was für eine skurrile Persönlichkeit dieser Mann zu sein (oder gewesen zu sein) scheint.

    1. Ich habe allerdings das Gefühl, dass Herr Rinke da ein klitzekleines bischen in seiner Charakterisierung übertreibt…

      1. Wahrheit hin oder her, Potential für einen Roman (oder heutzutage vielleicht eher für eine Binge-watch würdige Netflix-Show) hat die Geschichte allemal!

      2. Ganz genau, wen interessiert die Wahrheit, solange die Geschichte spannend ist 😉 Ich glaube Ihnen natürlich trotzdem…

  2. Ach Gott, ich hoffe doch sehr, dass ich mit 80 Jahren nicht die gleichen Interessen und Begehren habe wie jetzt. Das wäre ja furchtbar.

    1. Ist das nicht Teil unseres Daseins, dass wir irgendwie versuchen die tägliche Wiederholung spannender zu gestalten?

      1. Entweder so oder wir versuchen uns an die tägliche Wiederholung zu gewöhnen und sie ein bischen angenehmer zu gestalten.

  3. Wow, freiberuflich die Schnittstelle zwischen Künstlern und wie auch immer gearteter Institution zu sein, wäre tatsächlich sowas wie ein Traum job für mich. Nah an den Menschen bzw. den Projekten sein, ohne die ganze Organisation stemmen zu müssen. Nicht schlecht.

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