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Fast am Ziel

Überwiegend Irena | #83

Nach der Scheidung zog Vicky mit ihren Töchtern hoffnungsvoll nach Düsseldorf zu Hasso. Jede Nacht, so zwischen zwei und drei, klingelte das Telefon, und Hasso machte sich auf den Weg zu Carola, weil Carola etwa um diese Zeit immer bewusst wurde, wie sehr sie noch an Hasso hing.

Hasso und der Rest der Düsseldorfer Männer allein konnten Carola auf die Dauer nicht ausfüllen, und so schaffte sie sich eine Cocker-Spaniel-Hündin an: Coggy. Mit der hatte sie einen Autounfall, den Coggy besser überstand als ihr Frauchen. Die Folge waren Kopfschmerzen, und die Folge davon war Morphium. Eines Nachts ging Carola nicht zum Telefon, sondern hungrig zu ihrem Kühlschrank, schnappte sich einen kalten Kartoffelpuffer und erstickte an ihm. Streng genommen war wohl der Morphiumkonsum dafür verantwortlich, dass ihr der Bissen in der Kehle stecken geblieben war, und ein Genickschuss als Wunschtod ist sicher eleganter, schon weil Pistolen elegantere Gegenstände sind als Kartoffelpuffer, aber ich musste doch anerkennen, dass sie die skurrilste Todesart meiner entfernteren Umgebung beigesteuert hatte. Zurück blieb Coggy. Hasso nahm das Tier, von dem er schrulligerweise annahm, dass Carolas Seele von ihm Besitz ergriffen hätte, bei sich auf: Ein letzter Liebesdienst für beide Wesen; dafür schickte er Vicky mit den Töchtern wieder weg. Oder sie gingen einsichtig.

Und erst jetzt kommt Karen ins Spiel, genauer: ins Tennisspiel. Hasso lernte sie durch eine gemeinsame Freundin kennen und schätzen. Heiraten wollte er sie eigentlich nicht. Aber wie schon Guntrams erste Frau Martha sich hinter meine Großmutter gesteckt hatte, so machte es auch Karen, und meine Großmutter befahl Hasso, Karen zu heiraten. Während sich jedoch Guntram von Martha zu befreien verstanden hatte, damit ich ehelich wurde, blieb Karen Hasso bis zu dessen Tod erhalten, und das war gut so.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Hasso arbeitete inzwischen für eine französische Kredit-Firma in Saarbrücken, wo er mit Karen ähnlich viele Kosten (Kaviar, Champagner, Ausflüge) verursachte, wie es ihm Carola auf der ‚Kö‛ vorgemacht hatte. Dies hatte zur Folge, dass er rausflog, aber meine Mutter hatte wie so oft eine passende Anzeige in der ‚Welt‛ gelesen: Karen bewarb sich bei Avon-Kosmetik und stieg dort auf zur Schulerin der Schulerinnen. Zu ihren Obliegenheiten gehörte es, in diversen Städten, wie sie es nannte, ‚Schellen zu zählen‘. Das ist hessisch, und es bedeutete, dass Karen anhand der ermittelten Klingelknöpfe die Soll-Vorgaben erarbeitete, damit die Avon-Beraterinnen wussten, wie viele Cremetöpfchen sie in ihrem Distrikt zu verkaufen hatten. Hasso genoss derweil seine Arbeitslosigkeit mit den Frauen, die nicht wie Karen unterwegs, sondern in Saarbrücken zurückgeblieben waren.

Foto: Privatarchiv H. R.

Nachdem auch Karen – in Ehren – aus dem Berufsleben entlassen worden war, zog das Ehepaar an den Schliersee, und da lebte Karen noch lange Zeit als Witwe mit Hund. Inzwischen hat sich ihre ältere Stieftochter erbarmt und sie nach Berlin geholt. Dort lebt die ehemals fette Karen jetzt dürr und dement vom Rest-Erbe ihrer reich gestorbenen Mutter. Da sich Karens intellektuelle Einsichten immer schon mit den Überschriften der ‚Bild‘-Zeitung deckten, hat sich in ihrem Hirn nicht so furchtbar viel verändert.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Irene fand Karen zwar nicht so schlimm wie Carola, aber auch schwer zu ertragen. Karen erzählte und erzählte – von der Suppe bis zum Nachtisch. Interessant daran fand ich, dass es nicht eine, keine einzige, Geschichte mit Pointe gab. Ihr Redefluss strömte gleichmäßig aus ihr heraus, ohne Quelle und ohne Mündung, irgendwie buddhistisch.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Für Vicky hatte Irene mehr übrig, obwohl die Vergangenheit auch da Grund zur Verstimmung bot. Der Grund war Martha. – Silke und Rafał durchstreifen immer noch die engen Gassen von Pitigliano, falls sie nicht heimlich abgereist sind, und um mich von dieser Furcht abzulenken, hole ich beim zweiten Campari noch ein wenig weiter aus:

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Meine Mutter war wie Vicky im Krankenhaus Danzig-Langfuhr geboren worden, aber von den Mitgliedern der Familie Hindenburg trennten sie Welten: Irena war die uneheliche Tochter einer zänkischen Polin, die sich vom Sohn ihrer jüdischen Herrschaft ein Kind hatte machen lassen. Alles, was Irena war und konnte, hatte sie sich selbst erarbeitet. Sie schämte sich ihrer unleidlichen Mutter, aber schüchtern war sie nicht. Irenas unbekümmertes Benehmen war später, Ende der Vierzigerjahre, von meinem Vater zurechtgestutzt worden, damit sie im Kreise der Berliner Kohlenhändler allenfalls durch ihre rasante Länge auffiel. Da galt es, dem immer noch herrschenden Frauen-Ideal ‚blond und niedlich‘, dem Vicky durchaus genügte, etwas entgegenzusetzen, das nicht Ablehnung hervorrief, sondern ängstliche Bewunderung.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

„Passen Se auf, Herr Ringe, die mechte womechlich eine Spionin sein!“, sorgte sich im letzten Kriegsjahr der schlesische Mitarbeiter meines Vaters, Herr Schönhorst, ehrfürchtig, während Hasso abwiegelte: „Also, als exotisch habe ich sie eigentlich nicht empfunden. Ich habe sie nur hinsichtlich ihrer körperlichen Größe als sehr ausgefallen empfunden.“

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Meine Mutter ließ es sich nicht anmerken, dass sie aus keinem ganz so guten Hause kam, wie mein Vater das von sich selbst dachte. Sofort am ersten Kriegstag war sie mit ihrer Mutter aus Danzig geflohen. Die Mutter zog weiter bis Warschau, Irena schwante, dass selbst das nicht reichen würde und blieb gleich in Posen. Dort war 1943 ein SS-Offizier auf ihrer Dienststelle erschienen und hatte ihr vorgeworfen: „Sie sollen in Danzig gegen das Deutschtum opponiert haben. Es ist Anzeige gegen Sie erstattet worden.“ – „Was heißt hier ,gegen das Deutschtum opponiert‘?“, fragte Irena unwillig zurück. „Wahrscheinlich habe ich gesagt: ,Die Deutschen sind Idioten und sie werden den Krieg verlieren‘, aber opponiert habe ich nie.“ Wäre Irena hässlich gewesen, wäre sie vergast worden. War sie aber nicht, und so verliebte sich der SS-Mann in sie und vernichtete ihre Akte. Was das bedeutete, wurde Irena erst viel später klar, als sie noch am Leben war und Irene hieß. Mit ihrer Einschätzung über den verpatzten Endsieg hatte sie ja auch recht behalten. Hitler hätte das ‚Vorsehung‘ genannt.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Den SS-Mann strafversetzte das Schicksal an die Ostfront, wo er fiel, nicht nur wie der Reiter in den Graben, sondern richtig in den Tod, erfuhr man aus informierter Quelle. Irena beorderte das Schicksal dagegen nach Berlin; denn die Vorhersehung gab Irena die Erkenntnis ein, dass sie in der Höhle des Löwen sicherer wäre als im allzu überschaubaren Posen. Der Ausweis, mit dem sie reiste, war nicht gerade das, was man ein gültiges Dokument nennen konnte, aber zwischen Warthegau und Hauptstadt wurde es nicht so genau genommen. Eigentlich war sie staatenlos, ganz ohne Papiere. Im Zug bat Irena einen Herrn um Feuer. Für ihre Zigarette. Er wurde mein Vater. Und das nur, weil sie keine Streichhölzer und er seinen Zug verpasst hatte. Schuld war die SS.

Foto: Irina BEverett Collection/Shutterstock

Guntram arbeitete damals bei den Kokswerken, die als ‚kriegswichtiger Betrieb‘ eingestuft waren; deshalb musste er auch erst im Spätherbst 1944 Soldat werden – ‚als die letzte Goebbelsspende‘, wie er glaubte. „Wenn die erst mich brauchen, ist der Krieg verloren“, sah er ein. Das laut zu sagen, war allerdings lebensgefährlich.

Guntram rettete sich, also mich, weniger durch seinen Kampfgeist als durch sein Verhandlungsgeschick. Er überredete seine ‚Kameraden‘ im April 1945, sich bei Frankfurt an der Oder den Russen zu ergeben. Zur Belohnung wurde er vom Sowjet-General mit Erlaubnisschein nach Berlin entlassen, zu Irena in Frohnau. Sie war als einzige Frau auf ihrer Straße nicht vergewaltigt worden. Die anderen Frauen hatten sich alle möglichst unansehnlich gemacht. Nutzte nichts, das kannten die Tölpel von zu Hause. Irena öffnete die Tür als elegante Dame gekleidet und dezent geschminkt. „Czego pan sobie życzy?“, fragte sie eisig. ‚Was wünschen Sie?‘ Das verschreckte die männliche Landbevölkerung. Am nächsten Tag kamen polnische Offiziere, und damit war Irena aus dem Gröbsten raus.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Als Guntram zurück war, räumten sie erst auf, zeugten anschließend mich und wurden dann, als alles picobello war, von den Franzosen aus dem schönen Haus rausgeworfen – die damals von Alliierten geltend gemachte Art des Eigenbedarfs. So kam zunächst das Liebespaar beim Kohlenhändler Kurt Becker in Neuwestend unter, später Guntram ins Gefängnis und abschließend ich zum Bahnwärter nach Schmalkalden. Irena wurde Hausfrau. „Ich habe bis zu deiner Geburt so viel erlebt, das reicht fürs ganze Leben“, sagte Irene später. Aber dann war sie doch wieder gern unterwegs, nur nicht mehr auf der Flucht, sondern zum Vergnügen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

3 Kommentare zu “Überwiegend Irena | #83

  1. Um Gottes Willen, die Geschichte mit dem Kartoffelpuffer ist tatsächlich skuril, tragisch und komisch zugleich. Das Lachen blieb mir beim Lesen allerdings im Halse stecken. Es kann einem ja eigentlich egal sein, aber ich wünsche mir einen etwas eleganteren Tod als das Ersticken an einem Mitternachtssnack. Die Arme!

  2. Eine schreckliche Zeit! Wir vergessen immer wie gut es uns heutzutage geht. Wer kann sich denn heute in Deutschland noch vorstellen, dass jemand ‚als einzige Frau auf ihrer Straße nicht vergewaltigt worden‘ ist?! Dass man darauf angewiesen ist einen Offizier zu bezirzen um nicht in’s KZ abgeschoben und anschließend vergast zu werden?! Man muss sich wirklich vor Augen halten, wie sich unser Land in den letzten 70 Jahren verändert hat. Und wie fragil der Zustand eines einigermaßen friedlichen Zusammenlebens ist. Wir müssen uns alle in den Hintern beißen um Menschen wie Trump, Le Pen, Orban, Putin an der Macht zu vermeiden. Jedem Autokraten entgegenbrüllen was wir von ihm und seinen Machenschaften halten. Hass bekämpfen. Menschen informieren, aus- und weiterbilden. Die Zeiten, die Sie in ihrem Beitrag beschreiben dürfen nie wieder aufblühen!

    1. Ein KZ-Überlebender sagte neulich in einem Interview auf die Frage was er jungen Menschen bzw. all denen, die die damalige Zeit nicht selbst miterlebt haben, heute mit auf den Weg geben wolle: „Sie sollen sich erinnern, dass sie Menschen sind. Sie sollen menschlich sein.“ Nichts hinzuzufügen.

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