Teilen:

0706
Fast am Ziel

Versteckte Apostel | #90

Gegen eins hatten wir die Po-Ebene durchmessen, und ich dachte: „Bestimmt sind wir schon vor halb zwei bei den ‚Zwölf Aposteln‘“, was aber in einem Lokal nicht besonders schlimm ist, auch wenn ich denke, dass die Kellner einen dafür verachten. Aufsehenerregende Persönlichkeiten erscheinen prinzipiell zu spät. Wenn ich Bernstein für ein Konzert, das er dirigieren sollte, im Hotel abholen kam und er noch im Bett lag, allein oder nicht, sagte ich meinem Blutdruck immer: „Reg dich nicht auf; ohne ihn fangen sie nicht an!“

Meine Freunde habe ich auch unterteilt in die, bei denen ich schon zehn Minuten früher die Hosen anhabe und die, bei denen ich den Braten erst ins Rohr schiebe, wenn ihr Mantel an der Garderobe hängt. Muss ein schönes Gefühl sein zu wissen, dass alle Ohren gespannt aufgerichtet sind, wenn man vors Orchester tritt. Muss ein schönes Gefühl sein, vorzulesen und zu wissen: Alle hängen an meinen Lippen. An meinen Lippen hängt keiner. Niemand fragt mich, wie weit ich mit meinem Bericht bin und wann es weitergeht. Im Film sehe ich, wie der Hauptdarsteller schreibt, seine Gefährtin reißt ihm die Blätter aus den Händen und sie liest mit Inbrunst, oder sie schreibt und er reißt es ihr aus den Händen, oder beides sind Männer oder beides sind Frauen, und alle vier Händereißer sagen zu dem/der von Selbstzweifeln geplagten Dichter/-in: „Das ist ganz großartig! Das ist das Beste, was ich je gelesen habe!“ Schnitt. Drei Jahre später: Die eine Person ist berühmt, die andere besoffen, oder was das Drehbuch sonst so vorsieht. Mir wird nichts aus den Händen gerissen und an meinen Lippen hängt auch keiner rum. Dass ich trotzdem schreibe, kann ich wohl nicht vermeiden. Es kostet Kraft und es gibt Kraft. Früher wollte ich immer, dass alle wissen, wie gut ich bin. Jetzt muss reichen, dass ich es weiß.

Die Po-Ebene haben Harald und ich nach den drängenden Alpen immer als Befreiung empfunden, wenn sich kurz vor Verona die letzten Hügel zurückzogen und das weite, fruchtbare Land in diesiger Hitze lag. Schon in den Sechzigerjahren habe ich ein Gedicht geschrieben, das um das Jahr 1400 in Norditalien spielt:

In Mailand und Triest ist Tanz,
man feiert dort die Renässanz.
In Verona und Vicenza
gibt’s genauso schöne Tänza.

Und so weiter und so weiter. Die Ballade endet im düsteren, noch gotikverhafteten Norden:

Und einzig und allein sich plagt
die arme Magdeburger Magd.

Die Schlusszeile konnte ich beliebig verlängern – die arme Magdeburger Magd-eburger Magd-eburger Magd-eburger Magd-eburger Magd-eburger Magd –, bis die Weghörer mit ihren Biergläsern nach mir schmissen.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Als wir die Autostrada verließen, war es eins und wir gut in der Zeit – dachten wir. Das Restaurant ‚Dodici Apostoli‘ sollte den krönenden Abschluss dieser Reise bilden. Ich rekapituliere kurz:

Apostel waren Männer, die noch direkt von Jesus beauftragt waren, sich um alles zu kümmern. Sie sollten auf der Erde herrschen, wenn Gott demnächst die politische Autonomie Israels wiederherstellen würde, was dann aber doch erst am 14. Mai 1948 geschah und mehr mit den Engländern als mit Jehova zu tun hatte. Als weitgehend untauglich zur Konspiration hatte sich Judas erwiesen. Dass er Jesus wegen der Silberlinge verraten habe, ist Evangelisten-Gewäsch. Er war tief enttäuscht und hängte sich aus Liebeskummer auf. Daraufhin war Judas als Apostel natürlich nicht mehr tragbar; Matthias rückte statt seiner als Zwölfter auf. Und wie wurde das entschieden? Durch Los! Neues Testament, Apostelgeschichte, Absatz 1, Vers 15 bis 26.

Die Zahl Zwölf war deshalb so wichtig, weil das Volk Israel aus zwölf Stämmen bestand, und da sollte jeder Stammestopf seinen apostolischen Deckel bekommen, wie im Nazi-Reich jede Volkseinheit ihren Gauleiter brauchte. Ernennen oder Wählenlassen? Das ist hier die (für Herrscher knifflige) Frage. Da ist das Los kein schlechter Ausweg: Losentscheid ist wie Gottesentscheid – erspart die Demokratie und macht umständliche Wahlen überflüssig.

Verona wurde irgendwann von den Euganeern gegründet. Um 550 v. Chr. eroberten die Cenomanen das Kaff, und erst ab 89 v. Chr. wurde Verona römische Kolonie. Es ging dann ständig hin und her, wie man das kennt, bis Verona 1866 von Österreich-Ungarn zähneknirschend ans Königreich Italien abgetreten werden musste. Von da an konnte Vittorio Emanuele noch elf Jahre lang fröhlich regieren, bevor er sich auf der Jagd den Tod holte (vergleiche #15).

Dass uns die Navi-Tante darauf aufmerksam machte, wie fußgängerzonig die ‚Zwölf Apostel‛ lägen, konnte uns nicht verblüffen. Hatte sie je von einem unserer Ziele etwas anderes gesagt? Dieses Mal hatte sie allerdings besonders recht. Rafał lenkte uns mit wachsender Nervosität durch das UNESCO-Welterbe der Altstadt, und auch ich wartete angespannt auf den Carabiniere, der den Mercedes konfiszieren und uns ins tiefste Verlies der Montagues oder der Capulets werfen würde. Er kam aber nicht. Stattdessen verkündete die Navi-Stimme am Fuß einer Treppe stolz: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

Die Stufen rauf, das hätte ich mir noch zugetraut, nur konnten wir unser Auto ja nicht verschlucken, und in der Menschenmenge stehenlassen konnten wir es noch weniger. Also versuchte Rafał, den ‚Zwölf Aposteln‛ hintenrum beizukommen. Dieser Versuch endete in einem Innenhof, der Dante für seine Beschreibung des Inferno gefallen hätte. Ein Entrinnen schien es nicht zu geben, weil Wenden unmöglich war. Doch entdeckten wir ein Tor, durch das es weiterging – zu Fuß jedenfalls. Rafał musste nun das Kunststück fertigbringen, unseren massigen Wagen durch diese Enge zu zwingen, die in sich auch noch gebogen war, ein Um-die-Ecke-Tor. Es war Millimeterarbeit. Dafür winkten im Jenseits die ‚Zwölf Apostel‛. Sofort.

Wir ließen unser Gefährt ohne viel Federlesen vor der Restauranttür stehen. Das Personal hatte unserem Einzug andächtig zugeschaut. Mehr zu sehen gab es auch nicht; die Gasse war menschenleer, die Speisewirtschaft auch. Wir waren eine halbe Stunde zu spät und bekamen trotzdem noch einen Tisch, den ersten. Silke und ich, wir einigten uns darauf, dass die Geschäftsleute schon gegessen hätten und bereits wieder in ihren Kanzleien säßen. Dass dies Veronas vornehmstes Lokal war, wurde an der Inneneinrichtung, den Bestecken und der Distinguiertheit der Ober deutlich. Man hätte ruhig auch etwas weniger verschwitzt dort eintreffen dürfen, aber Silkes Parfüm reißt ja alles raus. Das Essen war vorzüglich, fand ich.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ein ‚TripAdvisor‛ lobt: ‚Wir wurden von zwei Kellnern im Frack und Fliege empfangen. Diese haben sich sogleich humorvoll um uns gekümmert. Der Service und auch die Beratung bei der Auswahl der Speisen war einzigartig. Das Essen war superlecker und überraschend.‘ Ein anderer tadelt: ‚Speiskarte nur auf Italienisch, KEINE andere Sprache. Wanderer kommst du nach Verona, mach eine großen Bogen um die 12 Apostel.‘ Wem soll man nun glauben, frage nicht nur ich mich. Inzwischen trauen ja viel mehr Menschen ‚twitter‘ als dem ‚Spiegel‘.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Nach dem Essen wurden wir zu den römischen Fundamenten in den tiefsten Keller geführt, Geschichte zum Anfassen. Wein zum Betrachten. Fehlte nur noch eine Puccini-Oper in der Arena. Nächstes Mal.

Die Fahrt von den ‚Aposteln‛ zurück auf die Erde war überraschenderweise noch schlimmer als die Hinfahrt, und das lag am Markt. Der lag da, wo wir durchmussten. Navi-Ariadne wurde entnervt abgestellt, der Wagen auch fast, aber dann kriegte Rafał doch noch die Kurve, wie immer.

Der Weg die Etsch entlang nach Meran war danach ein Klacks. Ich nahm mir vor, im Herbst würden wir nochmal über Nacht nach Verona kommen, ein nahes Hotel buchen und einen unbeschwerten Abend bei den ‚Dodici Apostoli‘ verbringen. Dass daraus nichts werden würde, hätte ich mir denken können, aber ich war mir nicht sicher. Viel häufiger habe ich etwas getan, was ich mir vorgenommen hatte, sein zu lassen, als dass ich etwas getan hätte, bloß, weil ich mir vorgenommen hatte, es zu tun. Klingt kompliziert? Ich bin häufiger nachts mit jemandem mitgegangen als morgens durch den Park gejoggt. Meine Art der Konsequenz. Die Konsequenz daraus ist mein jetziger Zustand.

Zu Hause war alles in Ordnung. Am Freitagmorgen waren wir losgefahren in Meran; am Freitagabend waren wir zurück in Meran. So gehört es sich. Die vier Wochen dazwischen waren kurz gewesen, oder lang. Das ließe sich drehen und wenden. Vier Wochen sind vier Wochen, und für jeden sind sie anders. Ich freute mich darauf, niemals wieder in ein Lokal zu gehen, nur noch im eigenen Bett zu schlafen und jeden Abend fernzusehen, alle Programme. Lebenskünstler ist nicht, wer mit jedem Dreck zufrieden ist, sondern wer sich so schamlos belügen kann, dass er sich dafür rückhaltlos bewundert.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

8 Kommentare zu “Versteckte Apostel | #90

  1. Was würde denn passieren wenn wir unsere Politiker auch durch’s Losverfahren an die Macht bringen würden? Wäre das Trump-Kabinett schlechter aufgestellt? Würde die GroKo von CDU/SPU weniger streiten und produktiver sein? Wahrscheinlich nicht. Einen Versuch wäre es mal wert 😉

    1. Oha! Wer und was würde denn dann genau ausgelost werden? Kommen die ganzen Trottel von AfD und NPD dann auch mit in den Topf? Die Idee (und die damit verbundene Kritik) hat zwar etwas charmantes aber bedarf vielleicht noch ein wenig weiterer Überlegung…

  2. Unterwegs sein ist unschlagbar. Gute Hotels und noch bessere Restaurants sind ein Genuss. Aber es geht nichts über das Schlafen im eigenen Bett und ein Essen vom eigenen Herd. Abreisen ist immer schrecklich, nach Hause kommen aber ein Traum.

    1. Und im selben Spirit gleich weiter: Gute Vorsätze sind super, Pläne machen ist wunderbar. Aber es geht nichts über das Spontane. Abends mit jemand nach Hause gehen ist darum immer spannender als das Morgen-Workout. Der Mensch muss leben nicht planen!

    2. Naja, der Rückblick auf ein planloses Leben wird später vielleicht etwas wirr ausfallen. Pläne sind schön für die Vorfreude, die in manchen Fällen ja die einzige bleibt. Aber auch bei schönen Dingen liebe ich sie. Bei schlimmen Sachen bevorzuge ich die Überraschung. Dann hat man sich vorher wenigstens nicht gefürchtet.

    3. Ich finde Pläne immer wichtig, solange man in der Lage ist, sie wieder über den Haufen zu werfen 🙂 Wie immer im Leben, die Kombi macht’s…

  3. Muss man sich nicht sogar selbst belügen um überhaupt irgendwie durch dieses Leben zu kommen? Die Lebenskünstler haben’s raus…

    1. Hmmm, ich würde behaupten, man muss erst einmal ehrlich mit sich sein und schauen wohin einen das führt. Wenn man sich dann selbst belügen muss, um im Leben weiter voran zu kommen oder eine Krise zu überstehen, ist das natürlich definitiv ein akzeptabler Weg.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

drei × vier =