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Wahnsinn

Verrückt – Teil 2

Um was geht es uns während der Zeitspanne, innerhalb derer uns das Leben aufgezwungen wurde? a) Fressen, b) Ficken, c) Zugehörigkeit. Das hat a) zu Kannibalismus und Karamell, b) zu Verlobungen und Vergewaltigungen, c) zu Religionen und Kriegen geführt. Auch noch zu anderem, ich weiß.

Foto oben links: Public Domain/pixino | Foto oben rechts: Pressmaster/Shutterstock | Foto unten: dootdorin/pixaby

Was all das erträglich macht, ist eine Aufgabe. Hartz IV ist keine schlechte Lösung für die Gesellschaft, aber keine gute für den Einzelnen, aus dem, vervielfältigt wie vom 3D-Drucker, die Gesellschaft weltweit ja besteht, sogar im Osten, seit er, der Einzelne, selbst dort nicht mehr nur aufbaubereite Masse zu sein hat. „Eine Aufgabe“, das ist es nach wie vor. Man braucht eine Aufgabe, damit man sich nicht aufgibt.

Dass sich immer noch Menschen darüber wundern – „Wie konnte Gott das zulassen?“ –, wundert mich nicht nur, sondern es bestürzt mich auch. Wie blöd sind die denn? Gott hat doch bis auf ein paar Unkeuschheiten in Gomorra immer alles zugelassen. Warum? Um zu bestrafen? Um zu verzeihen? Fragen hilft nicht weiter. Augenverschließen ist besser. Dann muss man wenigstens nicht sehen, was auf einen zukommt. Vögelchen Strauß stirbt furchtlos.

Foto: Public Domain/pxhere

Gegen Ende meines Lebens wäre ich gern gut, also so weit links, wie ich das in meiner Jugend nie war. Aber dann denke ich, Linke, o Gott, sind das nicht die, die sich von Leuten wählen lassen, die Dschungelcamp gucken und nicht wissen, wer Adenauer war? Warum soll ich mich für die einsetzen? Würden die für mich ja auch nicht tun. Dann siegt aber doch die Barmherzigkeit, und ich beschwichtige mich: Nein, die sind ja viel zu doof, um wählen zu gehen. Die, die an die Urne treten, haben bestimmt schon mal von Adenauer gehört. Was soll ich also wählen? Ich weiß es nicht: weil ich mir weder meiner eigenen Werte sicher bin noch der Werte derer, die mich vertreten wollen.

Was bleibt von meinem Kinderglauben, und was habe ich davon, dass ich ihn verloren habe? Jedes Mal, wenn ich etwas wirklich Schönes erlebe, denke ich: Dafür werde ich büßen müssen. Jedes Mal, wenn ich etwas lt. Beichtspiegel Verwerfliches tue, denke ich: „Ach, merkt ja keiner!“ Verrückt, ich weiß.

Foto: Public Domain/Wikimedia Commons

Dass alle Gefühle und Gedanken nichts weiter sind als biochemische Prozesse, die dem sinnlosen Zweck der Arterhaltung dienen – ich kann mir das durchaus vorstellen. Diese Annahme gilt für Tiere, Gläubige und Atheisten. Bloß nicht für mich. Ich trage nun mal die Krone der Schöpfung, weil ich demokratisch gewählt bin. Die Stimmzettel aller Wahlberechtigten wurden ordnungsgemäß ausgezählt: von mir persönlich. Kein Widerstand mehr. Der Damm ist gebrochen. Ist das eine gute Nachricht?

Der Damm. Weder Penis oder Vulva noch Anus: geschlechtsübergreifend dazwischen, das ist die Stelle, an der Engel geleckt werden wollen. Die Brücke zwischen Drang und Notdurft: Schritt in die richtige Richtung, nicht mehr Hosenschlitz und noch nicht Beinkleid. Nackt nicht nötig. Es reicht, den Stoff mit der Zunge zu betasten. Es reicht sogar, es sich vorzustellen: die Nahtstelle zwischen Festland und Insel, zwischen Erdenken und Erleben: der Damm.

Foto: Public Domain/pxhere

Die Menschen nicht unbedingt zu lieben, aber sie zu achten, sie also nicht dauernd zu belieben, aber sie ständig zu beachten, das ist die Aufgabe von Politikern – neben ihrer Aufgabe, gewählt und wiedergewählt zu werden. Wie geht das? Was muss man da bedenken, ohne zu gefühlig oder zu gefühllos zu erscheinen? Nicht mehr stur, aber noch nicht verrückt:

Was ist die größte Ehrerbietung? Jemandem sein Leben zu weihen, jemandem in den Tod zu folgen, jemandem das Hinterteil auszulecken? Alles schon passiert. Was ist die größte Missachtung? Jemandem die Geliebte auszuspannen, jemandem ins Gesicht oder aufs Grab zu scheißen, jemandem dabei zuzusehen, wie er vergast wird? Alles passiert. Alles schon passiert. Und das, was man vor fünfzig Jahren noch für verrückt hielt, ist inzwischen auch passiert, und so wird es wohl weitergehen.

Siegen zu wollen ist viel aufbauender, als gesiegt zu haben. Von der Champagner verspritzenden Siegerehrung, irgendwo zwischen Cannes und Dakar, redet sowieso keiner mehr im Himmel. War der Film ein Kassenerfolg, gab’s irdischen Lohn. Beim Rennen und Reiten auch. Ist das Gulag-Lagertor erst offen, können die Pussys als Act durch ganz Europa tingeln. Werden sie aber nicht. Den Märtyrerstatus können die unmusikalischen, gewitzten Mädels nur in Russland aufrechterhalten: Ein Jesus ohne Kreuz ist weder den Gläubigen noch Gott gefällig. Niemand tut sich einen Gefallen damit, seiner Bestimmung zu entgehen. Am einfachsten ist es, gar nicht an Bestimmung zu glauben. Dann machst du nichts und wirst du nichts, und wenn sie dich doch einholt, bist du wenigstens überrascht. Aber dann! Dann ist endlich ein Bekenntnis fällig: Ich glaube an Gott, ich glaube an die Demokratie, ich glaube an mich. Und dann?

Foto: geralt/pixaby

Siegen zu müssen, ist anstrengend, lebensbestimmend und lebensvernichtend. Das Siegen selbst ist, wenn man nicht zu erschöpft ist, um es zu genießen, angenehm, doch! Hübscher Jubel! Aber vor allem ist das etwas für die anderen, für Smartphonegucker und Sponsoren. Was haften bleibt, ist, gesiegt zu haben: das werbe-einträgliche, also sanfte Ruhekissen, bevor man sich wegen eines Dopingskandals oder Steuerbetrugs über Reagenzgläser und Staatsanwälte Gedanken machen muss. Na und? Aberkannte Doktortitel sind auch nicht besser. Für sowas kommt man nicht gleich in die Hölle, und der Himmel kann warten, sowieso. Den Augenblick des Glücks aber, den kann nachträglich niemand zerstören: Die Fotos der deutschen Soldaten in Paris sind für die Urenkel der Invasoren weitaus interessanter als die Fotos des deutschen Wiederaufbaus in furniertem Eichenholz oder im gefluteten Holzminden. Die Gegenwart gestalten nun sowieso die anderen, die alles besser wissen. Kein Wunder, wenn die nicht wie wir 1968 erst mal die ideologischen Trümmer wegräumen mussten, sondern gleich im Ausland studieren und bachelern konnten. Wer es in Cambridge gelernt hat, gegen Oxford auf der Themse zu rudern, der hält sich auch für spreegeeignet. Und wer nicht mit allen Wassern gewaschen, sondern nur getauft worden ist, der findet neben seinem Namenspatron, dem heiligen Kevin (gestorben am 3. Juni 618), eine reiche Auswahl unter den Mit-Heiligen, wenn er sich nicht auf sich selbst verlassen mag und trotzdem etwas erreichen will. Männer versuchten, zu diesem Zweck imposant auszusehen.

Bei Frauen ist es ja egal, wie sie aussehen: Männer sind sowieso hormongesteuert und nehmen, einem Schlager zufolge jede, die nicht rechtzeitig wegklettert. Aber seit #youtoo und Genderitis trauen sich die notgeilen Kerle nicht mehr ganz so dreist ans Eingemachte. Vorsicht ist dabei kein Zeichen von noblem Charakter, sondern von Angst vor den Folgen. Jeder normale Mensch ist genau so verrückt, wie er es sich leisten kann. Das Genie tut sogar noch mehr, der Angsthase sogar noch weniger. So, ich hoffe, nun habe ich einiges zurechtgerückt.

22 Kommentare zu “Verrückt – Teil 2

  1. Wie wahr, wie wahr. Auch durch #MeToo ändert sich nichts an den Positionen. Man hat höchstens Angst vor den Konsequenzen. Schade.

    1. Ich glaube schon, dass ein Umdenken stattfindet. Zumindest in den jüngeren Generation, die mit anderen Werten und Idealen aufwachsen.

  2. Gewählt oder wiedergewählt werden ist oft die Hauptaufgabe eines Politikers. Sich um die Menschen kümmern höchstens ein Sahnehäubchen.

    1. So ist das ein bischen übertrieben, aber viele Politiker scheinen wirklich recht machtversessen zu sein. Interessante Perspektiven für unser Land gibt es wenige.

    2. Politikverdrossenheit hilft allerdings auch nicht weiter. Demokratie funktioniert halt auch nur wenn sich das Volk beteiligt.

      1. Ein weiterer Grund warum z.B. so Leute wie Trump Erfolg hatten. Die vielen Nicht- oder Never-Hillary-Wähler…

  3. Laut Beichtspiegel ist allerdings so ziemlich alles verwerflich was das Leben lebenswert macht. Von daher: Mehr Mut zum Verrücktsein bitteschön!

  4. Anstatt „Wie konnte Gott das zulassen“ sollte man sich viel öfter fragen “ Wie konnte ich das zulassen“.

  5. Hartz IV ist keine schlechte Idee, aber eine ziemlich miserabel durchdachte Ausführung. Aber darum geht’s hier natürlich auch nur am Rande…

  6. Konservativ klingt in meinen Ohren schon völlig falsch. Man kann Leben nicht konservieren. Werte auch nicht. Stillstand bedeutet auch irgendwie Tod. Im Leben müssen sich die Dinge weiterbewegen.

      1. Die Zeit der großen Volksparteien ist grundsätzlich vorbei. Da ist die SPD gar nicht mal so alleine. Spannend was die politische Zukunft so bringen wird.

      2. Na, die bekriegt sich auch wieder. Sonst ist eben Grün das neue Rot. Entschleuniger und Buddhisten finden nicht, dass sich dauernd alles bewegen muss. Traditionen zu bewahren spielte immer schon von ganz links (Leninisten) bis ganz rechts (Neonazis) eine Rolle. Strawinsky sagte: Wahrhaft neu kann nur sein, was auf dem Alten fußt.

      3. Es muss auch nicht immer alles auf Teufel komm raus neu sein. Solange man nicht starr auf seinen Positionen beharrt, sondern flexibel bleibt, geht alles.

  7. Beim Augenverschließen ist das große Problem, dass der Schreck umso größer ist wenn man die Augen wieder aufmacht.

    1. Und wie bei jeder Abhängigkeit (also auch beim verrückt sein) gilt: Entweder verschließt man die Augen wieder und wieder und wieder oder es braucht sehr viel Anstrengung wieder mit der Realität klar zu kommen.

      1. Eine angenehme Lüge oder eine zünftige Verdrängung erleichtern vielen das Leben. Die Kriegsgeneration hat es uns vorgemacht. Und wenn man rechtzeitig stirbt, braucht man die Augen auch gar nicht wieder zu öffnen.

      2. Es gibt ja genauso gut angenehme bzw. sogar notwendige Lügen, wie auch fatale und zerstörerische. Lügen sind ebenso wenig schwarz und weiss wie alles andere im Leben.

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