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Fast am Ziel

Wie alles sein muss | #92

Erst einmal waren wir zwei Wochen lang ganz unter uns. Dann kam Helga, und als Helga abreiste, kam Susi. Rafałs Mann Carsten kam auch, mit Hund. Besuch habe ich gern, besonders, wenn er nicht neben mir im Zimmer schläft, sondern nebenan bei Silke oder im Stockwerk über mir. Die beiden Häuser sind getrennt (oder verbunden) durch die beiden Gärten, mit Pforte dazwischen, und das ist gerade so viel Nähe und so viel Abstand, wie es uns allen guttut.

Zum Mittagessen treffen wir uns fast zeremoniell auf meiner Terrasse. Am Abend leistet zumindest Silke mir im ersten Stock Gesellschaft. Ich rede mir ein, es sei ihr ein Bedürfnis, sie redet sich ein, sie täte es mir zuliebe. Ich esse geringe vorgefertigte Mengen von typischem ‚Abendbrot‘, Rafał hat es meist nach meinen Vorstellungen geschmiert. Silke isst einen Apfel: Sie denkt, weil ihr das reicht; ich denke, weil ihr die Figur wichtiger ist als die Triebbefriedigung. Silke ist auf dünkelhafte Weise bescheiden oder bescheiden dünkelhaft. Sie ist – wenn sie nicht ins Gegenteil verfällt – maßlos in ihrem Maßhalten. Aber auch mir fehlt es ja nach wie vor an Demut. Wer der Heiligen Jungfrau Maria vertraut, hat es leicht, demütig zu sein, aber ich ziehe nun mal die Demut aus einem Verständnis heraus der Demut aus Unwissenheit vor.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Unknown/Public Domain

Die karge Abendmahlzeit beginnt pünktlich zum Gong der ‚Tagesschau‛. Manchmal frage ich mich, ob wir zu viel fernsehen. Dabei tun wir es vorbildlich: nie vor der ‚Börse‛, fünf vor acht, nie Serien im TV (‚Homeland‛ und ‚House of Cards‛ haben wir vorrätig) und nie einen Privatsender mit Werbepausen. Obwohl der Empfang in Meran mit Österreich, Schweiz und Italien viel mehr drauf hat, als Hamburg das schafft, gibt es doch Tage, an denen nichts lockt. Dann verkünde ich Silke mit bebender Stimme: „Heute bist du die Königin!“ Das bedeutet, sie kann in Multiple-Choice aus zwei bis drei DVDs meiner Sammlung das wählen, was ihr Herz begehrt und wir noch nicht gesehen haben. Schon in Hamburg sorge ich rechtzeitig für Nachschub an Filmen, deren Darsteller und Handlungen in unser Weltbild passen: Edelmut und Schurkerei in ausgewogenem Verhältnis, und wenn es an der Handlung hapert, muss wenigstens das Ambiente ansprechend sein. Françoise Sagan ist bei mir weniger durch ihre Romane als durch ihre Erkenntnis unsterblich geworden (frei übersetzt): Unglücklichsein ist immer scheiße, aber ich heul’ lieber im Mercedes als in der Metro. – Mal abgesehen davon, dass ich mir täglich mit ähnlichen Vergleichen meinen Zustand schönrede, forme ich mir diese Erkenntnis auch um zu: Lieber langweile ich mich in netter Kulisse als in Spießerwohnungen, die zu zeigen oder zu veräppeln ambitionierten Regisseuren Freude bereitet. Manch Überflüssiges ist unter dem von uns Gesehenen also leider ungewollt dabei, aber vor dem Bildschirm gilt die humane Maxime: Besser die Zeit totschlagen als seine Mitseher oder andere Gegner.

Anfang Juli hatte ich am Nachmittag manchmal auf dem Bett gelegen und gedacht: „Nun gucke ich weder Fußball-EM noch sonst etwas. Näher kann man dem Totsein nicht kommen. Menschen jubeln, Menschen langweilen sich – gerade jetzt, in diesem Augenblick, und ich? Mich gibt es gar nicht.“

Jetzt haben wir Mitte August, und es gibt mich immer noch. Die Tage verbringe ich gleichartig, eigentlich sogar gleichförmig. Gegen viertel nach neun kommt Rafał und bearbeitet meinen Körper mit seinen Händen und mit Strom. Beides soll meinen schlaffen Leib daran hindern, alle Muskeln abzubauen. Rafał plaudert derweil Vorschläge für den Tag. Mir ist alles recht. Hauptsache, es passiert nicht, nicht mir.

Foto: iofoto/Shutterstock

Ich komme mir vor wie in einem ganz exklusiven Pflegeheim mit nur einem Patienten – mich. Meine Eltern haben mir immer beigebracht, wie man ‚Verdrüsse‘ versteckt hält und Vorzüge betont. Mit siebzig ist das kein Argument mehr, keine Entschuldigung, höchstens noch eine Erklärung. Ertragen zu können, dass man angewiesen ist auf Hilfe, ja, das wäre Demut. Stattdessen beneide ich alle die, die sterben durften, ohne diese demütigende Situation erleben zu müssen. Ich bin nicht demütig und ich wünsche mir auch nicht, es zu sein. Der flammende Wahnsinn war immer mein Ideal. Aber getraut habe ich mich nie, ihn zu verwirklichen, weil ich auch nie ein schlüssiges Konzept hatte, was ich aus meinem Wahnsinn machen wollte. Er war wohl zu klein, um aus ihm etwas Weltbewegendes zu formen wie einen Nobelpreisträger oder einen Selbstmord-Attentäter und zu groß, um ein normaler Mensch zu werden. Ich war mal schräg, nun sitze ich hier und kann nicht weg.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ich sehe völlig ein, dass die Menschen meiner Umgebung vieles tun wollen, was ich nicht mehr kann. Sie laufen auf Berge und Marktplätze, sie paddeln über die Seen. Konzerte hören sie auch gern. Mich reizt das alles nicht, nicht in meinem Zustand. Andererseits feiere ich meine Orgien der Einsamkeit und berausche mich an den Einbildungen dessen, was mein Hirn mir wie der Pizza-Service liefert und was für andere selbst unter Drogen unerreichbar bleibt. Meine Wunschvorstellungen haben nicht mehr den Wunsch, Wirklichkeit zu werden, sondern sie begnügen sich damit, unumgesetzt als Wünsche zu sterben.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Tagesmittelpunkt ist, wie gesagt, das Mittagessen. 13.30 Uhr liebe ich es. Das wird berücksichtigt. Dann esse ich, was auf den Tisch kommt. Was das sein wird, habe ich allerdings am Morgen sehr genau mit Rafał besprochen. Schon während er mich schmückt, mache ich ihm für die Gestaltung der Mahlzeit Vorschläge, die er sehr ernst nimmt. Früher war ich ein begeisterter Koch. Fünfzig Jahre lang habe ich am Herd gestanden, erst für meine Eltern, dann für Roland, dann wieder für meine Eltern und schließlich für Silke. Ich bin also nicht nur Esser, sondern auch Macher und kann jetzt abwechselnd meine Erfahrungen weiterreichen und meinen Senf dazugeben.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

10 Kommentare zu “Wie alles sein muss | #92

  1. Es geht nichts über zeremonielles Essen. Egal wo und egal zu welcher Tageszeit. Hauptsache gut und mit den richtigen Menschen. Ich hoffe, dass mir das möglichst lange erhalten bleibt. Der Rest ist mir (fast) egal.

  2. Besuch ist etwas tolles. Und am schönsten ist natürlich der Moment, wenn der Besuch wieder abreist. Das meine ich tatsächlich ganz ohne Sarkasmus.

    1. Hahaha, Einsamkeit ist nur dann eine Last, wenn sie einem aufgezwungen wird. Ansonsten freut man sich immer wenn man mal für sich sein kann. Ich stimme Ihnen völlig zu. Trotz vieler lieber Menschen in meinem Leben.

  3. Oh das Zitat kannte ich so nicht. Aber hat Francoise Sagan nicht gesagt: „Auch in einem Rolls-Royce wird geweint, vielleicht sogar mehr als in einem Bus“?! Vielleicht hat sie einfach viel über’s Weinen gesprochen…

    1. Ein von Drogensucht geprägtes Leben ist sicherlich kein einfaches. Eine Schlaue Frau war sie natürlich ohne Frage. Einer der wahrsten Sätze, die sie geschrieben hat, ist „Wir bewältigen unseren Alltag fast ohne das geringste Verständnis der Welt“.

    2. Schlau hin oder her, kann man die Welt denn überhaupt verstehen? Also im wahrsten Sinne? Dann hätte ich nämlich gerne mal eine kurze Zusammenfassung…

    3. Hat ja schon bei Faust nicht geklappt. Ich fürchte, es gibt nur lange Auseinanderfassungen. Aber Hamlets Grübelei überlebt den letzten Akt auch nicht. Denken oder nicht denken – ist das hier die Frage?

    4. Am unkompliziertesten kommt man auf alle Fälle durch’s Leben wenn man sich einfach damit abfindet, dass man nicht alles verstehen kann. Das erspart einem viel Frust und einen Haufen Rechnungen für den Psychiater.

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