Aber schon am 16. Juli 1980 war ich wieder in Bamberg. Inzwischen hatte ich die Schule beendet, die Universität verlassen, die Musikhochschule besucht, beim Film volontiert, Privatunterricht bekommen, eine Lehre gemacht, eine Traineezeit durchlaufen, war Product-Manager gewesen, hatte das Repertoire-Büro geleitet und war jetzt Produzent für Klassik-Künstler. Bis auf das, was ich wollte, hatte ich fast alles erreicht. Beruflich. Privat war ich seit fünf Jahren in fester Bindung, nicht krisenlos, aber unerschütterlich, jedenfalls von meiner Seite aus.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ich kam mit dem Zug aus München. Dort hatten wir gerade die Verlängerung des Exklusivvertrages mit dem schlesischen Pianisten Krystian Zimerman bekannt gegeben; damals interessierte so etwas die Presse und Julia von Siemens. Angeregtes Geplauder mit reichen Mäzenen und deren künstlerisch noch ambitionierteren Gattinnen gehörte in meine Job-Description und war eine meiner ausgeprägtesten Fähigkeiten. Ich stieg im Hotel ‚Nepomuk‘ ab; schon lange überstiegen meine Spesen mein Gehalt und das blieb auch so, weil die Flüge immer länger wurden. In Bamberg nahm Homero Francesch Bartóks ‚Mikrokosmos‘ auf. Besonders der japanische Markt brauchte diese Stücke für ein Schulprojekt.Unser Aufnahmeleiter Heinz Wildhagen lebte in Bamberg und hatte meinen Chef davon überzeugen können, dass es für derartige Einspielungen keinen geeigneteren Ort als Bamberg gäbe. Akustik und Ambiente – hervorragend, und nicht so teuer. Als Produzent wollte ich mich dort sehen lassen, höflichkeitshalber, pflichtbewusst, und außerdem war ich mit ‚Homerchen‘, wie meine deutsche Promotion-Kollegin ihn liebevoll-herablassend nannte, ein wenig befreundet. Ich hörte mir nach enthusiastischer Begrüßung von Team und Pianist ein bisschen Bartók an, sehr lustlos, dann streifte ich durch Bamberg.

Foto links: Oliver Hoffmann/Shutterstock | Foto rechts: Harald Lueder/Shutterstock

Es war warm und wolkenlos, genau wie bei den ersten beiden Malen, das Wetter wird nicht älter. Ich erinnerte mich an alles – sobald ich es sah, vorher nicht. Am deutlichsten erinnere ich mich aber jetzt daran, dass ich eine Karte an Harald schrieb: ‚Wieder mal an der Bambe …‘, so hatte ich das Gewässer vor sechzehn Jahren getauft und erst eben, eben erst, habe ich gegoogelt, dass es sich bei dem Flüsschen um die Regnitz handelt. Zwischendurch hatte ich mal vage gemutmaßt, es könne der Main sein, und wenn ich nicht dringend hätte vermeiden wollen, mich schriftlich zu blamieren, wäre ich unwissend gestorben. Andere belehren zu wollen, ist für die eigene Belehrung sehr hilfreich, und da ist Wikipedia viel bequemer als die Staatsbibliothek.

Foto: Amicabel/Shutterstock

Am Abend waren Homero und ich beim Aufnahmeleiter zuhause eingeladen. Heinz Wildhagen liebte guten Wein, gutes Essen und hoffentlich seine Frau; denn ihretwegen lebte er dort in der Provinz. Es hieß, er habe reich geheiratet, was ja Männern nicht schlechter gefällt als jungen Mädchen.

Foto oben: Mattias Lindberg/Shutterstock | Foto unten: Dar1930/Shutterstock

Der Abend war freundlich, von milder Ausgelassenheit, und anderntags fuhr ich zurück in die ‚Weltstadt mit Herz‘, wie sich München seit 1962 selbstbewusst nannte. Die ‚heimliche Hauptstadt‘ war es ja sowieso. Ich war sonst eigentlich mehr für unheimliche Hauptstädte wie Berlin und dessen Philharmonie zuständig, oder für London, Paris, Mailand. Ende August, gleich nach Salzburg, würde ich Roland ‚mein‘ Amerika zeigen, Ostküste, Westküste. Alles lag vor mir – Welt, Leben, Sein: Die Stirn wölbte sich drängend zu den Sternen, am kleinen Zeh kitzelte lustig die Fußnote Bamberg.

Foto oben: s4svisuals/Shutterstock | Foto unten: William Perugini/Shutterstock

Foto: kavalenkava/Shutterstock

Am 20.08.1990 stand ich mit Roland auf der ‚Unteren Brücke‘ und sah auf die ‚Obere Brücke‘. Zehn Jahre später, nichts war anders: Der Himmel war wolkenlos, die ‚Bambe‘ floss vor sich hin. Gemächlich, gemütlich, Fachwerk, Fresken, Ornamente. Alles war anders. Es war unsere letzte Reise; ein paar Monate später war Roland tot. Wir kamen von Rothenburg ob der Tauber und wollten nach Bayreuth, damit Roland Wagner ‚auf dem grünen Hügel‘ erleben sollte, bevor er … wir wussten es ja beide, aber es durfte nicht wahr sein. Nach fünfzehn unvergesslichen, unvergleichlichen, komischen, traurigen, schwierigen Jahren musste es einfach weitergehen, und es ging ja auch weiter. Für mich. Es war furchtbar.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Wir waren nach Nürnberg geflogen und nahmen einen Mietwagen. Ein Ziel hat mir ja noch nie gereicht, und so hatte ich vor Bayreuth, vor dem es mich ein wenig graute, noch Rothenburg eingeschoben, das ich nicht kannte: keine Hochzeits-, sondern eine Scheidungsreise – vom Glück, vom Leben, voneinander, aber es sollte wie ein ausgedehntes Fest daherkommen, und wir gaben uns große Mühe, es zu feiern. Wir standen nur deshalb vornübergebeugt in der Einsamkeit des sengenden Augustmittags, weil Bamberg so ganz umweglos auf unserer Strecke lag, wir sahen von der Brücke in den Fluss, ich wusste nicht, wie er hieß, und es war mir egal.

16 Kommentare zu “#1.6 Bamberg, Bartók, Bayreuth

    1. Was will man denn überhaupt erreichen? Das ist doch die große Frage. Muss man überhaupt etwas erreichen? Da stellt sich die unlösbare Frage, ob das Leben einen Sinn hat bzw. ob es zumindest einen individuellen Sinn haben muss…

    2. Die Antwort kann nur jeder selbst beantworten. Oder anders gesagt, den Sinn muss jeder selbst finden. Das Schlimme ist doch einfach, wenn man seine eigenen Ziele und Wünsche nicht erreichen kann.

  1. Ok, das war nicht Bamberg, Bangkok, Bayreuth. Wieder mal verlesen. Wäre aber sicherlich auch interessant gewesen 🙂

    1. Hahahaha, den Artikel möchte ich allerdings auch lesen. Vielleicht kann man in Anlehnung an Hanno Rinke’s Buchhits auch mal einen Aufruf für noch-zu-schreibende Bloghits machen 😉

    2. Ich bin dabei. Mit „Bamberg, Bangkok, Bayreuth“ und „Zurechtgefickte Ruinen“ habe ich ja schon zwei Titel im Rennen. LOL

  2. Die Szene auf der Brücke kenne ich nur zu gut. Abschiede sind furchtbar, vor allem für denjenigen der bleibt. Oder übrig bleibt. Man sagt immer die Zeit heilt solche wunden. Ich bezweifle es. Man gewöhnt sich an den Schmerz. Viel mehr nicht. Weiter geht es trotzdem. Manchmal freut mich das, manchmal ärgert es mich.

  3. Sein Ziel verfolgen heißt leben, auch wenn es nie erreicht wird. Auf dem Weg sein ist immer gut. Ich denke dabei an meine chinesische Qigong-Lehrerin. „Arme hoch ist immer gut“, sagte sie und meinte Bewegung. Qigong = chinesische Bewegungsform

    1. Wie wäre es denn mit: weder Arme, noch Reiche, noch Beine hoch. Sondern einfach alles gleich. Alle gleich. Nicht sozialistisch gedacht, sondern schlicht und einfach human. Das wäre richtig radikal.

    2. Man kann den Armen nicht helfen, indem man die Reichen vernichtet. Ich glaube das hat Lincoln gesagt. Man sollte doch versuchen, nicht einfach die Verhältnisse umzukehren, sondern etwas an den bestehenden Problemen zu ändern. Nur wer will das schon, wenn er selbst zum Teil der Reichen (oder Reicheren) gehört.

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