Was ist aus uns allen geworden, mehr als fünfzig Jahre später? Seit Ende der Sechzigerjahre gab es keine Klassentreffen mehr. Nur mit Helmut Görlitz habe ich wieder Kontakt, weil ich ihn zufällig vor zehn Jahren im Lokal traf, an seinen roten Haaren erkannte und offenbar schon betrunken genug war, um ihn anzusprechen. Seither sind wir in lockerem Kontakt. Er ist wirklich Regisseur geworden und dreht unter seinem zweiten Vornamen Christian fürs Kino und fürs Fernsehen. Thomas Dirks, der nach dem Abitur bei Studio Hamburg volontiert hatte, machte keine Fernsehkarriere, sondern studierte später mühsam lange Jura. Er wohnte 200 Meter entfernt von mir in einem viel schöneren Haus mit Swimmingpool und Sauna. Er hatte dumme, reiche Freundinnen, die er ausnutzte, aber das nutzte wohl nichts.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Später, als ich schon Karriere gemacht hatte und er nicht, trafen wir uns noch ein paarmal und dann nicht mehr. Wir waren erst Freunde gewesen, dann fast erbitterte Konkurrenten. Da hatte er die angesehenen Kumpel, die ansehnlichen Mädchen, die akademischen Eltern. Er spielte fabelhaft Fußball und zeigte mir und allen anderen ständig, wie sehr er sich mir überlegen fühlte. Später erzählte er mir, er habe das genau umgekehrt gesehen, und inzwischen glaube ich ihm sogar. Bis heute habe ich unsportliche Kämpfernatur alle meine Gegner durch Zermürbung besiegt. Weil ich ein bisschen vernarrt in ihn war und allein gegen ihn nicht anzukommen meinte, habe ich mir überhaupt erst Verbündete gesucht und in den blockfreien Harald und Hans-Dieter auch gefunden – als Gegengewicht zu den Schul-Stars, mit denen er verkehrte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Na ja, seine Eltern ließen sich scheiden, das Haus wurde verkauft, im Internet findet man in Hamburg einen Anwalt mit seinem Namen: Das wird er wohl sein. Heinrich von Rantzau habe ich auch ausgebuddelt. Er war Reederssohn und ist das vermutlich auch geblieben. Unsere Abiturfeier fand im Haus seiner Mutter statt, ein prächtiges Anwesen. Er hatte die Schulzeit über nie aufgetrumpft, jetzt verstand ich erstmals, warum sich mein Vater über unser Arbeitersiedlungshäuschen ein wenig lustig machte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Es gibt von unserer letzten Klassenreise ein Foto, auf dem Harald, Hans-Dieter, ich und Knud Sassmannshausen als Rokoko-Figuren im Hofgarten von Veitshöchheim posieren.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Knud hatte mir geholfen, mit Fliegendraht und Gips die Berge mit Tunneln zu bauen, die ich für meine Modelleisenbahn im Keller brauchte, genauer: Er hatte sie gebaut. Handwerklich bin ich nicht begabter als in der Ballkunst. Sowieso interessierte es mich weit weniger, Züge fahren zu lassen als die Figürchen in die Straßen und Bahnhöfe zu stellen. Entweder ich war damals schon weibisch oder ich machte mir – damals schon – aus Menschen mehr als aus Maschinen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Als ich fünf wurde, bekam ich ein Kasperletheater, da konnte ich meine Puppen nach Belieben tanzen lassen. Mitgeliefert waren die auf einer Holzleiste befestigte Ansicht einer (Gast)Stube und auf der Rückseite die einer Hauptstraße. Von meiner Mutter erbat ich mir ein selbstgemaltes zweites Gestell: auf der einen Seite eine hügelige Landschaft, auf der anderen Seite die Hölle. In diesen vier Kulissen spielte sich mein Leben seither ab, bis heute.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Auch Knud habe ich, zumindest mit einem Bild, im Internet gefunden. Bildunterschrift: „Katarina Kyvalova & Knud Sassmannshausen in their Bentley 4½ Litre on the Royal Automobile Club 1000“. Na bitte, klingt doch auch nach was.

Die Freundschaft mit Hans-Dieter hielt länger. Noch jahrelang saßen wir zusammen im Keller meiner Eltern, den Harald mit meiner unbeholfenen Unterstützung vom Eisenbahn- zum ‚Party-Keller‘ umgebaut hatte. Meistens gab es aber nicht Party, sondern Skat-Abende, die von durch mich fabrizierte Schreibspiele eingeleitet und durch Mengen an Bier und Schnaps begleitet wurden. Wenn Hans-Dieter frisches Haschisch-Konfekt oder Marihuana-Brösel mitbrachte, kam gern auch Tine dazu, die den Stoff sehr gekonnt mittels eines Kugelschreibers ohne Mine einsog. Dann war 1968, und wir lachten weiter prustend bei lauter Musik oder abgewetzten Karten in unserem Kellerglück und wurden trotzdem denkende Menschen. Doktor Hans-Dieter Lübbert ist ‚Sachverständiges Mitglied der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich‘ und hat ‚Das Diskriminierungsverbot‘ im Handbuch des Kartellrechts veröffentlicht. Ob ich ihn mal anrufe?

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Harald ist tot. Er wurde kurz nach seinem 60. Geburtstag in seiner Eineinhalbzimmerwohnung aufgefunden. Eine lange komische und traurige Geschichte, die in meiner nächsten – längst fertigen, aber weniger aktuellen (!?!) und deshalb kurzfristig zurückgestellten – ‚Reise-Beschreibung‘ ausführlicher beleuchtet wird. Als Diplom-Volkswirt bei der Hamburgischen Landesbank hatte er immerhin einen ehrenwerten, oft karikierten Beruf, während sein Privatleben überwiegend aus mir bestand, was ich nicht kokett kommentieren möchte, es hiermit also getan habe.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Am Abend nach dem Freibad-Ausflug ging unser Klassenlehrer mit uns ins ‚Schlenkerla‘. Das Rauchbier schmeckte mir Nichtraucher seltsam, aber dem nur Tee gewohnten Herrn van der Walde löste es zunächst die Zunge und dann die Beine. Wir kicherten etwas unmännlich. Wenn man jung ist, weiß man nicht wirklich, dass man jung ist; wenn man alt ist, weiß man ganz genau, dass man jung war, früher. Am nächsten Tag, Sonntag, dem 7. Juni 1964, fuhren wir zurück nach Hamburg, im D-Zug, zweiter Klasse.

Foto: Privatarchiv H. R.

20 Kommentare zu “#1.5 Ernst des Lebens

  1. Es ist doch immer wieder interessant, wie unterschiedlich Lebensentwürfe oder Lebenswege sein können. Die obligatorischen Klassentreffen sind der beste Beweis. Oft denke ich „Mein Gott, was muss das für ein trauriges Leben sein“ wenn ich einen alten Kameraden sehe. Und Wahrscheinlich denkt er genauso von mir.

  2. Was waren das für Zeiten, als Kinder sich noch mit ein paar Holzfiguren zu beschäftigen wussten. Heute sind sie alle durch Fernsehen, Playstation und Internet so verwöhnt und verwirrt, dass jede freie Sekunde quälend langweilig wird. Die vielen Möglichkeiten sind wunderbar, aber vielleicht bräuchte es ein Fach „Technologie“ in der Schule oder im Kindergarten.

    1. … und Internetkompetenz wird den Kindern bereits in der 7. Klasse beigebracht. Das Fach heißt ITG: Informationstechnologische Grundbildung. Der Appell richtet sich aber auch an die Eltern, die früher oft nicht die Zeit hatten, heute aber eher zu bequem sind, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Wenn die Eltern damals keine Zeit hatten, haben wir (als wir jung waren) uns andere Kinder zum Spielen gesucht oder die Nase ins Buch gesteckt – so kann man auch Abenteuer erleben. Aber es muss jemanden geben, der einem das Tor zu dieser Welt öffnet. Es gibt sie heute noch – und wartet nur darauf, (wieder)entdeckt zu werden.

    2. Wie ich war, als ich jung war, weiß ich ziemlich genau: phantasievoll und unausstehlich. Wie ich in der heutigen Welt Kind wäre? Keine Ahnung! Maschinen statt Märchen. Und fünfzig Jahre später? Da stellt sich doch fast so etwas wie Zufriedenheit ein, dass es war, wie es war.

    3. Frau Reinshagen, was ist denn daran abartig? Ist es nicht die Aufgabe der Erzieher unsere Kinder auf die Welt vorzubereiten? Jedes Kind hat ein Smartphone oder einen Computer zuhause. Warum soll man denn dann nicht auch unterrichten wie damit sicher umzugehen ist?! Das heisst nicht, dass Kinder deshalb nicht mehr im Matsch spielen oder auf Bäume klettern sollen. Ignoranz fördert Bildung bestimmt am wenigsten.

    4. Bei der Erziehung ist es nicht anders als bei der AfD. Man kann entweder nostalgisch zurück schauen oder sich im hier und jetzt mit der Welt auseinandersetzen. Auf Dauer wird nur die zweite Möglichkeit Bestand haben.

  3. „Hans-Dieter brachte frisches Haschisch-Konfekt oder Marihuana-Brösel … und wir wurden trotzdem denkende Menschen.“ Muss man zur immer noch schwelenden Cannabis-Legalisierungsdebatte mehr sagen?

  4. Was wird aus mir in fünfzig Jahren? Was wird aus Deutschland in fünfzig Jahren? Was wird aus unserer Welt in fünfzig Jahren? Klingt erstmal ein bischen pathetisch, ist aber tatsächlich der Ernst des Lebens.

    1. Wer hätte vor fünfzig Jahren gedacht, dass die Welt samt Internet so wird, wie sie jetzt ist? Wer hätte sich vor hundert Jahren ausmalen können, wie sie fünfzig Jahre später sein würde? Keine Spekulationen reichen an die Wirklichkeit heran. Ein Jahr kann man planen, fünfzig Jahre nicht. Abwarten … im Erlebensfalle.

  5. Die Einsicht, dass man nicht mehr jung ist, kommt immer plötzlich. Nichts bereitet einen darauf vor. Schlimm.

    1. Ich halte es ja eher mit Chagall: Die Leute, die nicht zu altern verstehen, sind die gleichen, die nicht verstanden haben, jung zu sein.

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