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Sonntagspredigten

Sinn

Liebe Leserinnen und Leser!

Früher dachte der Mensch, er sei ‚was Besseres‘, die Krone der Schöpfung, gottähnlich. Heute wissen wir, dass wir Tiere sind, die sich nur etwas anders entwickelt haben: miteinander gut organisierbar wie Ameisen, aber weniger effizient, weil kriegerischer, und – außer bei WhatsApp-Mitteilungen – differenzierter in der Verständigung als Bellen oder Gackern. Hühner dürfen Würmer fressen, aber wir keine Hühner. Damit wir das kapieren, habe uns die Natur den Verstand ins Gehirn bugsiert, glauben PETA-Mitglieder.

Die Natur (oder wer auch immer) plant aber nicht, sondern probiert aus, und die Absicht dahinter ist nur die, dass es weitergeht (wenn das jemand Absicht nennen will). Außerdem gibt es für mich – vielleicht im Gegensatz zu Tierschützern – einen weiteren Unterschied zwischen uns und den ganzen anderen gleichwertigen Lebewesen: Wir möchten gern einen Sinn erkennen, eigentlich in allem. Das traue ich Wurm und Henne nicht zu.

Die Natur will bloß, dass wir Kinder kriegen, hatte aber nicht bedacht, dass Sex auch ohne Zeugungsabsicht Spaß macht, als sie uns mit einem Geschlechtstrieb belohnte oder bestrafte (da gehen die Meinungen auseinander). Handlungen, die nicht der Vermehrung dienen, sind für die Natur Un-Sinn, ihr aber egal. Da mussten erst die Menschen einschreiten, um schwulen und außerehelichen Sex zu bestrafen. Von sanfter Ermahnung bis zur Steinigung sind die Maßnahmen vielfältig.

Für uns Menschen muss also alles einen Sinn haben: dass Gott uns geschaffen hat, dass wir fürs Vaterland sterben, dass wir küssen, lieben, schlagen, verlassen; dass wir geküsst, geliebt, geschlagen und verlassen werden. Warum Kornblumen blau sind, warum die Grünen Stimmenverluste haben und warum Stiere auf das rote Tuch des Toreros reagieren. Dabei bin ich dieses Mal auf der PETA-Seite: Das Tier wird bedrängt und verteidigt sein Leben. Die Farbe Rot wurde nur wegen der Zuschauer gewählt. Dem Stier ist die Farbe des Tuches völlig egal. Sie hat trotzdem durchaus einen Sinn, nämlich den, das Publikum zu beflügeln und mitzureißen.

Jede Darbietung steht unter Sinnzwang. Jede Arbeit, jede Freizeit, das ganze Leben. Das Stehen am Fließband oder am Sessellift, das Feiern am Ballermann oder auf einer Luxusjacht, das Geborenwerden und das Sterben. Wenn wir einen Sinn nicht erkennen können, verzweifeln wir oder denken ihn uns aus: dass Gott oder das Schicksal es so gewollt habe, zum Beispiel. Erfinderischere Personen tun etwas anderes: Sie versuchen, entweder sich zu verändern oder die Zustände. Beides kann sowohl nützlich als auch gefährlich sein. Im ersten Fall werden sie zu Helden oder zu Versagern, im zweiten Fall befreien sie eine ganze Nation oder stürzen sie in den Abgrund. Wie sinnvoll das war, beurteilt die Nachwelt sofort und die Nachwelt der Nachwelt nachher anders.

Man kann den Sinn darin sehen, etwas zu tun. Man kann es aber genauso sinnvoll finden, etwas zu unterlassen. Vergesslichkeit und Feigheit sind keine sinnstiftenden Begründungen. Anders ist es bei einer bewussten Entscheidung. 1941 den Abtransport von Juden im Nachbarhaus zu sehen und zu sagen: „Das geht mich nichts an“, ist eine Entscheidung, die vielleicht dem Wertesystem des Beobachters entspricht, „die haben selber Schuld“, womöglich auch. Sinn ist leider subjektiv und nicht unbedingt ethisch. Vieles, das mir früher sinnvoll erschien – und sei es nur zu meinem Vergnügen gewesen –, kommt mir heute überflüssig vor, also nicht ganz so schlimm wie schädlich, aber doch eher sinnlos. Trotzdem begehe ich nicht den Fehler, das, was war, zu bereuen. Was mir geschmeckt hat, das hat mir geschmeckt, auch wenn ich es jetzt nicht mehr runterkriege. Der Sinn ist wandelbar; und des Lebens sinnebetörende Sinnlosigkeit zu genießen, ist auch eine Möglichkeit, seinem Dasein Würze – also Sinn – zu geben (sofern man nicht so puritanisch ist, Geschmack als sinngebend auszuschließen).

„Lass den Unsinn!“ Das heißt doch bloß, dass du mir sagen willst, mir fehle der Sinn dafür, was dich belästigt oder mir nicht guttut. Sinnliche Erlebnisse sind schwer einzuschätzen. Wenn Millionen Menschen über einen sinnfreien Klamauk lachen können, dann ist das eben so. Jede Wirkung hat eine Ursache, und die gibt der Wirkung ihren Sinn.

Der Sinn liegt nie in der Sache selbst. Die Sache ist zweitrangig. Die Idee davon ist wichtig. Gäbe es die Idee nicht, wenn es die Sache nicht gäbe? Umgekehrt: Die Idee schafft sich die Sache. Die unbefleckte Jungfrau, der Heilige Krieg, das großdeutsche Reich, die geile Achselhöhle – das sind alles Ideen, nicht Wirklichkeiten. Wenn Washington, der Kreml, ein Bordellbesucher oder eine Feministin diese Ideen umzusetzen versuchen, müssen sie kämpfen oder zahlen, und wenn sie es schaffen, ihr Ziel zu erreichen, dann müssen sie Genugtuung empfinden, ob sie wollen oder nicht, weil sonst alles umsonst gewesen wäre, auch wenn es viel gekostet hat. Den Sinn kann man sich – Gott oder Teufel sei Dank – auch einreden. Besser, als gar nichts zu haben, finde ich. Falls es dann später zur Enttäuschung kommt, muss man sich halt als Pendent zur Vorfreude eine Nachfreude einreden. Das wäre zumindest sinnvoll.

War dieser Text es auch?

Bange fragend,
Hanno Rinke



Grafik mit Material von: Wikimedia Commons/kallerna, CC BY-SA 4.0 (Schwein links) und pixabay/Ben_Kerckx

58 Kommentare zu “Sinn

  1. Bevor ich das Ende des Artikels erreichte, kam mir bereits der Gedanke, dass all das nichts weiter als Geschichten sind, die sich Menschen ausdenken – wie etwa die Idee von Gott. Geld wäre ein weiteres Beispiel. Statt sie als bloße Geschichten zu bezeichnen, nennen sie sie Ideen, doch im Kern läuft es wohl auf dasselbe hinaus.

    1. Gleichzeitig scheint es, als würden wir Menschen den Sinn, den wir überall im Leben suchen, unsere Ideen oder unsere eigene Version der konstruierten „Geschichten“ so wichtig nehmen, dass wir auch im Nachhinein noch versuchen, sie verständlich zu machen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Angela Merkels umfangreiche Autobiografie. Den Kritiken zufolge, die ich gelesen habe, mag sie keine besonders fesselnde Lektüre sein, doch sie scheint vor allem ein Versuch zu sein, sich nach drei Jahren im Ruhestand noch einmal für Merkels Entscheidungen zu rechtfertigen und sie verständlicher zu erklären.

      1. Einen zweistelligen Millionen-Betrag als Vorschuss einzuheimsen, ist auch kein schlechtes Argument, um ein langweiliges Buch zu veröffentlichen.

      2. Laut Spiegel verkaufte sich Merkels Buch am ersten Verkaufstag besser als Obamas Biografie von 2020, aber deutlich schlechter als Sebastian Fitzeks neuer Thriller »Das Kalendermädchen«. Welchen Sinn finden wir nun darin?

      3. Ich wusste bis zur Berliner Signierstunde gar nicht, dass Angela Merkel ein buch veröffentlichen würde. Anscheinend waren da 35.000 Leute besser informiert.

      4. Das kommt vor. Ich erfuhr vom Taylor-Swift-Konzert erst, als es abgesagt wurde.

      5. Keine der Kritiken, weder in der SZ, FAZ, NZZ noch im Spiegel, weckt meine Neugier. Dröge, langweilig und unpersönlich – so lauten die dominierenden Adjektive. Das 750 Seiten umfassende Buch liest sich angeblich wie ein Terminkalender. Auch ihre Politik wird rückblickend eher kritisch betrachtet. Erstaunlich, dass sie dennoch 16 Jahre Kanzlerin war. Aber vermutlich waren es einfach andere Zeiten.

      6. Diese ‚anderen Zeiten‘ sind jetzt drei Jahre her. Ein Wandel, der im Jahr 1000 Jahrhunderte brauchte, geschieht seit dem Jahr 2000 innerhalb einer Dekade.

      7. Da direkt im Anschluss Harari erwähnt wird, möchte ich mich auch gleich auf ihn beziehen. Er betont, dass wir zum ersten Mal in einer Zeit leben, in der wir nicht mehr wissen, was sinnvoll ist, unseren Kindern beizubringen. Früher war man immer sicher, dass die grundlegenden Kenntnisse, die man zum Überleben braucht, auch in 50 oder 100 Jahren noch relevant sein würden. Im Zeitalter der KI hingegen lässt sich nicht mehr vorhersagen, ob das, was heute wichtig erscheint, in 10 bis 20 Jahren überhaupt noch von Bedeutung sein wird.

    2. @Jonas Wenner
      Es scheint als hätten sie viel Yuval Noah Harari gelesen oder gehört. Der sieht das zumindest ziemlich ähnlich.

      1. Ich habe auch das meiste von Harari gelesen. Seine Lektüre war spannend und erkenntnisreich. Merkel erwähnt nur dauernd in ihren vielen Interviews: „Wie ich in meinem Buch sage …“ Gar nichts sagt sie. Ihre Intelligenz ist sicher groß, aber nicht dramatisch.

      2. Außerdem ist sie nicht unterhaltsam. Als Bestsellerautor:in braucht man beides.

  2. Spätestens wenn in meinem Facebook-Feed wieder einmal die Meldung die Runde macht, dass ab morgen neue Regeln gelten und man unbedingt per Status widersprechen müsse (gerade ist es mal wieder so weit), frage ich mich, ob die Natur uns wirklich so viel Verstand mitgegeben hat, wie immer behauptet wird.

      1. Der Verstand ist eine Sache, die andere, ob man ihn nutzt und wozu. Man kann ihn auch in Video-Spielen verplempern.

      1. Da der Sinn nicht objektiv definierbar ist, liegt es im Auge des Betrachters.

      1. Das ist die große Frage, nicht wahr? Oft verhandelt man mit der Gesellschaft, weil sie die Regeln aufstellt und die Erwartungen definiert. Aber im Grunde verhandelt man auch ständig mit sich selbst – über die eigenen Werte, den eigenen Platz und darüber, wie viel man bereit ist, von diesen äußeren Erwartungen zu akzeptieren oder zu hinterfragen. Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen Anpassung und Selbstbestimmung, zwischen dem, was von außen kommt, und dem, was man wirklich für sich selbst als sinnvoll erachtet.

      2. Wenn man keine Unannehmlichkeiten will, ist es hilfreich, nicht nach dem Sinn zu fragen. Man eckt sonst leicht an: in der Gesellschaft, in der Familie, bei sich selbst.

      3. Die schnell nahenden Weihnachtstage lassen sich so jedenfalls leichter und friedvoller überstehen.

      4. Allerdings haben nur diejenigen die Menschheit weiter gebracht, die die Sinnfrage stellten und neu beantworteten.

      5. Man kann sich zum Neuen Jahr ja den Vorsatz nehmen wieder damit anzufangen.

      6. Na das klingt doch nach einem machbaren Plan. Zusätzlich vielleicht noch einen Plastikstrohhalm weniger und einen Sojalatte mehr und dann gehts dem Klima auch gleich besser.

      7. Der Vorteil des Alters ist, dass der eigene Tod wahrscheinlicher wird als der Weltuntergang. Das stimmt doch optimistisch!

      8. Wer weiß – am Ende überholen uns ja vielleicht doch die Optimisten und retten die Welt, während wir noch entspannt über den Tod philosophieren. Das wäre doch eine schöne Pointe.

      9. Na, dann kommt doch – wie von mir vorausgesagt – der eigene Tod vor dem Weltuntergang.

  3. Ja, der Mensch hat lange geglaubt, er sei die Krone der Schöpfung, das höchste Wesen auf der Erde. Doch heute erkennen wir, dass diese Vorstellung doch sehr begrenzt ist. Wir sind Teil eines größeren Netzwerks von Leben, und unsere Überzeugung, „besser“ zu sein, hat uns oft in Konflikt mit der Natur gebracht. Anstatt uns über die anderen Lebewesen zu erheben, sollten wir unsere Verantwortung anerkennen, die Erde zu respektieren und zu bewahren. Wahre Größe liegt vielleicht weniger in der Vorstellung von Überlegenheit als in der Fähigkeit, nachhaltig zu leben und im Einklang mit der Welt um uns herum zu handeln. Der Mensch ist sicherlich in vielen Belangen einzigartig, aber er ist in gleichem Maße dumm und selbstzerstörerisch.

    1. Der Mensch – die Krone der Schöpfung, die leider oft vergisst, dass sie auch der Gärtner des eigenen Gartens ist.

      1. Kein Lebewesen schränkt sich ein, um die anderen oder die Erde zu schützen. Kein Pilz, keine Heuschrecke, kein Affe. Der Mensch ist eben nicht Gärtner, sondern ein besonders erfolgreicher Wildwuchs.

      2. Aber war es nicht so, dass uns von allen anderen Arten unterscheidet, dass wir so schlau sind und über unsere Taten reflektieren können? Wir müssten also doch eigentlich wissen, dass wir unsere eigenen Lebenschancen erhöhen, wenn wir die Rolle des Gärtners übernehmen. Nicht?

      3. Das wäre vorausschauend. Aber viele Menschen haben bloß Taktik, aber keine Strategie. Verständlich. Wer Hunger hat, will nicht satt sein, sondern essen.

      1. Die meisten verzweifeln ja – Gott sei Dank – nicht. Entweder sie erkennen doch eine Art Sinn in ihrem Sein, oder sie fragen gar nicht erst, weil sie sich mit einer der vielen vorgefertigten Antworten zufrieden geben. Das Beruhigende an den Religionen ist, dass sie solche Antworten haben. Wer nicht mehr glaubt, ist emanzipiert, aber ungeschützt.

      2. Ich wollte schon sagen: Wer es nicht schafft, selbst Sinn in seinem Leben zu finden, kann immer noch auf die Kirche und die Religion zurückgreifen. Man folgt einfach dem, was der Pfarrer einem vorbetet, und ist damit meist ganz gut bedient.

    1. Man muss sich nur glauben. Es geht aber auch mit Zynismus. Der hehre Spruch: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“ wurde bald umgemünzt in: „Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist!“

  4. Die WirtschaftsWoche berichtet, dass die Gen Z derzeit wieder mehr Fleisch konsumiert als im Vorjahr – und sogar mehr als der Durchschnitt. Welchen Sinn mögen wohl die PETA-Mitglieder daraus ableiten?

    1. Das passt doch zu der grundsätzlichen Erkenntnis, dass die Gen Z gar nicht so progressiv ist, wie oft angenommen. Alles verläuft eben zyklisch – und momentan liegt konservatives Denken (wenn man es großzügig so nennen will) wieder im Trend.

    2. Moment, im selben Artikel steht aber auch, dass GenZ mehr vegetarisch/vegan ist als die anderen Generationen. Das ist also alles nicht so schwarz-weiss wie es erstmal klingt.

      1. „Der Mensch ist, was er isst“, ist ja ein bekannter Slogan. Pflanzen soll es auch wehtun, wenn man sie pflückt, las ich neulich. Was tun? Die einen krönen ihre vegane Eistorte mit Hafersahne, die anderen reden sich ein, Parma-Schinken wächst an Bäumen.

  5. Hmm, ich frage mich oft bei den kleinen Dingen nach einem Sinn – in dem, was ich tue. Wenn es aber um das Leben selbst geht, naja, vielleicht ist es besser, ihn nicht zu genau zu suchen. Manchmal scheint es, als würde gerade das Loslassen von zu großen Fragen die kleinen Antworten greifbarer machen. Vielleicht liegt der Sinn nicht im Großen, sondern im Moment – in einer Handlung, einem Gefühl, einem Gedanken, die für sich allein stehen dürfen.

    1. Das ist eine durchaus logische Herangehensweise. Aber es gibt eben viele unterschiedliche Wege. Nicht nur den einen richtigen.

      1. Vielleicht ist es ja wie bei einem Puzzle – statt panisch nach dem großen Bild zu suchen, sammelt man lieber kleine Teile, die dann irgendwie zusammenpassen und doch etwas größeres ergeben 😉

      2. Das Vertrauen, dass im Nachhinein ein Sinn erkennbar werden wird, macht Mut. Beim Puzzle kann da nichts schief gehen. Im Leben muss man bisweilen etwas schummeln.

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