WACHS!
1. Berlin-Reise / 1998
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#1.01 | Ein Wechsel
Nach all den vielen Personen, die ich mir bloß ausgedacht habe, komme ich jetzt mal wieder auf einen realen Menschen: mich. Dabei beginne ich gleich ganz vorne, wie üblich.
Auf meinem Geburtsschein von 1946 steht ‚Schmargendorf‘, und auf meinem Abiturzeugnis von 1965 stand es genauso: ‚Schmargendorf‘. Nichts als ‚Schmargendorf‘!
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#1.02 | Rind im Mund
Es ist der 1. Juli 1998 und nicht zu fassen: Ich sitze in einem ‚Block House‘, Hamburgs prominentester Steakhauskette. Ich sitze hier, allein mit meinen Rechenkästchen. Ich schreibe sie voll, wie immer, Seite für Seite. Zum ersten Mal allein im ‚Block House‘. Sonst waren wir doch immer zu zweit, zu viert, zu sechst, seit fast dreißig Jahren.
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#1.03 | Rote und grüne Punkte
Ich fuhr noch tiefer in den Osten hinein, zur ‚Müggelseeperle‘. Meine Neugier war allerdings rasch gestillt. Natürlich hatte ich ein Schlösschen mit Seeterrasse erwartet, wie ich das vom Zürcher See her gewohnt bin. Stattdessen thronte ein verwitterter Betonklotz mit bösartigen kleinen Luken zwischen den Kiefern: Das war die ‚Perle‘,
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#1.04 | Eingewöhnung
Der Gendarmenmarkt war eine Enttäuschung: ‚darm‘ drückte es am besten aus, aber auch – verkürzt – ‚arm‘ kam hin. Ein Open-Air-Festival fand statt, die mühevoll restaurierten Gebäude waren von Tribünen verdeckt, und alle, die das Geld nicht ausgeben wollten, um dort zu sitzen, konnten sich den Lärm auch auf den Treppenstufen der umliegenden Häuser anhören und unbekümmert ihre Hinterlassenschaft an zerknüllten Papieren, abgenagten Knochen und eingeknickten Pappbechern der Müllabfuhr überlassen.
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#1.05 | Volle Gläser
Von Dorothee zurück zum Alexanderplatz. Der ‚Kaufhof‘ dort (früher ‚CENTRUM Warenhaus‘) ist eine Sechzigerjahre-Perle: fensterlos, mit einer Art blaublechernem Fischgrätmuster aus Aluminium. Aber innen ist er ganz manierlich, und er bot all das, was mir bei Lafayette zu teuer gewesen war.
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#1.06 | Prominenz
Ich war zu früh an der Deutschen Oper an der Bismarckstraße, die drei Minuten später eintreffende Dorothee bloß überpünktlich. Endlose Schlangen vor der Kasse. „Siehst du“, sagte Dorothee, „war doch gut, dass ich schon gestern hier war.“ Dann begann Dorothee sofort mit dem Feilschen um das Eintrittsgeld.
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#1.07 | Kultur und so
Das eigentliche Berlin-Erlebnis besteht darin, auf den Fahrstuhlknopf zu drücken, acht Sekunden abwärtszufahren, einen acht Meter langen Gang zu überwinden und durch eine Tür zu treten. Dann bin ich in Berlin. Geld krieg’ ich gleich im nächsten Eingang, eins weiter ist der Bäcker, auf dessen Tüten steht, wie toll seine Brote und Kuchen seien.
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#1.08 | Monumente hautnah
Mein nächstes Brecht-Erlebnis vereinte mich wieder mit Dorothee. Ich hatte mir am Sonntag durch emsiges Tippen ein kleines Nickerchen wohl, wenn auch spät, verdient. So war es nicht zu früh, als ich fünf vor fünf wieder aufwachte.
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#1.09 | Ein Maler auf der Leinwand
Dorothee hat meine Versessenheit auf Zusammenhänge nicht bloß verinnerlicht, sondern auch veräußerlicht. Kein Handwerker, kein Sterbender, kein Evakuierungsleiter hat den Mut, mich vor zehn Uhr morgens anzurufen, schon gar nicht meine Eltern. Wenn es also vor neun Uhr in der Früh’ bei mir klingelt und ich sollte wach und gar noch in Abnehmlaune sein, dann greife ich nach dem Telefonhörer und sage freundlich: „Guten Morgen, Dorothee.“
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#1.10 | Auf der Straße und auf Besuch
Wie alle preußischen Feldherren, so weiß auch Dorothee, dass Angriff die beste Verteidigung ist: Als das letzte Bild filmischer Böklin-Entwürdigung verflimmert war und die Beleuchtung zuschlug, rief sie gleich aus: „Hochinteressant! Ich fand das hochinteressant.“ Ich stimmte Dorothee durch Kopfnicken zu: Ja, sie fand es hochinteressant. Allerdings kann ich mich auch nicht daran erinnern, dass Dorothee jemals über irgendetwas zwischen Lessing und Ligeti gesagt hätte, dass es langweilig sei.
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#1.11 | Reden und wissen, worüber
Nachdem Dorothee die Beköstigung ihrer Pariser Freundin plus Anhang mit Bravour gemeistert hatte, galt die nächste Einladung ihren ehemaligen Kollegen von den Festwochen und ihrer Französisch-Lehrerin. Ich hatte die Freude, wieder mit gebeten zu sein.
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#1.12 | Ein schönes Geschenk
Michael rief heute an und fragte, ob wir uns treffen sollten. Bei Michael heißt das immer: Kulturprogramm. Er ergänzte auch gleich, in die Neue Nationalgalerie dürften wir aber nicht gehen, denn da ginge Jürgen hin, und der wolle mich immer noch nicht sehen. – Neben der Kalbs- und der Geflügel-, der groben und feinen gibt es noch die beleidigte Leberwurst, und die find ich besonders wenig schmackhaft.
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#1.13 | Mittendrin und außerhalb
Mittwoch: Lankwitz. – Die Kindheitslocation meines Vaters ist noch schlimmer gebeutelt als meine eigene. Der Park, in dem er mit seinen Brüdern und Freunden gespielt hat, blüht nach wie vor, aber die Häuser sind alle weg und durch erbärmliche Wohnsilos ersetzt worden. Immerhin, die Proportionen stimmen noch ...
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#1.14 | Essen gehen
Als wir wieder in der Stadtmitte waren, gab es noch genug Zeit, um sich für den Abend auszuruhen. Da sollte ein Essen mit meiner Cousine Marina, ihrem Mann Florian und Dorothee stattfinden. Guntram war das sehr recht gewesen. „Ein Aufwaschen“, sagte er, aber Irene hatte erhebliche Bedenken geäußert.
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#1.15 | Fontane, Kaserne, Mansarde
Sowohl Dorothee als auch Marina hatten mit mir nach Neuruppin fahren wollen, die Fontanestadt am See. Ich hatte die Aufforderung ausgeschlagen, mit dem Hinweis darauf, dass Neuruppin ja auf meinem Rückweg läge und ich die Stätte dann mit meinen Eltern gemeinsam besichtigen könnte.
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2. Berlin-Reise / 2000
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#2.01 | Schiffstaufe
Darf das Schreiben eines Tagebuches doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen, wie es Tage beschreibt? – Ein Tagebuch darf alles! Innere Zustände, äußere Umstände. Wenn für die Ereignisjagd keine Löwen zur Verfügung stehen, dann darf das Tagebuch großspurig aus Mücken Elefanten machen, aber es darf auch, um nicht zu übertreiben, Elefanten zu Mücken herunterspielen.
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#2.02 | Einstein
Ein willkürlicher Sprung. Heute ist mein letzter Tag in Berlin. Ich sitze noch einmal im Garten des ‚Einstein‘. Der Himmel ist stark bewölkt, so wie an fast jedem Tag seit meiner Ankunft. Kein Blau schimmert durch das wenig aufgelichtete Dunkel.
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#2.03 | Aufbruch im Morgen-Grauen!
Mittwoch, 28. Juni: Jeder Morgen ist die Hölle, dieser ist keine Ausnahme, sondern nach den Weinmengen vom Vorabend eher der Höhepunkt der Regel. Ich flackere aus dem Bett wie eine Flamme in der Zugluft und schmeiße alles, was sich nicht wehrt, in den großen Koffer, den ich in der Abseite gefunden und gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt habe.
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#2.04 | Mitte
Von der Straße auf die Autobahn.
Es ist mir unmöglich, das Wetter nicht auf meinen Gemütszustand zu beziehen, aber wenn ich Italienisch spreche, muss ich mich konzentrieren. Das lenkt ab. Bo im Wagen hinter uns fährt sehr viel bedächtiger als Giuseppe. Von Zeit zu Zeit sieht Giuseppe in den Rückspiegel, schüttelt den Kopf und stößt ein paar Worte hervor.
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#2.05 (A) | Eine ungeheuerliche Abschweifung
Donnerstag, 29. Juni: Es gibt Menschen, die schlafen abends ein und wachen morgens auf. Dann fragen sie: ‚Was kost’ die Welt?‘ und ‚Wo bleibt das Frühstück?!‘ Sie halten nach der vierten Tasse Kaffee nach den Bäumen Ausschau, die sie ausreißen könnten; die Ärmel hatten sie schon hochgekrempelt, bevor sie sich angezogen haben.
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#2.05 (B) | Spree/Havel – alles unter einem Hut
Na, nun war’n wir schon mal in der Friedrichstraße, nun konnten wir auch gleich den Bezirk Mitte abhaken. Die Friedrichstraße ist ja eine etwas längere Verkehrsader. Das Problem ist eigentlich nur der dem ‚Palast‘ recht nahe Bahnhof. Er ist als Christo-Nachwehe eingehüllt und ansonsten Baugrube.
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#2.05 (C) | Empfehlung und eigene Entscheidung
Berlin war frühlingshaft warm und licht, zumindest von meinem Austritt aus, Bo und Ingrid kamen fünf Minuten verspätet zum Frühstück, diese Zeit würde jetzt vom gemütlichen Ku’damm-Bummel abgehen.
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#2.05 (D) | Geld wegzaubern
Aufbruch, Aufbau, Ausbau erleben. Im Alter wird alles immer schlechter: Die Jugend hat kein Benehmen mehr, und die Hotelzimmer kosten das Dreifache von früher.
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#2.05 (E) | Sonntagsausflug
Für den Sonntag war das gute Wetter am wichtigsten – denn der Sonntag war unser Ausflugstag. Ich hatte schon telefonisch versucht, den Dampfer nach Werder zu buchen, aber dafür hätte ich die Karten entweder in Treptow, ganz im Osten, abholen müssen, oder ich musste mich darauf verlassen, dass das Schiff noch nicht ausgebucht war und wir an der Kasse am Wannsee noch drei Plätze ergattern würden.
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#2.05 (F) | Schnapsleichen und Marzipanpflaster
Dann kam Werder. Schon aus der Ferne hatte das Riesenrad mich ein wenig argwöhnisch gemacht, aber ich war in keiner Weise vorbereitet auf das, was uns erwartete. Man muss vergessen, dass man das Wort ‚Rummel‘ kennt, man muss es einfach mal als Lautmalerei auf sich wirken lassen: mit hartem, brutalem ‚R‘, kurz geblöktem ‚U‘ und einer nicht enden wollenden Kette fest gepresster ‚M‘, die in dieses fiese Rattenschwänzchen ‚el‘ münden.
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#2.05 (G) | Muschel oder Filmschauspieler?
Montag Vormittag hatten Bo und Ingrid frei, um Andenken zu kaufen. Wir trafen uns aber zufällig beim Frühstück, ich konnte auf das morgendliche Rührei einfach nicht mehr verzichten und verstieg mich sogar auf ein Scheibchen Lachs dazu.
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#2.06 | Bedienstete beschummeln
Freitag, 30. Juni: Ich hatte am Vortag so diszipliniert gesoffen und so früh das Hotelzimmer aufgesucht, dass ich mich imstande fühlte, Aurehls als Fremdenführer für Giuseppe abzulösen. Vorher hatte ich allerdings noch einige Erledigungen zu verrichten, die vielleicht besser unbeschrieben blieben, was jedoch meiner zu Anfang aufgestellten Grundregel widerspräche, über bisher ungesagte Wahrheiten zu berichten.
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#2.07 | Im Kino
Giuseppe war etwas enttäuscht: Die sieben Hügel hatte er von Rom her anders in Erinnerung. Hier, in der Ausstellung ‚Sieben Hügel‘ im Gropius-Bau, waren sie ihm einfach zu flach. Ich fand den Bereich ‚Traum‘ am enttäuschendsten, weil ich von dem Thema etwas zu verstehen glaube.
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#2.08 | Schutt und Masche
Wir verließen den Potsdamer Platz. Eine Steigerung war nur noch theoretisch möglich. Also bestiegen wir den nagellackroten Informationscontainer ‚Info-Box‘ auf dem noch nicht vorhandenen Leipziger Platz, um uns über die Zukunft zu unterrichten. Außerdem konnte man von dort oben aus nach allen vier Himmelsrichtungen blicken, ohne irgendetwas Bemerkenswertes zu sehen. Das war schon faszinierend. Ähnliches haben Rom oder Paris nicht zu bieten, da hätte man immer gleich in Bedeutendes geguckt.
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#2.09 | Begleiter beschummeln
Nun, nach der Zäsur durch das Bett, sollte sich der alte Westen gegen den neuen Osten behaupten, und da Gediegenheit weder hier noch dort anzutreffen ist: Wo könnte der Westen besser zur Geltung kommen als in seinem Kaufhaus!
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#2.10 | Abfahrt und Neustart
Samstag, 1. Juli: Bo und Ingrids letzter Tag. Wochenend und Sonnenschein. Wie von den Comedian Harmonists. Nachmittags die Fähre ab Rostock. Wir fahren zu viert in Giuseppes Auto. Erst Unter den Linden entlang, durchs Brandenburger Tor, an der Siegessäule vorbei; ich leite Giuseppe scheinheilig zum Kurfürstendamm.
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#2.11 | So wild wie möglich
Die Linden sind nicht die Via Appia, dafür sind sie viel belebter und beliebter. Der brutal zugepflasterte Mittelstreifen ist wieder manierlich hergerichtet, mit Kies und Bänken. So wie es früher war, las ich. Heute weiß man ja nie: Was ist historisch, was ist postmodern, was ist Fake?
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#2.12 | Am Nabel, drüber und drunter
Sonntag, 2. Juli: Heute setzt das Ausflugsprogramm ein. Wie immer zuerst in östlicher Richtung, und das bedeutet bei mir Köpenick. Zu irgendeinem Zeitpunkt hebe ich den Kopf. Wenn Giuseppes Feldbett leer ist, weiß ich, dass ich demnächst aufstehen sollte.
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#2.13 | Mund-Diarrhö
Montag, 3. Juli: Giuseppes leeres Bett zwang mich unweigerlich zum Aufstehen.
Als ich aus dem Bad kam, hatte Giuseppe schon den Zwieback für mich beschmiert: mit wenig Pflaumenmus und viel Idealismus.
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#2.14 | Der Sprung ins Diesseits
Versonnen saßen wir auf der Holzbank und blickten, nicht minder versonnen, auf die Uferböschung der Pfaueninsel und auf die Fähre, deren Zwei-Mann-Besatzung sich offenbar eine längere Verschnaufpause gönnte.
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#2.15 | Irrwege ans Ziel
Der älteste Bruder meines Vaters, Achim, war nach seiner durch den Kriegsverlauf erzwungenen Rückkehr aus Paris, wo er sich als Verwalter des ‚Feindvermögens‘ Ehre erworben hatte, vom militärischen Dienst freigestellt worden ...
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#2.16 | Erbarmungslos
Dienstag, 4. Juli: Seit ewigen Zeiten schlief wieder jemand neben mir im Bett. Im Aufwachen dachte ich jedes Mal, es sei Roland. Mein linker Fuß, mein Ost-Fuß also, schmerzte bei jeder Bewegung. Mit herannahender Ausnüchterung im Morgengrauen kamen die üblichen Beschwerden hinzu ...
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#2.17 | Eine pädagogische Unterbrechung
Wem es jetzt schon reicht, der kann den folgenden Text auslassen und am Freitag weiterlesen. Wem Kultur liegt, der oder die kann heute die Rede studieren, die ich 1997 zur Namensweihe der Leonard-Bernstein-Schule gehalten habe.
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#2.18 (A) | Königsberger Klopse
Die Schule ist als Bau das Gegenteil von Bernstein: nüchtern, fantasielos, plump. Dorothee begrüßt den Direktor überschwänglich, er erkennt mich, findet aber den Gast aus Italien exotischer als einen Wessi.
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#2.18 (B) | An etwas glauben
Jetzt begehe ich den nächsten meiner geplanten Stilbrüche und schiebe den Beitrag ein, den ich im Herbst 1977 zu Dorothees Weggang von der ‚Deutschen Grammophon‘ verfasst habe. Er beschreibt sie und unsere Not mit ihr ganz gut, und eine windelweiche Lobhudelei, wie sie in drei Sätzen von anderen Kollegen und Vorgesetzten verlegen abgesondert wurde, war von mir ja ohnehin nicht zu erwarten.
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#1.01 | Ein Wechsel
Nach all den vielen Personen, die ich mir bloß ausgedacht habe, komme ich jetzt mal wieder auf einen realen Menschen: mich. Dabei beginne ich gleich ganz vorne, wie üblich. Auf meinem Geburtsschein von 1946 steht ‚Schmargendorf‘, und auf meinem Abiturzeugnis von 1965 stand es genauso: ‚Schmargendorf‘. Nichts als ‚Schmargendorf‘!
weiterlesen#1.02 | Rind im Mund
Es ist der 1. Juli 1998 und nicht zu fassen: Ich sitze in einem ‚Block House‘, Hamburgs prominentester Steakhauskette. Ich sitze hier, allein mit meinen Rechenkästchen. Ich schreibe sie voll, wie immer, Seite für Seite. Zum ersten Mal allein im ‚Block House‘. Sonst waren wir doch immer zu zweit, zu viert, zu sechst, seit fast dreißig Jahren.
weiterlesen#1.03 | Rote und grüne Punkte
Ich fuhr noch tiefer in den Osten hinein, zur ‚Müggelseeperle‘. Meine Neugier war allerdings rasch gestillt. Natürlich hatte ich ein Schlösschen mit Seeterrasse erwartet, wie ich das vom Zürcher See her gewohnt bin. Stattdessen thronte ein verwitterter Betonklotz mit bösartigen kleinen Luken zwischen den Kiefern: Das war die ‚Perle‘,
weiterlesen#1.04 | Eingewöhnung
Der Gendarmenmarkt war eine Enttäuschung: ‚darm‘ drückte es am besten aus, aber auch – verkürzt – ‚arm‘ kam hin. Ein Open-Air-Festival fand statt, die mühevoll restaurierten Gebäude waren von Tribünen verdeckt, und alle, die das Geld nicht ausgeben wollten, um dort zu sitzen, konnten sich den Lärm auch auf den Treppenstufen der umliegenden Häuser anhören und unbekümmert ihre Hinterlassenschaft an zerknüllten Papieren, abgenagten Knochen und eingeknickten Pappbechern der Müllabfuhr überlassen.
weiterlesen#1.05 | Volle Gläser
Von Dorothee zurück zum Alexanderplatz. Der ‚Kaufhof‘ dort (früher ‚CENTRUM Warenhaus‘) ist eine Sechzigerjahre-Perle: fensterlos, mit einer Art blaublechernem Fischgrätmuster aus Aluminium. Aber innen ist er ganz manierlich, und er bot all das, was mir bei Lafayette zu teuer gewesen war.
weiterlesen#1.06 | Prominenz
Ich war zu früh an der Deutschen Oper an der Bismarckstraße, die drei Minuten später eintreffende Dorothee bloß überpünktlich. Endlose Schlangen vor der Kasse. „Siehst du“, sagte Dorothee, „war doch gut, dass ich schon gestern hier war.“ Dann begann Dorothee sofort mit dem Feilschen um das Eintrittsgeld.
weiterlesen#1.07 | Kultur und so
Das eigentliche Berlin-Erlebnis besteht darin, auf den Fahrstuhlknopf zu drücken, acht Sekunden abwärtszufahren, einen acht Meter langen Gang zu überwinden und durch eine Tür zu treten. Dann bin ich in Berlin. Geld krieg’ ich gleich im nächsten Eingang, eins weiter ist der Bäcker, auf dessen Tüten steht, wie toll seine Brote und Kuchen seien.
weiterlesen#1.08 | Monumente hautnah
Mein nächstes Brecht-Erlebnis vereinte mich wieder mit Dorothee. Ich hatte mir am Sonntag durch emsiges Tippen ein kleines Nickerchen wohl, wenn auch spät, verdient. So war es nicht zu früh, als ich fünf vor fünf wieder aufwachte.
weiterlesen#1.09 | Ein Maler auf der Leinwand
Dorothee hat meine Versessenheit auf Zusammenhänge nicht bloß verinnerlicht, sondern auch veräußerlicht. Kein Handwerker, kein Sterbender, kein Evakuierungsleiter hat den Mut, mich vor zehn Uhr morgens anzurufen, schon gar nicht meine Eltern. Wenn es also vor neun Uhr in der Früh’ bei mir klingelt und ich sollte wach und gar noch in Abnehmlaune sein, dann greife ich nach dem Telefonhörer und sage freundlich: „Guten Morgen, Dorothee.“
weiterlesen#1.10 | Auf der Straße und auf Besuch
Wie alle preußischen Feldherren, so weiß auch Dorothee, dass Angriff die beste Verteidigung ist: Als das letzte Bild filmischer Böklin-Entwürdigung verflimmert war und die Beleuchtung zuschlug, rief sie gleich aus: „Hochinteressant! Ich fand das hochinteressant.“ Ich stimmte Dorothee durch Kopfnicken zu: Ja, sie fand es hochinteressant. Allerdings kann ich mich auch nicht daran erinnern, dass Dorothee jemals über irgendetwas zwischen Lessing und Ligeti gesagt hätte, dass es langweilig sei.
weiterlesen#1.11 | Reden und wissen, worüber
Nachdem Dorothee die Beköstigung ihrer Pariser Freundin plus Anhang mit Bravour gemeistert hatte, galt die nächste Einladung ihren ehemaligen Kollegen von den Festwochen und ihrer Französisch-Lehrerin. Ich hatte die Freude, wieder mit gebeten zu sein.
weiterlesen#1.12 | Ein schönes Geschenk
Michael rief heute an und fragte, ob wir uns treffen sollten. Bei Michael heißt das immer: Kulturprogramm. Er ergänzte auch gleich, in die Neue Nationalgalerie dürften wir aber nicht gehen, denn da ginge Jürgen hin, und der wolle mich immer noch nicht sehen. – Neben der Kalbs- und der Geflügel-, der groben und feinen gibt es noch die beleidigte Leberwurst, und die find ich besonders wenig schmackhaft.
weiterlesen#1.13 | Mittendrin und außerhalb
Mittwoch: Lankwitz. – Die Kindheitslocation meines Vaters ist noch schlimmer gebeutelt als meine eigene. Der Park, in dem er mit seinen Brüdern und Freunden gespielt hat, blüht nach wie vor, aber die Häuser sind alle weg und durch erbärmliche Wohnsilos ersetzt worden. Immerhin, die Proportionen stimmen noch ...
weiterlesen#1.14 | Essen gehen
Als wir wieder in der Stadtmitte waren, gab es noch genug Zeit, um sich für den Abend auszuruhen. Da sollte ein Essen mit meiner Cousine Marina, ihrem Mann Florian und Dorothee stattfinden. Guntram war das sehr recht gewesen. „Ein Aufwaschen“, sagte er, aber Irene hatte erhebliche Bedenken geäußert.
weiterlesen#1.15 | Fontane, Kaserne, Mansarde
Sowohl Dorothee als auch Marina hatten mit mir nach Neuruppin fahren wollen, die Fontanestadt am See. Ich hatte die Aufforderung ausgeschlagen, mit dem Hinweis darauf, dass Neuruppin ja auf meinem Rückweg läge und ich die Stätte dann mit meinen Eltern gemeinsam besichtigen könnte.
weiterlesen#2.01 | Schiffstaufe
Darf das Schreiben eines Tagebuches doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen, wie es Tage beschreibt? – Ein Tagebuch darf alles! Innere Zustände, äußere Umstände. Wenn für die Ereignisjagd keine Löwen zur Verfügung stehen, dann darf das Tagebuch großspurig aus Mücken Elefanten machen, aber es darf auch, um nicht zu übertreiben, Elefanten zu Mücken herunterspielen.
weiterlesen#2.02 | Einstein
Ein willkürlicher Sprung. Heute ist mein letzter Tag in Berlin. Ich sitze noch einmal im Garten des ‚Einstein‘. Der Himmel ist stark bewölkt, so wie an fast jedem Tag seit meiner Ankunft. Kein Blau schimmert durch das wenig aufgelichtete Dunkel.
weiterlesen#2.03 | Aufbruch im Morgen-Grauen!
Mittwoch, 28. Juni: Jeder Morgen ist die Hölle, dieser ist keine Ausnahme, sondern nach den Weinmengen vom Vorabend eher der Höhepunkt der Regel. Ich flackere aus dem Bett wie eine Flamme in der Zugluft und schmeiße alles, was sich nicht wehrt, in den großen Koffer, den ich in der Abseite gefunden und gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt habe.
weiterlesen#2.04 | Mitte
Von der Straße auf die Autobahn. Es ist mir unmöglich, das Wetter nicht auf meinen Gemütszustand zu beziehen, aber wenn ich Italienisch spreche, muss ich mich konzentrieren. Das lenkt ab. Bo im Wagen hinter uns fährt sehr viel bedächtiger als Giuseppe. Von Zeit zu Zeit sieht Giuseppe in den Rückspiegel, schüttelt den Kopf und stößt ein paar Worte hervor.
weiterlesen#2.05 (A) | Eine ungeheuerliche Abschweifung
Donnerstag, 29. Juni: Es gibt Menschen, die schlafen abends ein und wachen morgens auf. Dann fragen sie: ‚Was kost’ die Welt?‘ und ‚Wo bleibt das Frühstück?!‘ Sie halten nach der vierten Tasse Kaffee nach den Bäumen Ausschau, die sie ausreißen könnten; die Ärmel hatten sie schon hochgekrempelt, bevor sie sich angezogen haben.
weiterlesen#2.05 (B) | Spree/Havel – alles unter einem Hut
Na, nun war’n wir schon mal in der Friedrichstraße, nun konnten wir auch gleich den Bezirk Mitte abhaken. Die Friedrichstraße ist ja eine etwas längere Verkehrsader. Das Problem ist eigentlich nur der dem ‚Palast‘ recht nahe Bahnhof. Er ist als Christo-Nachwehe eingehüllt und ansonsten Baugrube.
weiterlesen#2.05 (C) | Empfehlung und eigene Entscheidung
Berlin war frühlingshaft warm und licht, zumindest von meinem Austritt aus, Bo und Ingrid kamen fünf Minuten verspätet zum Frühstück, diese Zeit würde jetzt vom gemütlichen Ku’damm-Bummel abgehen.
weiterlesen#2.05 (D) | Geld wegzaubern
Aufbruch, Aufbau, Ausbau erleben. Im Alter wird alles immer schlechter: Die Jugend hat kein Benehmen mehr, und die Hotelzimmer kosten das Dreifache von früher.
weiterlesen#2.05 (E) | Sonntagsausflug
Für den Sonntag war das gute Wetter am wichtigsten – denn der Sonntag war unser Ausflugstag. Ich hatte schon telefonisch versucht, den Dampfer nach Werder zu buchen, aber dafür hätte ich die Karten entweder in Treptow, ganz im Osten, abholen müssen, oder ich musste mich darauf verlassen, dass das Schiff noch nicht ausgebucht war und wir an der Kasse am Wannsee noch drei Plätze ergattern würden.
weiterlesen#2.05 (F) | Schnapsleichen und Marzipanpflaster
Dann kam Werder. Schon aus der Ferne hatte das Riesenrad mich ein wenig argwöhnisch gemacht, aber ich war in keiner Weise vorbereitet auf das, was uns erwartete. Man muss vergessen, dass man das Wort ‚Rummel‘ kennt, man muss es einfach mal als Lautmalerei auf sich wirken lassen: mit hartem, brutalem ‚R‘, kurz geblöktem ‚U‘ und einer nicht enden wollenden Kette fest gepresster ‚M‘, die in dieses fiese Rattenschwänzchen ‚el‘ münden.
weiterlesen#2.05 (G) | Muschel oder Filmschauspieler?
Montag Vormittag hatten Bo und Ingrid frei, um Andenken zu kaufen. Wir trafen uns aber zufällig beim Frühstück, ich konnte auf das morgendliche Rührei einfach nicht mehr verzichten und verstieg mich sogar auf ein Scheibchen Lachs dazu.
weiterlesen#2.06 | Bedienstete beschummeln
Freitag, 30. Juni: Ich hatte am Vortag so diszipliniert gesoffen und so früh das Hotelzimmer aufgesucht, dass ich mich imstande fühlte, Aurehls als Fremdenführer für Giuseppe abzulösen. Vorher hatte ich allerdings noch einige Erledigungen zu verrichten, die vielleicht besser unbeschrieben blieben, was jedoch meiner zu Anfang aufgestellten Grundregel widerspräche, über bisher ungesagte Wahrheiten zu berichten.
weiterlesen#2.07 | Im Kino
Giuseppe war etwas enttäuscht: Die sieben Hügel hatte er von Rom her anders in Erinnerung. Hier, in der Ausstellung ‚Sieben Hügel‘ im Gropius-Bau, waren sie ihm einfach zu flach. Ich fand den Bereich ‚Traum‘ am enttäuschendsten, weil ich von dem Thema etwas zu verstehen glaube.
weiterlesen#2.08 | Schutt und Masche
Wir verließen den Potsdamer Platz. Eine Steigerung war nur noch theoretisch möglich. Also bestiegen wir den nagellackroten Informationscontainer ‚Info-Box‘ auf dem noch nicht vorhandenen Leipziger Platz, um uns über die Zukunft zu unterrichten. Außerdem konnte man von dort oben aus nach allen vier Himmelsrichtungen blicken, ohne irgendetwas Bemerkenswertes zu sehen. Das war schon faszinierend. Ähnliches haben Rom oder Paris nicht zu bieten, da hätte man immer gleich in Bedeutendes geguckt.
weiterlesen#2.09 | Begleiter beschummeln
Nun, nach der Zäsur durch das Bett, sollte sich der alte Westen gegen den neuen Osten behaupten, und da Gediegenheit weder hier noch dort anzutreffen ist: Wo könnte der Westen besser zur Geltung kommen als in seinem Kaufhaus!
weiterlesen#2.10 | Abfahrt und Neustart
Samstag, 1. Juli: Bo und Ingrids letzter Tag. Wochenend und Sonnenschein. Wie von den Comedian Harmonists. Nachmittags die Fähre ab Rostock. Wir fahren zu viert in Giuseppes Auto. Erst Unter den Linden entlang, durchs Brandenburger Tor, an der Siegessäule vorbei; ich leite Giuseppe scheinheilig zum Kurfürstendamm.
weiterlesen#2.11 | So wild wie möglich
Die Linden sind nicht die Via Appia, dafür sind sie viel belebter und beliebter. Der brutal zugepflasterte Mittelstreifen ist wieder manierlich hergerichtet, mit Kies und Bänken. So wie es früher war, las ich. Heute weiß man ja nie: Was ist historisch, was ist postmodern, was ist Fake?
weiterlesen#2.12 | Am Nabel, drüber und drunter
Sonntag, 2. Juli: Heute setzt das Ausflugsprogramm ein. Wie immer zuerst in östlicher Richtung, und das bedeutet bei mir Köpenick. Zu irgendeinem Zeitpunkt hebe ich den Kopf. Wenn Giuseppes Feldbett leer ist, weiß ich, dass ich demnächst aufstehen sollte.
weiterlesen#2.13 | Mund-Diarrhö
Montag, 3. Juli: Giuseppes leeres Bett zwang mich unweigerlich zum Aufstehen. Als ich aus dem Bad kam, hatte Giuseppe schon den Zwieback für mich beschmiert: mit wenig Pflaumenmus und viel Idealismus.
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Versonnen saßen wir auf der Holzbank und blickten, nicht minder versonnen, auf die Uferböschung der Pfaueninsel und auf die Fähre, deren Zwei-Mann-Besatzung sich offenbar eine längere Verschnaufpause gönnte.
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Der älteste Bruder meines Vaters, Achim, war nach seiner durch den Kriegsverlauf erzwungenen Rückkehr aus Paris, wo er sich als Verwalter des ‚Feindvermögens‘ Ehre erworben hatte, vom militärischen Dienst freigestellt worden ...
weiterlesen#2.16 | Erbarmungslos
Dienstag, 4. Juli: Seit ewigen Zeiten schlief wieder jemand neben mir im Bett. Im Aufwachen dachte ich jedes Mal, es sei Roland. Mein linker Fuß, mein Ost-Fuß also, schmerzte bei jeder Bewegung. Mit herannahender Ausnüchterung im Morgengrauen kamen die üblichen Beschwerden hinzu ...
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Wem es jetzt schon reicht, der kann den folgenden Text auslassen und am Freitag weiterlesen. Wem Kultur liegt, der oder die kann heute die Rede studieren, die ich 1997 zur Namensweihe der Leonard-Bernstein-Schule gehalten habe.
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Die Schule ist als Bau das Gegenteil von Bernstein: nüchtern, fantasielos, plump. Dorothee begrüßt den Direktor überschwänglich, er erkennt mich, findet aber den Gast aus Italien exotischer als einen Wessi.
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Jetzt begehe ich den nächsten meiner geplanten Stilbrüche und schiebe den Beitrag ein, den ich im Herbst 1977 zu Dorothees Weggang von der ‚Deutschen Grammophon‘ verfasst habe. Er beschreibt sie und unsere Not mit ihr ganz gut, und eine windelweiche Lobhudelei, wie sie in drei Sätzen von anderen Kollegen und Vorgesetzten verlegen abgesondert wurde, war von mir ja ohnehin nicht zu erwarten.
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