Liebe Leserinnen und Leser!
Als ich sechzehn war, waren die Mädels stinksauer, wenn sie erfuhren, dass einer, den sie mochten, schwul war. Heute plustern sich die Weiber hennenhaft auf, wenn jemand ihnen zu drastisch zeigt, dass er sie attraktiv findet. Als ich zwanzig war, fingen junge Frauen an, erst Miniröcke und dann Hotpants zu tragen: doch wohl, um angegafft zu werden, nicht wegen klimakterischer Hitzewallungen. Von mir aus hätten sie Burkas mit Sehschlitzen tragen können. Im Straßenbild von Kabul würde ich nichts vermissen.
Nun mal sachte: Schwul zu sein wurde von den bösen Buben viel verständnisloser abgestraft als von den netten Mädchen. Miniröcke und Hotpants drückten ein neues Freiheitsgefühl und Selbstbewusstsein aus. Bewundert und verehrt zu werden: Alle Jahrhunderte hindurch mochten Frauen das; angequatscht und angegrapscht zu werden, das mochten sie schon früher nicht. Komplimentresistente Emanzen und dummdreiste Machohorden sind allerdings neuere Phänomene.
Der Anblick passend gekleideter Frauen ist zweifellos erfreulicher als einheitliche Verhüllung. Und Frauen, die sich effektvoll zurechtmachen, sind auch dann hübsch anzuschauen, wenn man ihnen nicht mit sexuellen Absichten gegenübertritt. Dass man sich dann aber als Mann nicht mehr beherrschen könne, scheinen Hetero-Islamisten zu unterstellen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich bin für Vergewaltigungen ungeeignet. Wenn ich nicht das Gefühl hatte, selbst begehrt zu werden, blieb bei mir die Erektion weg. Kein Problem. Für mich. Für abstoßende Männer wäre eine solche Einschränkung vermutlich zeugungsverhindernd, aber auch das betrifft mich ja nicht. Missbrauchsskandale wie der von Avignon machen mich sprachlos – nein, das gibt es nicht, aber verständnislos. Und Spuren in Form von Notizen oder Videos zu hinterlassen, fügt der Gemeinheit noch die Blödheit hinzu.
Nun komme ich im neuen Jahr gleich schon wieder mit der Sexualität! Das ist ärgerlich, aber Kochrezepte findet man auch anderswo, und die Politik flechte ich ein, so gut ich kann.
Dass ich den Religionen ein gewisses Misstrauen entgegenbringe und ihr Verbot für mindestens so dringlich und so aussichtslos halte wie ein AfD-Verbot, wird sich meine aufgeweckte Leserschaft denken.
Der Islam kann sich unter seinen Anbetern noch einiges herausnehmen. Einer in islamistischen Kreisen lebenden Frau ist bewusst: Ich darf keinen Geschlechtsverkehr vor der Ehe haben. Warum?
Antwort a) Als Gläubige weiß ich, dass meine Jungfräulichkeit Allahs Wille ist.
Antwort b) Wenn der Bräutigam kein Blut in der Hochzeitsnacht sieht, bin ich geliefert.
Ich gebe Antwort c): Das ist männergemachter Schwachsinn. Aber Talahons haben ein entsprechendes Frauenbild und feiern auf TikTok damit Triumphe.
Mit großem Interesse lese ich, wie sehr sich Bibel-Exegeten noch mit diesem aus der Zeit gefallenen Thema auseinandersetzen. „[…] Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“, wird Matthäus 5 Vers 28 (Lutherbibel 2017) zitiert. Na, da gibt’s ja ordentlich was zu beichten.
Werner E. Lange schreibt in ‚Spes Christiana‘, Beiheft 4, zum Thema ‚Scheidung‘: ‚Jesus zieht dann aus der Schöpfung der Menschen und der Aussage des Schöpfers dazu eine eindeutige Schlussfolgerung in Bezug auf Ehescheidungen: Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden […]. Dies ist Jesu grundlegende Aussage zu dem Thema, die er an keiner Stelle einschränkt oder modifiziert […].‘1
‚Who cares!‘, möchte ich mehr als 2000 Jahre nach der Bergpredigt sagen, von der Theologen nicht wissen, ob sie überhaupt gehalten wurde. Aber das wäre naiv. Viele Menschen (be)kümmert es eben immer noch. Dabei – wenn ich mir manche in die Brüche gegangenen Partnerschaften ansehe, denke ich: Was Gott schon geschieden hat, soll der Mensch nicht notdürftig kitten.
Aber während sich Textausleger Lange bloß mit der Scheidung beschäftigt, passte dem Philosophen Martin Heidegger die ganze Richtung nicht. Im Juni 1918 schrieb er aus Berlin an seine Frau: ‚Eine solche Luft künstlich hochgezüchteter, gemeinster und raffiniertester Sexualität hätte ich nicht für möglich gehalten, ich verstehe aber jetzt Berlin schon besser – der Charakter der Friedrichstraße hat auf die ganze Stadt abgefärbt […]. Die Menschen hier haben die Seele verloren […].‘2 Umso schöner für Heidegger, dass er selbst seine Seele ein paar Jahre später im Nationalsozialismus fand. Was würde er über das Berlin unserer Tage denken? Da ist ja schon eine ganze Menge erlaubt, aber nicht genügend abgesichert, findet der Queer-Beauftragte Sven Lehmann: Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) verbiete zwar die Diskriminierung aufgrund von Merkmalen wie etwa Geschlecht, Herkunft oder Glaube. Was aber bislang fehle, sei das Merkmal der sexuellen Identität. „Ein ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Schutz ist wichtig, auch damit bestimmte Errungenschaften, wie die Ehe für alle, nicht wieder zurückgedreht werden können.“
Mein Vater hätte sich sehr darüber gewundert, dass Männer Männer heiraten können. Aber mein Urgroßvater hätte sich auch darüber gewundert, dass Frauen wählen dürfen; und dass das Leben auf der Erde eine längere Entwicklungsgeschichte als sieben Tage hinter sich hat, war den Gläubigen als Erkenntnis ebenfalls lange Zeit nicht zuzumuten. Wahren Glauben kann nichts erschüttern, aber bei Zweiflern hat die Wahrheit noch gewisse Chancen.
Auch angesichts zunehmender Angriffe durch Rechtsextreme und religiöse Fundamentalisten brauche es einen besseren verfassungsrechtlichen Schutz, erklärte Lehmann. Vor Linksextremen hat er keine Angst. Ich schon. Und Artikel 2 des GG garantiert eigentlich jedem und jeder bereits das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit das nicht die Rechte anderer verletzt. Schön und gut. Einiges ist erreicht, sicher. Aber das reicht noch nicht. Meine Forderung:
Niemand darf wegen
1) seines Dialekts,
2) seiner Essgewohnheiten oder
3) seines Parfüms
verachtet werden.
Beispiele:
1) osthessisch,
2) Spaghetti ohne ‚h‘ um den Löffel wickeln,
3) 4711.
Also, nun reicht es mir doch für heute. Aber Sie bleiben mir hoffentlich trotzdem gewogen. Ich verspreche auch, wieder netter zu werden!
Ihr lammfrommer
Hanno Rinke
Quellen:
1 Martin Heidegger: ‚Mein liebes Seelchen. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride. 1915–1970. Ausgewählt und kommentiert von Gertrud Heidegger‘, DVA 2005
2 Veröffentlicht in Andreas Bochmann/Klaus-J. van Treeck, Hg: ‚Ehescheidung und Wiederheirat, Spes Christiana, Beiheft 4‘, Theologische Hochschule Friedensau 2000, S. 203–223
Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH
Wenn es mit dem Religions- und AfD-Verbot schon nicht klappt, kriegen wir dann wenigstens das Böllerverbot hin?
Schön wäre es. Aber nein, auch das wird so schnell nix werden.
Eigentlich möchte ich Verbote verbieten, aber beim Böllern werde ich schwach. Jedoch: aussichtslos. Eher kommen Tempo 80 auf Autobahnen und die 30-Stunden-Woche.
Eine aktuelle Petition hat immerhin mehr als 1 Millionen Unterstützer
Aber welche Regierungspartei will sich schon mit so einer umbeliebten Entscheidung herumärgern? Die Mehrheit knallt ja trotzdem nach wie vor gerne.
Kanzler Merz wird bestimmt nicht der Heilsbringer werden.
Wenn er einiges Unheil abwenden würde, wäre das ja auch schon etwas.
Es wäre schon schön, wenn er wenigstens die Wirtschaft etwas ankurbeln und die Inflation weiter abschwächen könnte. Das sollte ein CDU-Kanzler doch hinkriegen!?
Wenn die Börse es glaubt, handelt sie entsprechend. Wahrheit ist das, was man dazu macht.
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit schließt die Diskriminierung nur leider nicht aus. Im Gegenteil, würde ich sogar sagen. Je freier sich jemand entfaltet, desto eher wird er angriffen. Heute doch eher wieder mehr, als noch vor 10 Jahren.
Angriffe: heute vielleicht nicht häufiger, aber selbstgerechter.
Die Zahl der Hasskriminalitätsfälle hat sich laut dem BKA zwischen 2023 und 2024 verdoppelt. Online-Hasspostings sollen sogar um 136% angestiegen sein. No more comment.
Das verwundert mich gar nicht. Das Internet gibt den Idioten ja eine ordentliche Menge Selbstbewusstsein. Dass sich die Aggressivität dann auch auf das Leben offline überträgt, ist ja fast naheliegend.
Hararis Buch ‚Nexus‘ über Informationsnetzwerke kann ich nur wärmstens empfehlen.
Männergemachter Schwachsinn passt auf so vieles: die Religion(en) und ihre Regeln, die AfD, die Idee, dass Männer andere Sachen dürfen sollen als Frauen…
Wer herrscht, produziert mehr Schwachsinn, als wer nichts zu sagen hat. Grönemeyers ‚Kinder an die Macht‘ fand ich immer den größten Schwachsinn. Ob das Matriarchat besser wäre? Vielleicht.
Ein Versuch wäre es wert. Es sieht ja nicht so aus als ob wir uns gerade vorwärts bewegen. Jedenfalls nicht hin zum Besseren.
Aber auch nicht schlechter als anderswo.
Wir hinken in dem Fall zum Glück noch hinterher.
Hinken ist eben besser als stolpern.
Sind die komplimentresisten Emanzen der 90er nicht längst durch starke, unabhängige Frauen ersetzt worden? 😉
Wenn eine Dame an meinen Tisch tritt, stehe ich auf. Die Folgen meiner (guten) Erziehung sind weitreichender als die Einschnappbereitschaft von Frauen, die Höflichkeit als Anmache missdeuten.
Wer sieht, wie in Amerika die Abtreibung wieder neu diskutiert wird, der muss sich nicht wundern wenn Sven Lehmann darum kämpft errungene Freiheiten und Rechte zu schützen.
Es ist schon gruselig, dass man sich mit dem Thema immer noch bzw. wieder auseinandersetzen muss. Und nun liest man dass Elon Musk auch hier die AfD sowieso in England den rechtskonservativen Politiker dessen Namen ich vergessen habe unterstützt. Wohin soll das noch führen?
Aus der von Putin behaupteten westlichen Dekadenz in die von allen Autokraten bevorzugte Intoleranz.
Na wunderbar. Heftiger Einstieg und düsterer Ausblick.
Es wird ja nicht so heiß gegessen, wie gekocht wird, aber mit der ein oder anderen verbrannten Zunge rechne ich schon.
Oh, tatsächlich ein aggressiver Einstieg ins neue Jahr. Was hat Sie so verstimmt?
Hanno Rinke versprach ja bereits wieder netter zu werden. Ich finde ehrlich gesagt der Text passt ganz gut in unsere Zeit.
Mich hat nichts Spezielles verstimmt. Dies ist ein vorweihnachtlicher Text, weil sich meine Agentur gerade Fest-Ferien gönnt. Außerdem: ich mache ja selten aus meinem Herzen eine Mördergrube.
Predigt oder Tirade, ich lese trotzdem gerne.
Das freut mich. Ich schreibe auch gern.
Man merkt es in Ihren Texten!
Mit Liebe gekocht und immer nah an der Tabasco-Flasche.
Außerdem sollte auch niemand diskriminiert werden weil er Bauer sucht Frau schaut, bei Bauer sucht Frau teilnimmt, immer noch Kühe und Schweine isst oder im schwulen Datingportal Vanilla statt Piggy angibt. Jeder eben wie er will.
Na, freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit das nicht die Rechte anderer verletzt. So steht es ja auch im Text.
Wobei es dann eben Menschen gibt, die Bauer-sucht-Frau-Seher zwar nicht diskriminieren, sie aber für eine langfristige Beziehung eher nicht in Betracht ziehen.
Fair enough
Wo man sucht, sagt mehr aus, als wo man findet.
Besser Spaghetti ohne ‚h‘ als Spaghetti mit Haar.
Ein kleiner Dutt statt der ewigen Bolognese ist sehr empfehlenswert. Besonders für Glatzköpfe.
Wer ein echtes ragù‘ alla bolognese anstatt der hier allseits beliebten Tomatensauce zaubert, der darf die Haare tragen wie er will. Meistens ist es sowieso eine sie.
Für das Echte braucht es Zeit und Talent. Beides immer seltener anzutreffen.
Vielleicht könnten wir uns noch darauf einigen, dass Vielfalt nicht nur auf der Straße, sondern auch im Denken eine echte Bereicherung ist.
Darauf können wir uns bestimmt einigen.
Beichtet heutzutage eigentlich nich jemand? So richtig im Beichtstuhl? Ich sehe die Dinger immer nur „außer Betrieb“.
Die Apostolische Pönitentiarie schreibt jedenfalls, dass „wahrhaft reuige“ Gläubige, die „unter Ausschluss jeglicher Neigung zur Sünde und von einem Geist der Nächstenliebe bewegt“ im Heiligen Jahr 2025 beichten, die Heilige Kommunion emfangen und gemäß den Intentionen des Papstes beten, einen „vollkommenen Ablass, den Erlass und die Vergebung ihrer Sünden erlangen, der den Seelen im Fegefeuer zukommt“. Klingt doch noch relativ easy.
Klingt aber nicht nach Mainstream
Seit ich erwachsten bin, gehe ich nicht mehr zur Beichte. Auch ohne Ablass sehe ich einem späteren Aufenthalt im Fegefeuer unbesorgt entgegen.
Gibt es im „Über Leben“ einen ähnlich heftigen Einstieg? Oder erleben wir da eher den lammfrommen Rinke?
Ich habe auf Ihrem Insta-Profil die zahlreichen Leserkritiken gesehen. Das macht direkt Laune! Ich werde beim nächsten Besuch in der Buchhandlung Ausschau danach halten.
Der Einstieg ist sanft, der Ausstieg eher nicht.
Das klingt ja schonmal nach einem Erfolgsrezept. Das Buch steht auch bereits auf meiner Leseliste für 2025.
Bis Ende des Jahres sollte das zu schaffen sein 😆
Bei einer Seite pro Tag schon im Herbst.
Klar, jeder mag es, bewundert und verehrt zu werden – das steigert das Selbstwertgefühl. Aber doof angestarrt oder angefasst zu werden? Das sollte eigentlich jedem einleuchten, dass das ein No-Go ist.
Tut es auch, aber manche schert es nicht.
So sehr Religion Halt und Zugehörigkeit bietet, so sehr schafft sie auch Abgrenzung. Der Anspruch auf Wahrheit und die Angst vor dem Anderen führen schnell zu Misstrauen und Konflikten. Verbieten kann man Religion aber natürlich nicht. Das würde ja auch gar nichts nützen. Dadurch würde höchstens noch mehr Ärger und Aggressivität zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen aufgebaut.
Dann bleibt wohl alles so, wie es ist.
Nur weil etwas missbraucht wird, sollte man es nicht grundsätzlich verbieten. Das gilt für Religion, Künstliche Intelligenz, Feuerwerk oder auch Flirtkünste. Statt Verbote zu verhängen, sollten wir uns stärker darauf konzentrieren, wie wir Missbrauch eindämmen oder sogar ganz verhindern können. Keine einfache Aufgabe, zugegeben.
Man kann natürlich einfach an den Anstand und den gesunden Menschenverstand appellieren. Wie gut das funktioniert, sieht man in den Sozialen Medien.
Lenin abwandelnd, könnte man sagen: Appelle sind gut, Kontrolle ist besser.
Tja, Kontrolle mag schon besser sein, aber bzgl. der Sozialen Medien … wer soll das Chaos der digitalen Welt überhaupt bändigen? Zuckerberg schafft seine Faktenchecker Trump zum Gefallen jedenfalls schonmal ab. Da soll sich die Community selbst einigen. Meinungsfreiheit (und Hassrede) leben hoch. Vielleicht brauchen wir doch einen neuen Lenin – oder wenigstens jemanden mit einem wirklich guten Algorithmus. Kann die KI vielleicht helfen?
Die KI kann ganz bestimmt helfen. Fragt sich bloß: Wem?