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0512
Sonntagspredigten

Betrifft: Biodiotisch!

Liebe Leserinnen und Leser,

Frau Dr. Heike Niemeier schreibt im Online-Portal ‚EatSmarter!‘: „Vitamine, Mineralien und sekundäre Pflanzenstoffe helfen dem Stoffwechsel, ideal zu funktionieren. Das wirkt sich auf zahlreiche Bereiche unseres Alltags aus, weil wir uns fitter fühlen, Grübeleien verfliegen und folglich alles einfacher von der Hand geht.“ Ich grüble, ob ich „Obst, Gemüse, Kräuter, Nüsse, Samen und Vollkorngetreide“ als „exzellente Lieferanten“ missbrauchen will, um mich am Grübeln zu hindern. Ich grüble gern. Auch darüber, was ich wohl von BIO halten soll. Bio ist grundsätzlich teurer, angeblich besser und bedeutet das, was ich mir darunter vorstelle oder einreden lasse. Biotop – Biomüll. Biokernkraft, Bioporno, Biontech. ‚Bio‘ ist eine Vorsilbe wie ‚be-‘ oder ‚zer-‘. Darum kann man ‚bio‘ auch so vielfältig einsetzen – ein Joker, wenn der Trumpf fehlt. Bio ist gut, gesund, redlich, umweltfreundlich, fair, garantiert alles Erstrebenswerte, … außer wohlschmeckend: das nur manchmal. ‚Bio‘ wird gleichgesetzt mit ‚Natur‘. – Ein Wort, das mir genauso verdächtig ist.

Es gibt Wälder, Steppen, Meere. Es gibt Rosen, Läuse, Menschen. ‚Die Natur‘ gibt es nicht. Sie ist ein Abstraktum. Sie wird weder geschändet noch hat sie Absichten. Darum rächt sie sich auch nicht. Wenn wir sie denn als Begriff gewähren lassen, dann macht sie nichts weiter als ‚weiter‘. Unverdrossen. Weil die Menschen nicht mehr an Gott glauben, beten sie nun wie einst die ‚Naturvölker‘ die Natur an. Dabei ist die sogenannte Natur mitleidlos, gefühllos, erbarmungslos. Und sie wird uns alle besiegen. Der Tod ist ihre Waffe, die Fortpflanzung ihr Rezept, ‚the survival of the fittest‘ ihr Prinzip (nicht des ‚Stärkeren‘ wohlgemerkt).

Die frühen Menschen sahen in der Natur vor allem eine Bedrohung, unergründlich, unberechenbar. Wir halten sie für erforscht und verniedlichen sie zur Landschaftsidylle. Bis sie zurückschlägt: Im Ahrtal hat sie im Juli eine ‚Jahrhundertflut‘ ausgelöst? – Nein, es waren die Wetterverhältnisse und die menschliche Gewohnheit, den Boden zu kultivieren. Über baumlose Weinberge freuen sich die Regentropfen. Da können sie als Sturzbäche ins Tal fluten. Die Sahara war auch mal fruchtbares Waldland. Ist lange her. Wir neigen dazu, die Natur‘ zu vermenschlichen: Sie blüht und sie straft. – Tut sie nicht! Sie wächst bloß. Der Mensch straft sich selbst.

Die Natur wird gern der Zivilisation gegenübergestellt. Schon Rousseau verherrlichte den ‚edlen Wilden‘ und verachtete die dekadenten Rokoko-Aristokraten seiner Zeit. (Sein eigenes Gebaren war auch nicht gerade vorbildhaft.) ‚Natürlich‘ klingt wesentlich vertrauenerweckender als ‚künstlich‘. Vor allem auf Fruchtsaftflaschen. Goethe schrieb in Stanzen:

‚Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.‘1

Es lässt sich über dieses Miteinander und Gegeneinander von Mensch und Natur auch heute noch ganz viel sagen – sogar von mir. Ich könnte Ovid und Nietzsche dazu aus dem Ärmel schütteln wie ein Zauberlehrling seine bunten Tücher, aber ich halte mich an Goethes vorletzte Gedichtzeile: ‚In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, […]‘2. In der Beschränktheit allerdings nicht, die ist eher in der gegenwärtigen Corona-Politik zu erleben.

Auch das erste Kapitel der ‚Ringelblumen‘ ist mit knappen Sätzen kunstlos und sehr menschlich zu Ende gegangen. Im zweiten Kapitel verlassen wir die Stadt, nicht um uns aufs Land zu begeben, sondern um die ‚Natur des Menschen‘ etwas weiter zu erforschen.

In Aufbruchstimmung,
Hanno Rinke


1–2Quellen: ‚Poetische Werke‘, (16 Bände), Band 2 (Gedichte, Nachlese), Berlin 1960 ff, S. 89–90, 121–122 / Reihe: ‚Bibliothek der Weltliteratur‘, Weltbild, o. J., Johann Wolfgang von Goethe, ‚Poetische Werke in zehn Bänden‘, Band 1, Gedichte, S. 881
Cover mit Material von Julian Hochgesang/Unsplash (Auto) und Shutterstock: Rejean Bedard (Möwe), Alliance Images (Frau), stockyimages (Mann), Vereshchagin Dmitry (Kreuzfahrtschiff), steamroller_blues (Collie)

22 Kommentare zu “Betrifft: Biodiotisch!

      1. Zu meinem Fleischer gehe ich seit Jahren. Dem vertraue ich auch ohne Bioaufkleber. Beim Bäcker und türkischen Gemüsehändler um die Ecke ists genauso.

      2. Ich glaube diese Biomärkte ziehen auch eher in der Großstadt. Dann hat man zumindest ein bisschen das Gefühl etwas ‚Gutes‘ zu tun. Für sich, fürs Klima, für die Bauern. Ich kaufe auch einfach bei meinen kleinen Lädchen aus der Gegend. Das ist mir ‚bio‘ genug.

      3. Ich gönne jedem seine Körner und seine Sojacola. Wenn das ideologisch wird, hab ich es allerdings nicht so gern. Ich kenne Menschen, die mit Beschaffung und Herstellung ihrer gegen den Uhrzeigersinn gequirten Speisen Stunden zubringen. Da lese ich lieber Philosophie, statt sie mir anzurühren.

      4. Man wird halt manchmal schief angeschaut wenn man nicht vegan einkauft oder bestellt. Bzw. wird zumindest das eigene vegane Leben sehr betont zur Schau gestellt. Man darf sich wohl einfach nicht zu sehr um die Meinung Anderer kümmern.

    1. „Sekundäre Pflanzenstoffe sind Farb-, Duft- und Aromastoffe in Pflanzen. Sie haben Aufgaben wie etwa das Anlocken von Insekten und das Abwehren von Schädlingen. Enthalten sind sekundäre Pflanzenstoffe in Gemüse, Obst, Kartoffeln, Hülsenfrüchten, Nüssen sowie Vollkornprodukten. Zusammen mit den eigentlichen Nährstoffen wie Vitaminen, Mineralstoffen, Eiweiß, Fett, Stärke und Zucker, die den Hauptbestandteil der Pflanzen ausmachen, bestimmen sie den gesundheitlichen Wert pflanzlicher Lebensmittel. Sie sind meist nur in geringen Mengen enthalten und haben pharmakologische Wirkungen.“
      Mehr unter https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/sekundaere-pflanzenstoffe-warum-sie-wichtig-sind-4946

  1. Vielleicht sollte man eh mal wieder Goethe lesen. Was der gute Mann zu sagen hatte scheint ja auch heute noch ein guter Ratgeber zu sein. Außerdem hatte er Humor.

    1. Vor allem sollte man überhaupt mehr lesen. Nicht nur Tweets und Facebook-Posts, sondern Romane und Gedichte. Nur reicht dafür unsere Aufmerksamkeitsspanne kaum noch aus.

      1. Die Jugend hat es da wahrscheinlich schwerer. Die wächst ja mit diesem Bombardement an Informationen und Eindrücken auf. Text in Tweetform, Videos in TikToklänge.

    2. Die Generation, die ‚Fack yu Göhte‘ in drei Folgen zum K(l)assenschlager machte, sieht das womöglich anders. Allerdings war ich auch nie ein ‚Lümmel von der ersten Bank‘, sondern eher ein humoristischer Hinterbänkler, der bei der ‚Polonäse Blankenese‘ sitzen blieb.

      1. Hat man etwas verpasst wenn man keinen der Filme gesehen hat? Für solche, vor allem deutsche, Komödien würde zwar meine Aufmerksamkeit reichen, aber meine Geduld leider nicht.

      2. Ich habe bei ‚Fuck eins‘ nach zehn Minuten abgestellt, was ich selten tue. Anschließend war ich stolz auf meine Humorlosigkeit.

      3. Humor muss man tatsächlich haben um diese Filme zu überstehen. Und das meine ich nicht im besten Sinne. Wer ist nochmal genau die Zielgruppe? Ich habe das Gefühl ich kenne kaum Menschen, die diese überaus erfolgreichen Filme gesehen haben.

  2. Ich finde Natur gar keinen so abstrakten Begriff. Aber möglicherweise verstehe ich den Begriff auch anders.

  3. Die Natur reagiert darauf was wir mit ihr anstellen. Wie ein Mensch es ja auch tut. Wer da Strafe oder gleich Gottes Zorn drin sieht, ist sicher poetisch … übertreibt aber auch.

    1. Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist in unserem Denken fest verankert, auch wenn viele Philosophen versucht haben, es zu überwinden. Es liegt in unserer Natur, die Dinge beeinflussen zu wollen. Das tut das Trüffelschwein aber auch, und der Schmetterling auf der Blüte (wenn das ‚poetischer‘ klingt) macht es ebenfalls.

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