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0610
Rundbriefe

Glück

Liebe Leserinnen und Leser!

In meinem Alter ist es vorbei mit der Glückssuche. Jedenfalls mit den Beinen. Aber wenn man das Glück schon gefunden hat, vielleicht sogar, ohne es bisher gemerkt zu haben, dann merkt man es womöglich jetzt. – Reicht doch!

​​Hildegard Knef liebte ich für den so richtigen Satz in ihrem Chanson 17 Millimeter fehlten mir zum Glück: ‚Dass es gut war, wie es war, das merkt man hinterher, dass es schlecht ist, wie es ist, merkt man gleich.‘ Glück im Verzicht? – Schwierig. Aber wenn, dann richtig: Von dem, was ich nicht haben kann, will ich das Beste. Ich fliege lieber nicht nach Hawaii als nicht nach Hannover, und ich esse lieber keinen Hummer als keine Hafergrütze.

Alles, was ich nie haben werde, aber gerne hätte, schaue ich mir inzwischen mit Genuss an. Als Abbildung oder noch lieber in bewegten Bildern: Da passiert ja dann sogar noch was! Foto und Film sind unersetzlich – geworden. Am allerglücklichsten bin ich über das, was ich mich nie getraut hätte, nicht mal zu Zeiten, in denen es mir noch möglich gewesen wäre: fremde Menschen grundlos anzusprechen zum Beispiel, bloß weil sie mir optisch gefallen, oder mit nichts als einer Campingausrüstung durch Afrika zu reisen, ohne die Furcht, unterwegs an einem Blinddarmdurchbruch zu verrecken. Oder ausgefallene Sexpraktiken auszuprobieren, ohne dass es uns Beteiligten hinterher entsetzlich peinlich ist. – Toll! Alles so was kann ich mir jetzt angucken: Nepal, Tahiti, Cunnilingus. Ohne Reue, aber mit dem erhabenen, besserwisserischen Gefühl: Nichts von dem, was mir entgangen ist, hätte so schön sein können, wie die Qual, der ich schlauerweise durch meine Untätigkeit entgangen bin, schrecklich gewesen wäre.

Durst, die Karaffe vor Augen, so habe ich Glück vor mehr als vierzig Jahren beim Blick über den Rand der Speisekarte in einem Lokal auf dem Lido mal definiert. Viel weiter bin ich seither nicht gekommen. Räumlich schon, aber nicht mit einer schlüssigen Formulierung. Die Gewissheit, dass die Karaffe voll ist und das Getränk sowohl genieß- als auch bezahlbar, darf ich ja wohl selbst bei Lesenden meines Spitzfindigkeitsgrades voraussetzen. Ist Suchen schöner als Finden? Etwas zu wollen, ist schöner, als etwas zu haben, solange man sich zutraut, das Ziel zu erreichen. Denke ich. Dass der Weg das Ziel sei, basiert auf dieser Annahme. Klingt hübsch, entwertet aber das Ziel bis hin zur Belanglosigkeit. Trotzdem. Dass Suchen glücklicher macht als Finden, das kann schon sein.

Bereits sechs Jahre nach meiner Lido-Definition war ich bescheidener. Da schrieb ich einen Dialog zwischen zwei Fröschen, die sich über leckere Fliegen und furchterregende Fressstörche unterhielten. Der eine Frosch, der vom anderen danach gefragt wurde, was Glück sei, antwortete: „Glück – das ist die Abwesenheit von Unglück.“ Das war 1988, und der Geier des Unglücks kreiste schon geduldig über mir, bevor er sich zwei Jahre später an mir gütlich tat. ‚Wunschloses Unglück‘. Handkes einleuchtender Buchtitel.

Ist es armselig, darauf verzichten zu wollen, strahlend glücklich zu sein, und sich stattdessen mit der blassen Zufriedenheit zu begnügen? Ist es armselig, darauf zu verzichten, zum Glück anderer beitragen zu wollen, und es sich stattdessen bloß in der eigenen Befindlichkeit (un)bequem zu machen? Solche Fragen muss man sich nicht stellen, also auch nicht beantworten. Glücklich machen sie jedenfalls nicht.

Wenn ich Schmerzen habe, denke ich: Wie gut ging es mir doch, bevor das losging. Aber wenn die Schmerzen weg sind, denke ich: „Schön! Und was jetzt?“ Dass es allen so geht, weiß ich. Deshalb vertraue ich ja auch darauf, dass alle diesen Satz so gern lesen.

Sich für sein Glück zu schämen, hilft prächtig, um es loszuwerden. Wie kann ich hier Austern essen, während andere nicht mal Eisbein haben? Wieso fühle ich mich immer noch wohl in meiner Spießerwohnung, obwohl ich im ‚Tatort‘ immer Leichen in gestylten Bungalows sehe?
Die Frage, was GLÜCK ist, wurde noch nie zufriedenstellend beantwortet. Deshalb wartet jede Wurst darauf, dass endlich ich jetzt mal meinen Senf dazugebe: hausgemacht auf den Tellerrand. Man kann ihn ja liegen lassen.

Intelligenz macht nicht glücklich, das ist klar. Aber dass auch Einfalt nicht notgedrungen glücklich macht, das ist weniger geläufig.

Glück ist, der eigenen Illusion glauben zu können. Oder? Weiser ist es, ihr nicht zu glauben, sie aber trotzdem als Lebenselixier aufrechtzuerhalten, zumindest für die anderen. Lenin und Mao traue ich zu, sich so verhalten zu haben.

Bei seiner Wunschvorstellung für die Auferstehung muss der Christ sich zwischen unendlichem Orgasmus und ewiger Zufriedenheit entscheiden. Die Christin bleibt auf Wunsch des Papstes so zufrieden, wie sie es schon zu Erdenzeiten als Frau und Mutter war. (Polemik! Macht mich aber kindisch glücklich.)

Über diese Jungfrauen, die die islamischen Selbstmordattentäter anschließend an deren Opfertod willkommen heißen, sage ich jetzt nichts, aber natürlich hoffe ich, dass die vermeintlichen Märtyrer im Augenblick ihres Dahinscheidens gleichzeitig schwul und sexsüchtig werden.
Den Buddhisten, der Wahrheit und Glück in sich selbst sucht, nehme ich ernster. (Wobei ja allen außer mir völlig egal ist, was ich ernst nehme und was nicht. Dass ich es hier aufschreibe, widerspricht dem allerdings.) Um den Buddhismus leben zu können, braucht es Einsicht, Willen und Talent. Eins davon fehlt mir; welches, weiß ich nicht.

Die Zukunft besteht vielleicht in einem Glückschip, der den Neugeborenen gleich nach der Entbindung eingepflanzt wird. Erst in China, dann überall. Thema erledigt.

Früher malte ich mir das Glück als etwas Positives aus: Ich stolpere an der Mole in Portofino, und ein sehniger Jachtbesitzer fängt mich auf; ein Fanatiker ist auf dem Weg zum Attentat und bekommt Durchfall.

Jetzt sehe ich das Glück überwiegend im Negativen: Der Körper verspürt keine Schmerzen, keine Übelkeit, kein Jucken, kein Kitzeln. Die ‚Seele‘ verspürt keine Angst, keine Sorgen. Die Frosch-Aussage von damals: Glück ist die Abwesenheit von Unglück. Freude erlebe ich trotzdem: Es ist schön, wenn man etwas mag. Herrlich ist es, wenn man etwas nicht zu mögen braucht. Da steht vor mir der Teller mit Lungenhaschee, dem Geheimrezept der Journalistin, von der ich mir einen interessanten Artikel über mich erhoffe, und ich sage: „Ess’ ich nicht!“

Das ist Glück.

Ihr immer noch gern suchender
Hanno Rinke



Grafik mit Material von: freepik/derich (volles Glas)  | freepik/diana.grytsku (leeres Glas)

49 Kommentare zu “Glück

  1. Konsumieren statt Erleben. Irgendwie befriedigend, aber auch ein wenig traurig, oder? Es bleibt die Frage, ob man sich wirklich auf das Zuschauen beschränken sollte.

    1. Man tut das, was man kann. Das Internet bietet zumindest die Möglichkeit aus der Ferne teilzunehmen. Früher war das schwieriger.

    2. Das ist nicht nur eine Frage des Mutes, sondern auch des Alters. Am Anfang ist man für Manches noch zu jung, am Ende ist man für Vieles schon zu alt. Glücklich, wer die Zeit dazwischen genutzt hat!

      1. Das stimmt zwar, aber die Zeit dazwischen geht für viele auch größtenteils fürs Arbeiten drauf. Manchmal bleibt wenig Raum, um das Leben wirklich zu genießen oder sich selbst zu verwirklichen. Es braucht nicht nur Mut, sondern auch das Bewusstsein, den richtigen Moment zu erkennen und auszukosten, wenn er sich bietet.

      2. Da hat sich, glaube ich, im Bewusstsein viel verändert. Innerhalb der Volkswirtschaft muss dann aber ein sinkender Lebensstandard in kauf genommen werden.

  2. Glück kann man doch auch nur wirklich erleben, wenn man schon einmal Unglück erlebt hat. Alles andere ist doch nur oberflächlich.

    1. Ach was, auch Kinder und junge Menschen erleben Glück. Klar entwickelt man sich weiter und Erfahrungen bekommen eine andere Perspektive. Das gehört ja zum Leben dazu. Aber deswegen kann man jüngeren Menschen, die noch keinen Verlust und kein Unglück erlitten haben, ihre Erfahrungen und Erlebnisse nicht klein machen.

      1. Das wäre ja noch schöner, wenn man sich bei jedem Moment der Freude fragen müsste, ob dieser überhaupt tiefgründig genug ist.

  3. Da fragt man sich, ob die Angst vor dem Erleben größer ist als die Freude daran. Ein seltsamer Sieg der Passivität.

    1. Nichtstun kann auch glücklich machen. Wer sagt: „Gestern war ich mal so richtig faul!“, ist stolz darauf und unterstreicht damit, wie fleißig er sonst ist. Ständige Passivität erscheint auch mir glücklos.

      1. Aber leider wird die Mitte von rechts und links außen verachtet. So kommen ganze Nationen aus dem Gleichgewicht.

  4. Schöne neue Welt, in der wir Abenteuer lieber auf dem Bildschirm verfolgen. Instagram macht es möglich. Praktisch und sicher, aber irgendetwas fehlt dann eben doch. Manchmal ist es halt doch besser, sich was zu trauen und Dinge nicht nur von der Couch aus zu erleben.

    1. Das war früher der Unterschied zwischen Kindergarten-Toben und Altersheim-Ruhen. Das Internet hat die Institutionen einander angenähert.

      1. Tja, zumindest im Netz gibt es keinen Altersunterschied mehr: Alle scrollen, liken und kommentieren.

      2. Whatsapp hat vor 4 Tagen neue Videofilter für Telefonate angekündigt. Wenn da ein Weichzeichner dabei sein sollte, dann hat es sich mit der Anti-Ageing Creme auch schon wieder getan 😂

      3. Da macht dann wohl manche Influencerin pleite oder einen Selbstmordversuch (fake natürlich!)

  5. Illusionen sind trügerisch, aber manchmal genau das, was uns am Leben hält. Vielleicht liegt wahre Weisheit darin, sie zu durchschauen und dennoch bewusst zu pflegen—für uns selbst und die anderen.

    1. Illusionen, die man durchschaut, nennt man anders. Es sind keine mehr. Oft müssen wir uns mit einem Kompromiss abfinden. Immerhin besser als gar nichts.

      1. Grundsätzlich stimmt es sicher, dass Illusionen, sobald sie entlarvt werden, ihre Macht verlieren. Doch die Frage ist ja, ob ein Kompromiss wirklich immer das Beste ist, was wir erreichen können. Manchmal halten wir uns an halben Lösungen fest, nur weil uns der Mut fehlt, nach etwas Besserem zu streben. Vielleicht wäre es manchmal lohnenswert, nicht nur das Nächstbeste zu akzeptieren, sondern neue Wege zu suchen, die über den bloßen Kompromiss hinausgehen. Ich habe selbst keine Ahnung, ob das immer möglich ist. Aber ein Versuch ist es allemal wert.

      2. Das klingt verlockend, aber in einer Demokratie mit Koalitionsregierung ist das weder möglich noch wünschenswert. Zuhause und im Beruf kann man sich ja kompromisslos verhalten: Zwischen Triumph und Scheitern ist da alles drin.

      3. Außerdem kommt das doch schon wieder darauf an, was man persönlich als Glück empfindet. Das eigene Ego ist nicht immer befriedigender als ein guter Kompromiss.

  6. Na klar, warum noch leben, lieben oder lernen, wenn der Glückschip alles regelt? Perfekt, dann können wir uns endlich um die wirklich wichtigen Dinge kümmern, wie Dauerstreaming und Fast Food. Zukunftsproblem gelöst, bitte weitergehen!

      1. Ja. Wenn man großes Glück hat, braucht man dafür gar nicht zu arbeiten, nicht mal an sich selbst, und wenn man noch größeres Glück hat, braucht man sich dafür noch nicht mal zu schämen.

      1. Im Text heißt es doch auch schon „Some critics argue that the test assesses an AI’s ability to mimic human conversational style rather than its understanding or reasoning capabilities“. Die Menschheit wird also in naher Zukunft noch nicht komplett ersetzt werden.

  7. Die Frage, was Glück genau ist, kann man bestimmt auch gar nicht zufriedenstellend beantworteten. Dafür sind unsere Auffassungen davon viel zu verschieden.

    1. Da hast du absolut recht. Glück ist wohl so individuell wie die Menschen selbst. Was für den einen Erfüllung bedeutet, kann für den anderen völlig belanglos sein. Vielleicht liegt das wahre Glück schon darin, seinen eigenen Weg zu finden, ohne sich von den Vorstellungen anderer leiten zu lassen.

      1. Leiten lassen müssen wir uns bis zu einem gewissen Grade alle. Wem ich vertrauen und was für mich zutrifft: darin liegt meine eigene Entscheidung.

      2. Die offenen Augen helfen immer. Und dann trifft man eben seine eigenen Entscheidungen und lässt sich leiten oder nicht.

  8. Nein, es ist nicht armselig, sich mit Zufriedenheit statt strahlendem Glück abzufinden. Nicht jeder muss zum Glück anderer beitragen, manchmal reicht es, bei sich selbst anzukommen. Glücklich machen solche Fragen ohnehin nicht.

      1. Anders herum ist es noch einfacher. Warum sich abmühen, wenn man einfach mit der eigenen Unzufriedenheit zufrieden sein kann? Spart Geld für Ratgeber und die nervigen Yoga-Kurse. Also, ab jetzt entspannen, Füße hochlegen und sich freuen, dass man das Streben nach dem perfekten Leben erfolgreich abgelegt hat. Vielleicht ist Zufriedenheit ja der wahre Luxus!

      2. Das Problem mit der Zufriedenheit ist, dass sie Stillstand bedeutet. Man muss, wenn das geht, damit zufrieden sein, dass man sich seine Neugier und seinen Tatendrang bewahrt (falls vorhanden).

  9. Vielleicht fragen sich die Jungfrauen inzwischen auch, ob sie nicht lieber in den Buddhismus wechseln sollten – da gibt es wenigstens Ruhe und innere Einkehr statt chaotischer Überraschungen und sexsüchtigen Märtyrern.

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