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Sonntagspredigten

Worum es geht

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Die drei Säulen, die das Gebälk des Lebens tragen, sind: Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung und Selbstverteidigung. Volkstümlicher ausgedrückt: Fressen, Ficken, Fechten. Feige bin ich ja nicht, und darum traue ich mich, das mal aufzudröseln, besonders in Hinblick auf den sehr begrenzten Bereich des Menschseins.

Nahrungsaufnahme

Hasen und Kaninchen zu verzehren, das hätte mir früher nicht so gut gefallen. Jedenfalls nicht, bevor findige Exemplare des Homo erectus vor etwa einer Million Jahren die Möglichkeit der Feuernutzung entdeckten. Erschwerend kam hinzu, dass es noch keine Tiefkühltruhen und keine elektrischen Allesschneider gab. Ohne solche Haushaltshilfen ist ein Carpaccio ja schwierig herzustellen. Sich durch das Fell zum Knochen durchzukauen wäre nicht so meins gewesen, da hätte ich es wohl bei Pilzen und Beeren bewenden lassen. Und nicht einmal das Braten des Bratens hätte mich schon zufriedengestellt. Erst mal ging noch viel Zeit ins Land und ins Wasser, bevor Hiob laut Altem Testament sagen konnte: „Wer mag Unschmackhaftes essen, das nicht mit Salz gewürzt ist?“ So sehe ich das auch. Doch selbst die ungezuckerten Beeren wären mir damals meistens zu sauer gewesen. Ab dem 16. Jahrhundert hätten mir, wenn ich reich gewesen wäre, meine Bediensteten den Rohrzucker aus der Apotheke holen können. Erst um das Jahr 1900 war Zucker – inzwischen von Rüben – fast so billig, wie er es heute ist. Ungefähr 180 Millionen Tonnen werden jedes Jahr erzeugt.1 – Ganz schlecht! Fleisch essen nur Tierquäler, und Zucker führt zu Adipositas, Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Schlafstörungen und Konzentrationsschwäche.

‚Unser täglich Brot‘ ist auch nicht viel besser, jedenfalls nicht, wenn es aus teurem Weizen hergestellt wird. Durch die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ ließ ich mich belehren: ‚Baguette, Bauernbrot, Ciabatta: Der Brotkorb steht im Restaurant meist als Erstes auf dem Tisch. Carl Meissner lässt das kalt […].‘ Warum? Nicht warm aufgebacken? – Nein, er isst bloß Vollkornbrot. ‚„Da aber bitte immer genau aufs Etikett schauen, ob es sich nicht doch nur um mit Malz gefärbtes Mischbrot handelt“, rät Meissner.‘ Mein Gott, wie wir uns alle optimieren! Länger leben, gesünder sterben. Dass in Gaza die Kinder verhungern, ist schrecklich. Aber dass ‚Edeka‘ wegen mangelhafter Testergebnisse betroffene Chargen von Nativ-Extra-Olivenöl aus dem Verkauf gezogen hat, ist für deutsche Verbraucher natürlich eine interessantere Information, die belegt, wie kundenfreundlich der Konzern agiert, der behauptet: ‚Wir lieben Lebensmittel‘. Klar, man kann seinen Teddymantel, seinen Partner und seinen Fußball lieben. Warum nicht seine Lebensmittel?

Fortpflanzung

Was heute jedem bildungsfernen Debilen klar ist, der eins und eins nicht zusammenzählen kann, aber sein Geschlechtsorgan ohne intensives Nachdenken in die dafür vorgesehene weibliche Öffnung zu schieben vermag, das wurde eine ganz neue Erkenntnis, als die Biologie nicht mehr ganz so vor der Religion zu kuschen hatte. Bis Ende des 18. Jahrhunderts galt die Entstehung von Nachwuchs – wegen Gottergebenheit auch im vermeintlich aufgeklärten Europa – als eine Art von ‚Schöpfung‘: erst vom Höchsten vorgemacht, anschließend von allen durch ihn erschaffenen Lebewesen imitiert. Der Mensch benutzte dafür seine ‚Samentierchen‘, das war klar, aber niederes Zeug wie Fliegen entstand aus fauligem Fleisch. Also nicht direkt, merkte Francesco Redi 1668: Winzige Eier lagen da erst mal rum, bevor es weiterging. Das führte zu der Annahme, alle Lebewesen seien bereits seit der Schöpfung vorhanden gewesen: Sie seien längst ‚ineinander geschachtelt‘ da und entfalteten sich durch den Zeugungsakt. Wer glaubt, Eva wäre aus dem Paradies geflogen, weil sie an einem verbotenen Apfel genascht hat, der hat auch mit dieser Entstehungshypothese keine Schwierigkeiten. Unappetitlich blieb es trotzdem. Albrecht von Haller behauptete Mitte des 18. Jahrhunderts, Menschen und Säugetiere entwickelten sich aus gerinnender Menstruationsflüssigkeit.2 Für Weiterdenkende ergibt sich hier die Frage, ob Eva Hunden und afrikanischen Rüsselspringern die von Adam übrig gelassenen Reste des unerlaubten Apfels zu kosten gegeben hat; denn auch Hündinnen und Rüsselspringerinnen durchleben diese lästige Menstruation, die als eine der Strafen Gottes für paradiesischen Ungehorsam gilt.

Die Befruchtung – Sperma trifft Eizelle – entdeckte erstmals Oscar Hertwig 1875 bei Seeigeln.3 Diesen Schuh mussten sich werdende Mütter damals aber noch nicht anziehen. Was da unter ihrem Umstandskleid heranwuchs, unterschied sich deutlich vom Nachwuchs der Stachelhäuter.

Georg Mendels Vererbungslehre war 1866 unbeachtet geblieben. Was sollte ein Mönch aus Brünn schon zum eher weltlichen Thema ‚Fortpflanzung‘ zu sagen haben? Aber es ging weiter: Theodor Boveri – klingt italienisch, er war aber Deutscher – veröffentlichte 1904 seine Chromosomentheorie der Vererbung. Brachte zwar immer noch nicht viel, doch dann kamen James Watson und Francis Crick! Sie erklärten 1953 die DesoxyriboNukleinsäure (englisch: Acid). 1962 gab es dafür den Nobelpreis. Bei ihrer Dankesrede ließen die geehrten Gelehrten Rosalind Franklin lieber unerwähnt. Ohne deren Vorarbeit wäre die Entdeckung zwar nicht möglich gewesen, aber wer teilt schon gern? Ruhm durch drei ist etwas unübersichtlich, und gerade um die Übersicht geht es ja bei DNA-Auswertungen. Inzwischen spricht man nicht mehr nur von der DNA eines Menschen, sondern im übertragenen Sinne auch von der DNA einer Partei, einer Glaubensrichtung, einer Gesinnung. Sparkassen rühmen sich ihrer DNA als Werteverwalter, und Männer beweisen mittels ihrer DNA, dass sie nicht der Vater eines untergeschobenen Bastards sind, bzw. die Mutter lässt beweisen, dass sie es doch sind. Mörder sind dank DNA-Abgleichs heutzutage viel leichter zu überführen, besonders in Fernsehkrimis, und auch die Aufklärung der Schüler gewann seit den Zeiten des Klapperstorches immer mehr an Realitätssinn. Erzählungen wie die, dass Mensch und Banane genetisch zu 50 Prozent identisch sind, lockern den Sexualkundeunterricht auf und lenken wohltuend ab von Peinlichkeiten bei der mündlichen Vermittlung des Zeugungsvorgangs. Darüber hinaus verpflichtet die Genetik zu Demut gegenüber der Kartoffel: Während beim Menschen Vater und Mutter nur jeweils einen Chromosomensatz weitergeben, erbt der Knollennachwuchs zwei Kopien jedes Chromosoms pro Elternteil.

Diese Kurzfassung auf dem Weg vom Aberglauben zur Wissenschaft belegt: Einsichten entstanden immer erst nach Irrtümern. Dass wir jetzt am Ende aller Theorien angelangt sind, ist unwahrscheinlich. Die künstliche Intelligenz wird uns weiterführen. Ob KI die einen schlauer, aber die anderen dümmer machen wird (was ich nachlesen kann, muss ich ja nicht vorlernen), das bleibt abzuwarten, besser noch: zu steuern – was allerdings schnell zu ideologisch motivierter Manipulation führt.

Dass sexuelle Betätigung bei religiös ungefestigten Menschen manchmal auch ohne Zeugungsabsicht vorkommt, bloß weil es ihnen Spaß macht, das sei hier nur am Rande erwähnt.

Selbstverteidigung

Zuerst mal gibt es den Selbsterhaltungstrieb, einschließlich eigentümlicher Gepflogenheiten: Bei einigen Tausendfüßler- und Spinnenarten fressen die frisch geschlüpften Jungtiere ihre Mutter auf. Beim Menschen kommt das höchstens in psychologischer Hinsicht vor. John Locke leitete im 17. Jahrhundert – etwas gewagt – aus dem Recht auf Selbsterhaltung das Recht auf Eigentum ab. Schopenhauer stellte Mitte des 19. Jahrhunderts die Selbsterhaltung als metaphysisches Prinzip dar. Nietzsche widersprach: ‚Es gibt Dinge, die Lebewesen mehr wert sind, als sie sich selbst wert sind.‘4 Trifft auf beseelte Entdecker sicher eher zu als auf besessene Verkünder.

An diesem Punkt haben wir uns bereits von der ‚Erhaltung‘ in die ‚Verteidigung‘ vorgearbeitet. Auch die hat, was den juristischen Aspekt angeht, harte Kämpfe auszufechten. Doch zunächst mal muss die Entscheidung getroffen werden: Wehre ich mich oder rücke ich aus? Pflanzen können sich das nicht aussuchen. Wegrennen geht nicht. Stattdessen schmecken sie zur Abwehr schlecht oder agieren noch gemeiner: Die Tomate hat Drüsenhaare auf den Oberseiten ihrer Blätter. Wenn eine Blattlaus zu nagen anfängt, sondern diese Drüsenhaare ein klebriges Sekret ab. Darin verfängt sich die Blattlaus und verhungert. Eine pädagogische Maßnahme zur Abschreckung weiterer Blattläuse? Vom Völkerrecht ist diese Vorgehensweise noch gerade eben gedeckt. Artikel 51 der UN-Charta gesteht einzelnen Staaten das Recht zu, sich gegen kriegerische Attacken zu wehren. Prävention ist unzulässig.

Wenn ich mir ansehe, was in der Ukraine, im Nahen Osten und überhaupt auf der Welt los ist, dann denke ich: Die UN-Vollversammlung kann sagen, was sie will, oder schweigen. Mal widerspricht Moskau, mal widerspricht Washington. Danach kräht kein Gockel, auch wenn es in der Zeitung steht. Und im persönlichen Bereich: Wenn Vermeidung nicht möglich ist und Abschreckung nichts nutzt, dann muss das Hirn einen rettenden Gedanken haben oder die Hand eine rettende Waffe. Kaum noch wird mit dem Florett gefochten, in der Sprache triumphiert die Keule, auf dem Schlachtfeld die Drohne. Untergangsfantasien gebe ich mich trotzdem nicht hin: Es wird schon weitergehen, irgendwie. Und auf lange Sicht ist das Leben doch wirklich immer bequemer geworden: mit Feuer, mit Ciabatta, mit Antibabypille. Dass wir uns trotzdem nicht zufriedener vorkommen, liegt an uns selbst.

Ihr Dorfschulmeister
Hanno Rinke

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Quellen: 1 Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), US Department of Agriculture (USDA) | 2 Wikipedia/Fortpflanzung | 3 Wikipedia/Befruchtung Seeigel | 4 aus ‚Also sprach Zarathustra‘, Kapitel ‚Vom freien Geiste‘, 1883–1885
Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

30 Kommentare zu “Worum es geht

  1. Dass wir uns trotzdem nicht zufriedener vorkommen, liegt mitunter auch daran, dass das Feuer gerade halbe Städte verwüstet (siehe Los Angeles), dass das Ciabatta teurer und teurer wird (siehe Inflation allerorts) und die Antibabypille möglicherweise sogar wieder verboten werden soll (siehe die Religiöse Rechte in den USA).

    1. Zufriedenheit ist ein Zustand, die dem einzelnen behagt, aber die Gesellschaft nicht weiterführt. Nur: wohin bloß?

      1. Es sind aber doch auch nur bestimmte Formen der Unzufriedenheit, die die Gesellschaft vorantreiben. Das Leiden unter der Inflation bringt doch z.B. für niemanden etwas. Daraus wird such keine Veränderung ergeben.

      2. Auch an Inflationen wird verdient. Das zu verhindern ist schon eine Aufgage.

    1. Da, wo man seine Begabungen hat, muss man zupacken, auch, wenn man vielleicht eigentlich von etwas anderem geträumt hat.

  2. Es ist schon spannend, wie lange die Menschheit noch an alten Mythen festhält, obwohl die Wissenschaft uns zuverlässig mit unendlichen Massen an Fakten versorgt. Heute wissen wir zumindest, dass es bei der Fortpflanzung in der Regel weniger mystisch zugeht als bei Maria, aber irgendwie bleibt der ganze Prozess immer noch ein bisschen magisch.

  3. Gesünder sterben“ klingt gar nicht so schlecht. Das bedeutet doch wohl auch, dass man ein gesünderes und möglicherweise besseres Leben geführt hat. Natürlich sollte man trotzdem vor allem das essen, was einem schmeckt. Wer eine Diät beginnt, die nicht zu ihm passt, wird nach zwei Wochen ohnehin wieder so naschen wie vorher.

    1. Da fällt mir der Film THE ROOM NEXT DOOR ein, in dem die Hauptdarstellerin irgendwann sagt „I think I deserve a good death.“ Eigentlich ein schönes Ziel, oder?

      1. Das wäre natürlich die Vorraussetzung. Ansonsten ist man wahrscheinlich auch beim Sterben nicht allzu glücklich.

      2. Dass es bald vorbei sein wird, ist in manchem Leben der letzte Trost, auch gegenüber unerreichten Zielen.

  4. Mal widerspricht Moskau, mal widerspricht Washington… Nächstes Jahr „kauft“ Trump Grönland und macht Kanada zum 51. Staat. Dafür gibt es bald einen „Deal“ zwischen Netanjahu und der Hamas. Währenddessen ist Hollywood leider abgebrannt und es kann alles nicht für Netflix verfilmt werden. Die Welt ist anstrengend.

      1. …und war deswegen auch weniger überwältigt. Man wird ja geradezu bombardiert mit Meldungen und Tragödien.

      2. Bei allem mitzuempfinden, ist halt nicht verkraftbar fürs Gemüt. Ich kenne die Gegenden, die jetzt in Kalifornien brennen. Ich finde es schrecklich. Aber leide ich?

      3. Klar. Aber meine Instagram-Kontakte scheinen das anders zu sehen. Jedenfalls gab es letzten Oktober viele Stimmen, denen Gaza zu weit weg war um eine Meinung zu haben und nun die Gegenstimmen, die bewusst ignorant sagen was kümmert mich L.A. Ich finde dieses gegenseitige Vorhalten worüber man sich aufregen und wie viel man sich engagieren muss ein wenig albern.

      4. Du meinst die, die einem andauernd vorwerfen während großer Krisen still zu bleiben? Ich finde ja nach wie vor, dass Social Media nicht der geeignete Platz für politischen Aktivismus ist.

      5. Ob Social Media geeignet ist, ist nicht mehr die Frage: Es ist da und das muss berücksichtigt werden.

      6. Eben. Wer Meta und X boykottiert, kann seine Ansichten ja auf Bluesky oder Mastodon teilen. Aber die Sozialen Medien bleiben nunmal die essentiellen Diskursplattformen unserer Zeit. Am Stammtisch trifft man niemanden mehr.

      7. Der Stammtisch wird wohl nur noch gebraucht, um eine unliebsame Aussage als populistisches Gerede abzutun.

  5. Hase und Kaninchen sind immer nich nicht meine Lieblingsspeisen. Man muss so viel arbeiten um an das bisschen Fleisch zu kommen.

      1. Klar, so geht’s mir auch. Ansonsten überesse ich mich zu schnell an Gerichten, die ich eigentlich sehr gerne mag.

      2. Die Mutter meiner besten Freundin arbeitet viele Jahre bei Tchibo. Am Ende des Tages war sie regelmäßig grantig wegen des aggressiven Geruchs über Stunden und Stunden im Laden. Kaffee getrunken hat sie danach tatsächlich nur noch selten.

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