Liebe Leserinnen und Leser!
Lange dauert das Jahr ja nicht mehr. Die ganzen von Medien erfundenen Jahresrückblicke sind gedruckt und gesendet. Gemein, wie ich bin, hoffe ich immer, dass zwischen Weihnachten und Neujahr etwas Weltbewegendes passiert, damit all die voreiligen Zusammenfassungen zu Schrott werden. Es ist allerdings nicht bloß meine Gemeinheit, die mich treibt, sondern auch meine Abneigung gegen den Wettbewerb: Welcher Medienprofi hat als erster ‚die Siegerin‘, ‚den Verlierer‘, ‚den Helden‘ und ‚die Tote des Jahres‘ vor die Kamera oder auf die Titelseite gezerrt? Welche Medien-Profiteuse trumpft auf mit dem olympischsten Podest, dem würdevollsten Grab? 2024 auszuschlachten, schon bevor es vorbei ist, das passt mir nicht. Ein Ereignis wie das am 26. Dezember 2004, das uns den Begriff ‚Tsunami‘ für unseren Wortschatz bescherte, will ich natürlich nicht herbeireden, aber der Besuch von Außerirdischen kurz vor Silvester wäre doch ein hübscher Abschluss, der zweifellos in keiner Jahresbetrachtung fehlen dürfte: Neudruck! Immerhin haben wir ja nun wenigstens den Sturz von Assad – zwei Tage, nachdem die SPIEGEL-Zusammenfassung für 2024 in meinem Briefkasten lag. Ob das, was jetzt in Syrien passiert, ein Anlass zur Freude ist, weiß ich nicht, aber für die voreiligen Jahresrückblickler kommt das Ereignis jedenfalls zwei Wochen zu spät oder drei Wochen zu früh. Ganz unwichtig fände ich auch das Ergebnis der Vertrauensfrage für eine Dezember-Auflistung nicht. Sie macht den Ausblick auf 2025 noch interessanter.
Dass der Gott Janus in beide Richtungen sieht, also Ende und Anfang im Blick hat, ist allen geläufig, die auch wissen, dass der Juli nach Julius Cäsar benannt ist und der August nach dessen Großneffen Augustus. Bildungslos kommt man auch durchs Leben; Gebildete denken, ‚ärmer‘. Finanziell stimmt das sogar oft, ansonsten ist diese Einschätzung immerhin ein Trost, der es den Gebildeten erlaubt, sich auf ihre Bildung etwas einzubilden.
Die Gegenwart ist eine Fiktion, der Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Meistens meint man ja auch mit dem Begriff ‚Gegenwart‘ bloß: weder im Mittelalter noch im Science-Fiction-Modus.
Die Zukunft ist besonders heikel, wenn die Vergangenheit aufsehenerregend war. Kommt nichts hinterher, droht das Vergessen, nicht das eigene wie bei Demenz, sondern das der anderen. Für den Mörder ist das natürlich angenehm, für die Schlager-Eintagsfliege eher nicht. Dem Schauspieler gelingt mit einem Rollenwechsel ein Comeback. Manchmal. Wenn ein versierter Regisseur an ihn glaubt. Sonst bleibt nur die Rubrik ‚Was macht eigentlich …‘ im aussterbenden Medium der Illustrierten oder das Durchtingeln von Vereinsveranstaltungen und Reality-Formaten als C-Promi. Und natürlich Selbstmord oder die Einsicht: Das war’s jetzt! (Geht auch in Kombination, dann allerdings in umgekehrter Reihenfolge.)
In der Vergangenheit zu leben ist nicht wirklich gut. Wenn aber die Gegenwart unerträglich ist, bietet sich die Vergangenheit als Ausweg an: „Damals in Versailles war es doch immer so schön“, mag Marie Antoinette auf dem Weg zur Guillotine gedacht und dabei den Ärger mit ihrem Perückenmacher verdrängt haben. Ihre letzten Worte waren angeblich ‚Pardon, Monsieur‘, weil sie dem Henker auf den Fuß getreten war. Aus Versehen.
Für die Zukunft zu leben gilt als fortschrittlich, selbst bei Konservativen. Ob man dabei mehr an seine Rente denkt oder an die Wiedererrichtung der Monarchie, darin sehen weiterdenkende Beobachter einen Unterschied, der in polizeilichen Maßnahmen kulminieren kann.
Den Augenblick zu leben ist sowohl erstrebenswert als auch gefährlich. Sein größtes Problem: Er vergeht. Ihn zu reanimieren führt zur Verfälschung, wenn die Rückblende in Gedanken stattfindet (das ist für Memoiren hilfreich), und zur Enttäuschung, wenn der Ort wirklich aufgesucht wird (das ist für Touristen ärgerlich).
Aber was soll ich Ihnen viel über all das erzählen, was Sie sowieso wissen? Ich wünsche Ihnen eine konfliktfreie Weihnachtszeit und Zuversicht für das nächste Jahr. Aber vorher melde ich mich noch zweimal!
Ihr
Hanno Rinke
Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH
‚Die Lehre der Auswahl und Anordnung erzählerischer Mittel zur Darstellung einer Geschichte‘
Der Sturz von Assad in Syrien, ein neuer Premierminister in Frankreich und ein erfolgreiches Impeachment in Südkorea … mir scheint es passiert außergewöhnlich viel zum Jahresende.
Man würde sich wirklich wünschen, dass weniger passiert. Eigentlich ist die Adventszeit ja eine Phase der Entschleunigung. Zumindest, wenn man sich um die Geschenke für die Familie gekümmert hat und nicht im Einkaufsstress steckt.
Die Zeiten, in denen Weihnachten der Besinnung diente, sind längst vorbei. Statt Besinnlichkeit gibt es Gänse und Geschenke.
Na aber selbst dieses Zusammensitzen mit der Familie hat doch etwas Gemütliches. Auch wenn Weihnachten mittlerweile hauptsächlich ein kommerzielles Fest ist.
Das Weihnachtsfest selbst kann in meiner Familie manchmal stressig werden. Aber die Tage vor dem Jahreswechsel genieße ich trotzdem nach wie vor.
Man muss sich halt trauen, alles zu genießen, was genießenswert ist, und nicht so eitel sein, sich als verantwortlich zu stilisieren, wo auf der Welt irgendetwas schiefläuft, und daraufhin unter jedem Kummer irgendwo auf der Welt medienwirksam zu leiden.
Genießen ist immer wichtig, aber Verantwortung zu übernehmen, schließt das ja nicht aus. Wer alles nur als persönlichen Genuss betrachtet, übersieht, dass wir alle Teil der gleichen Welt sind – und das bedeutet manchmal doch auch, hinzuschauen, wo es schiefläuft.
Hinschauen ja, aber nicht verzweifeln, da, wo man machtlos ist.
Huch! Es kommt ein neues Rinke-Buch!? Etwa pünktlich zur Weihnachtszeit!?
Das Buch zum Zeitenumbruch. Na dann kann man wohl erstmal nur gespannt sein.
Etwas markschreierisch, aber zeitlich stimmt es ja wohl…
Überleben scheint für unsere Zeit genau der passende Titel zu sein. Wann ist denn die Veröffentlichung?
Bei mir liegt es und im Großhandel auch.
Was gibt es interessanteres als das Leben? 😉 Ich freue mich auf das Buch. Schöne Neuigkeiten
Man schreibt ja Dinge auf, um sie nicht zu vergessen, oder damit andere sie lesen. Bei mir trifft beides zu.
Das ist ja toll. Ich freue mich und gratuliere Ihnen bereits vorab zu diesem neuen und sicherlich spannenden Projekt!
Das klingt in der Tat großartig! Ich schließe mich den Glückwünschen an und wünsche Ihnen viel Erfolg und Freude mit diesem spannenden neuen literarischen Unternehmen.
Danke. Ich bin zuversichtlich.
Was bleibt – jetzt verstehe ich auch, warum diese Frage in den letzten Wochen schon öfters mal im Blog auftauchte! Ob es eine befriedigende Antwort geben kann? Ich freue mich in jedem Fall schon aufs Lesen.
Bei vielem ist es gut, dass es nicht geblieben ist, bei manchem ist es schade. Das sieht jede Generation anders.
Und jeder fragt: was bleibt von mir?
Eigentlich behaupte ich, was von mir in unserer hiesigen Realität nach meinem Tod übrig bleibt, sei mir völlig egal, aber eine Träne am Grab oder ein Satz bei Wepikedia sind doch freundliche Gedanken.
Geht mir genauso – man sagt, es sei einem egal, aber die Vorstellung, irgendwo in Erinnerung zu bleiben, hat doch ihren Reiz. Eine kleine Spur im großen Ganzen, warum nicht?
Ganz ohne Eitelkeit wäre man ja unerträglich anzuschauen.
Da hofft man auf außerirdischen Besuch, und stattdessen kommt nur der Neujahrskater. Auch irgendwie weltbewegend.
Waren diese drohnenartigen Dinger in New Jersey nicht schon die ersehnten Jahresende-Aliens?
Assad in Moskau ist irgendwie noch interessanter.
Der Sturz von Assads Regime in Syrien ist sicher ein bedeutender Schlag für Russland. Moskau hat ja viel in die Unterstützung Assads investiert, sowohl militärisch als auch diplomatisch, um seinen Einfluss in der Region zu wahren. Mit dem Ende von Assads Herrschaft verliert Russland nicht nur seine strategische Stellung in Syrien, sondern auch einen wichtigen Verbündeten im Nahen Osten. Es wird spannend sein zu schauen, wie sich die Dinge weiter entwickeln.
Wenn Geschichte passiert, sitzt man gern im Publikum. Da ist Popcorn zu mampfen natürlich angenehmer, als selbst auf die Bühne zu müssen.
@Peppo Anscheinend weiß man es immer noch nicht. Hier sitzt wohl selbst das Pentagon Popcorn mampfend im Sessel.
Wenn sich die Frauen verschleiern müssen, weiß man bescheid.
Tja, während die Rückblicke nun längst gedruckt und gesendet sind, bleibt das Jahr selbst noch in Bewegung. Vielleicht ist genau das der Reiz: die Möglichkeit, dass sich die großen Geschichten erst nach Redaktionsschluss entfalten – wie ein Silvesterraketenfinale, das keiner vorhersehen konnte.
Mir gehen die ganzen Top 10 Listen auf die Nerven. Als ob man nicht eh schon jede Netflix-Serie gesehen und jeden noch so blöden Song im Radio gehört hat. Und wenn nicht, wahrscheinlich sagt man dann am besten nur „Glückwunsch“.
Es muss halt alles einsortiert und in Schubladen gesteckt werden. Gleichzeitig braucht es für die Menschen und die Medien Sieger auf dem Podest und die Abgehängten in der Ecke.
Wahrscheinlich müssen auch einfach die sonst recht leeren Nachrichtenseiten mit irgendwas gefüllt werden.
Manchmal wundere ich mich bei der ‚Tagesschau‘ über die Länge sehr lokaler Beiträge, während außergewöhnliche Begebenheiten gar nicht erwähnt werden.
Wenn die Gegenwart wirklich unerträglich ist, sollte man aber zuerst einmal in die Zukunft blicken. Erst wenn sich diese als völlig ausweglos erweist, kann man sich der Vergangenheit zuwenden.
Momentan scheint die Zukunft zumindest ziemlich ungewiss. Trump, die Ukraine, Israel und Gaza, Syrien, Macrons äußerst wacklige Regierung … ob ein Kanzler Merz die richtige Lösung für Deutschland ist scheint mir auch lange nicht sicher.
Viel schlimmer als beim zögerlichen Scholz und seiner Ampel kann es doch auch nicht werden.
Dass es schlimmer nicht mehr werden kann, klingt nicht gerade optimistisch. Dabei kann bis zum Schluss alles immer schlimmer kommen. Während ich schon ertrinke, kann mir eine Möwe noch ins Gesicht kacken.
Mir machen diese Leaks aus dem CDU-Wahlprogramm erstmal keine großen Hoffnungen auf eine leichtere Zukunft…
Was stand da nochmal alles drin? Ich erinnere mich hauptsächlich an mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum und kein Gendern in offiziellen Texten.
Das wird die Welt wohl auch nicht ändern. Vielleicht nicht mal Deutschland.
Die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine ist sicher eher etwas, das die Weltpolitik aufmischen würde. Aber erstmal schauen, ob Merz da wirklich ernst macht.
Es heißt, in modernen Kriegen gibt es nur Verlierer, aber Verlierer, weil ihr Ruf Schaden nimmt, sind doch etwas besser dran als Verlierer ohne Strom in Ruinen.
Jetzt hat Scholz das Vertrauensvotum jedenfalls tatsächlich verloren. Es war natürlich bereits abzusehen. Mal schauen, wie und wann es nun weitergeht.
Ich frage mich vor allem immer noch was sich die FDP von dem ganzen Debakel verspricht.
In der letzten INSA Umfrage lag sie bei gerade mal 5%. gelohnt hat sich die Sabotage der Ampelregierung scheinbar nicht.
Die Zufriedenheit ihrer Kernwählerschaft. Aber gibt es die überhaupt noch? Dass die mehr als 200 Jahre alte liberale Idee imzwischen weniger Anhänger hat als das dahergelaufene BSW ist selbstverschuldete Unmündigkeit.
Mich schockt ja am meisten, dass die AfD bundesweit mittlerweile bei 19,5 Prozentpunkten liegt. Um welche Ideen geht es da eigentlich? Ist das reiner Protest oder doch wieder Deutschland den Deutschen?
Die Russen seien uns näher als die Amerikaner, heißt es bei ganz rechts und ganz links. Dabei gilt das nur für Kaviar und Coca Cola.
Mag sein. Ich würde aber sagen, dass sowohl politisch wie gesellschaftlich die Unterschiede zu Russland und den USA doch ziemlich groß sind. Russland ist autoritär und unterdrückt Grundrechte, während die USA von extremer Polarisierung und starkem Individualismus geprägt sind. Deutschland setzt dagegen mehr auf sozialen Ausgleich und kollektive Verantwortung – wirklich nah ist uns da keiner von beiden.
Die USA werden seit Trump allerdings auch autoritärer und Deutschland dafür polarisierter. Es gleicht sich also doch alles irgendwie an.
Wie gleich wir ‚Volksgenossen‘ untereinander sind, ist doch auch sehr die Frage. Die Kirche oder die Hitler-Jugend oder die kommunistische Partei haben die Unterschiede immer wegzubügeln versucht. Heute klappt das nicht mehr so gut. Alle Italiener essen Spaghetti und alle Japaner Sushi? Umgekehrt stimmt auch.
Tolle Neuigkeiten, lustiger Teaser und (auch wenn es sehr oberflächlich ist) ein schon mal sehr ansprechendes Cover.
Über Leben, über Leben? Da bin ich auch gespannt mehr zu erfahren.
Ich habe auf der Produktseite zum neuen Buch gesehen, dass es diesmal sogar ein Hörbuch geben wird. Ihre Veröffentlichungen werden wirklich immer aufwendiger und vielseitiger!
Ich lese ja gern, aber beim Autofahren ist zuhören wohl weniger ablenkend.
So geht es mir auch. Als Hörbücher kommen bei mir aber meistens auch nur die Bücher in Frage, die ich sonst wahrscheinlich nicht lesen würde. Die „wichtigen“ lese ich immer noch lieber „richtig“.
Ich lese gerade Slotterdijks ‚Der Kontinent ohne Eigenschaften‘. Mit all den vielen Fremdwörtern und langen Sätzen – schwierig im Straßenverkehr! Da würde ich wohl beim Zuhören rechts und links verwechseln und die Ampel übersehen.
Vor Jahren habe ich mich mal an einem Jelinek-Hörbuch während einer langen Autofahrt versucht. Das hat mich auf Dauer auch etwas überfordert.
Auch bei Vorlesungen ist das Zuhören nicht immer einfach, aber dabei braucht man dann wenigstens nicht auf den Gegenverkehr zu achten.
Das Leben im Augenblick klingt verlockend, bis man merkt, dass er so schnell vergeht, dass man kaum mitbekommt, dass er überhaupt da war. Ihn zurückzuholen ist dann meist enttäuschender, als ihn einfach ziehen zu lassen.
Vielleicht sollte man sich gar nicht so viele Gedanken darüber machen – der Augenblick kommt, vergeht, und das ist doch völlig in Ordnung. Nicht jeder Moment muss festgehalten werden.
Nein, und die Erinnerung lügt manchmal.
Die Erinnerung ist wirklich ein Meister der Täuschung – sie macht schöne Momente oft noch schöner, als sie waren, und schiebt unangenehme Erlebnisse gerne in die hinterste Ecke. Egal, ob wir verklären oder verdrängen, die Wahrheit bleibt irgendwo auf der Strecke. Aber solange es nur um unsere eigenen Erinnerungen geht, ist das vielleicht auch richtig so.
Die Wahrheit ist nicht immer erfreulich, und alles wissen muss man auch nicht. Wagners Charakter ist mir egal, wenn ich seine Musik höre. Nur: wenn man aus der Vergangenheit lernen will, dann muss man sich ihr stellen.
zu „Aber was soll ich Ihnen viel über all das erzählen, was Sie sowieso wissen?“
Vielleicht genau deshalb – weil wir viele Dinge zwar theoretisch wissen, aber im Alltag oft vergessen. Manchmal braucht es jemanden, der uns daran erinnert, die Perspektive zu wechseln, innezuhalten oder nachzudenken. Ihre Bloggedanken regen oft dazu an, sich mit dem auseinanderzusetzen, was wir als selbstverständlich hinnehmen.
So geht es mir beim Schreiben auch.
Nichts ist gefährlicher als eine langweilige Zukunft – außer vielleicht eine Vergangenheit, die so spektakulär ist, dass die Zukunft nur wie das Prequel aussieht 😉
Schulmeisterlich könnte man sagen: Langweilig gibt es nicht, wenn man die Dinge richtig betrachtet. Langweilig ist man höchstens (sich) selber.
Wer sich selbst langweilig wird, kann sich ja mal vorstellen jemand anderes zu sein. Vielleicht hilft das ja. Die ein oder andere neue Einsicht kommt wohlmöglich gleich dazu.
Sich vorzustellen, Reinhold Messner zu sein, ohne selbst auf den Mount Everest zu klettern, wird vermutlich keinen großen Erlebnisgewinn bringen.