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Sonntagspredigten

Betrifft: So etwas wie ‚Freiheit‘

Liebe Leserinnen und Leser,

‚Born free,
as free as the wind blows,
as free as the grass grows,
born free to follow your heart […]‘


Der Song von John Barry und Don Black aus dem Jahr 1966 wurde über 600-mal gecovert, unter anderem von Frank Sinatra und Tina Turner.

‚Frei geboren!‘

Wer glaubt das? – Weder der Kronprinz noch die uneheliche Tochter der Bettlerin ist frei geboren noch irgendwer dazwischen. Man ist Tochter von Hippie-Eltern oder Sohn eines Unternehmer-Ehepaares. Man soll antiautoritär aufwachsen, ohne Zwang, und hat es dann später schwer im Leben, weil man so herrlich unangepasst ist; oder man soll im Bewusstsein aufwachsen, die Nachfolge des Patriarchen anzutreten: Verwöhnt wird nicht – gestöhnt wird nicht! Der Sohn muss die Linie fortsetzen und dabei möglichst den Ruhm steigern. Denkt der Vater. Vom Gottesgnadentum bis zur Vorhersehung. Oder man bekommt Geschenke oder gar Schläge statt Zuneigung. Oder man wird im Waisenhaus darauf gedrillt, später mal nicht zu stören. Oder man hat die richtigen Eltern im richtigen Stadtteil, aber trotzdem ein verkorkstes Innenleben: keine Freunde, keine Zuversicht. Warum? Oder es gibt einen angeborenen Fehler im Erbgut: im Bewegungs-, im Verdauungsapparat.

Oder man hat keine dieser Behinderungen und fühlt sich ‚frei‘. O Gott! Was macht man dann? Ist das nun Bestimmung oder Aufgabe? Man weiß ja: nicht frei ‚von‘, sondern frei ‚zu‘. Moralische Menschen (Vererbung/Umwelt?) sehen sofort ihre Aufgabe darin, auch den Rest der Menschheit zwischen ihrem Stadtteil und den Fidschi-Inseln zu befreien. Egoistische Menschen (Vererbung/Umwelt) sehen mehr ihre sexuellen oder finanziellen Möglichkeiten und begeben sich in die Abhängigkeit von Lust oder Kapital.

Da gibt es die vermeintlichen und echten Visionäre wie Hitler oder Elon Musk. Sind die frei? – Eher Getriebene. Weniger Anspruchsvolle sind frei, wenn sie sich in ihrer Traumwelt verlieren: mit Fantasie oder mit Drogen. Der Politiker ist Diener seines Staates, sagt er. Der Nihilist ist Sklave seiner Weltanschauung.

Sind die Grundbedürfnisse erst mal befriedigt, dann ist Freiheit in hohem Maß Einstellungssache. Alles sagen können? – Das wünscht man sich dort, wo Zensur herrscht. Im Internet stößt es auf heftige Kritik. Alles tun können? – Das geht nur auf der einsamen Insel, auf der sich niemand belästigt fühlt. Alles kaufen können? – Das erzeugt Neid, ohne glücklich zu machen. Trotzdem: Vieles sagen, tun, kaufen können – das ist schon ganz schön frei. Eine Ausbildung zu haben, die einem selbstständiges Denken und umfassende Berufswahl ermöglicht – viel freier geht nicht. Ein Menschheitsziel.

Mit Tempo 210 und Gangster-Rap im Radio betrunken über die Autobahn zu rasen ohne Angst, ohne Unfall, ohne Verkehrskontrolle, das fühlt sich bestimmt auch sehr frei an. Freiheit wird für die Massen in Hymnen proklamiert und ist doch ein ganz subjektives Empfinden. Der eine hat frei gelebt bis zum Freitod unter dem Dach, die andere hat für die Freiheit gekämpft bis zur Hinrichtung unter dem Fallbeil. – Zwei mögliche Enden.

Im Blog dagegen geht die Geschichte einfach weiter, weder betulich noch bedrohlich. Doch bald wird es sich entscheiden: Gewinnt oder verliert der Held seine Freiheit? Die Antwort können sich die Lesenden am Ende der Erzählung überlegen.

Ich frage mich das jetzt schon,
Hanno Rinke

Hamburg, 17.10.2021



Bild mit Material von Shutterstock: Christian Mueller (Hintergrund), François-Guillaume Ménageot – ‚Das Martyrium des Hl. Sebastian‘/Wikimedia Commons/gemeinfrei/public domain

9 Kommentare zu “Betrifft: So etwas wie ‚Freiheit‘

  1. Gerade das Internet ist doch ein Ort, wo man nun wirklich alles sagen kann. Abgesehen von volksverhetzenden Aussagen etc. natürlich. Ob das ungewollte Konsequenzen hat, nun ja, das ist noch einmal etwas anderes.

    1. Das ist ja oft der Witz an der Sache. Da beklagen sich, vor allem Populisten, auf Facebook oder sogar im Fernsehinterview, dass sie nicht sagen dürften was sie wollten. Dabei könnten sie keine größere Plattform haben.

    2. Aktuell geht es ja meistens eher darum, dass man aufgrund einer ‚falschen‘ Aussage ‚gecancelled‘ wird. Man darf demnach dann sagen was man möchte, ist aber sehr leicht Persona non grata. Ob dem wirklich so ist, darüber kann man natürlich auch streiten.

  2. Freiheit kann ja am ehesten jemand schätzen, der auch das Gegenteil kennengelernt hat. Da ist die DDR, wie sie im Eremiten und den Erinnerungen des Jungen vorkommt, ein gutes Beispiel.

  3. Tempo 210 kann sicher ein Gefühl von Freiheit bieten. Das verstehe ich schon. Aber andererseits, wer so etwas wirklich braucht(!) um sich frei fühlen zu können, der sollte ja auch mal ein wenig an sich arbeiten.

    1. Auch wenn es in Deutschland kein generelles Tempolimit gibt, die Strecken auf denen man wirklich so schnell fahren kann halten sich ja in Grenzen.

      1. Das Tempolimit in Deutschland ist von den Grünen ja bereits als verhandelbar kategorisiert worden. Im Gegensatz zur Position der FDP. Alle Freiheitsraser können also davon ausgehen, dass sie auch weiterhin den Motor laufen lassen können.

      2. Ist ja egoistisch, aber wenn der Fahrer auf den wenigen Strecken ohne Baustelle und Geschwindigkeitsbeschränkung das Gaspedal zwischen Hamburg und Holzkirchen mal durchtreten kann, macht mir das auf dem Nachbarsitz großen Spaß.

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