Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Meine Freundin Anette beanstandet immer, meine Texte seien zu lang, oder sie beanstandet, meine Texte seien immer zu lang. Man müsse eigentlich immer streichen in ihnen. Also, wenn ich mich hinsetze und den ersten Satz tippe, dann denke ich im Allgemeinen: Dieses Mal kriege ich die Seite aber nicht voll! Und wenn ich unterschreibe, waren es doch wieder drei (Seiten).
Dabei versuche ich durchaus, mich an die Aufforderung von Georg Christoph Lichtenberg zu halten – ich glaube, dass er es war, der das sagte, auch wenn ich bei meiner versuchten Nachprüfung nicht fündig geworden bin: Rede immer nur so lange, bis du an dem Punkt bist, an dem die Kenntnisse deiner Zuhörer ausreichen, um den Fortgang zu wissen, und setze erst dort wieder ein, wo du etwas für sie Neuartiges beizutragen hast. Wie gesagt, das Original zu dieser Anleitung habe ich nicht mehr gefunden und versucht, es in Lichtenberg-Deutsch zu reanimieren. Mit genderfordernden Zuhörerinnen war er noch nicht konfrontiert; und ich? Um zu behaupten, das Sprachrezept stamme von mir, bin ich zu eitel. Mit fremden Federn müssen sich nur nackte Vögel schmücken. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich dieses Gebot überhaupt befolge. Wenn mir eine – wie ich finde – interessante Formulierung zu einer ganz alltäglichen Tatsache einfällt, werde ich schwach wie andere Verführbare bei Kartoffelchips oder Kokosflocken. Ein neues Wort schafft auch einen neuen Zugang, rede ich mir ein, oder einen neuen Abgang oder Ausgang: Bei den zwei Wörtern ‚totes Tier‘ isst man ein Filet doch ganz anders als bei den vier Wörtern ‚das Beste vom Rind‘. Im zweiten Fall sehe ich den Bullen glücklich auf der argentinischen Pampas Gras mampfen, bevor sein Bestes hierhergeflogen wurde, falls ich nicht meinem Gegenüber so interessiert lausche, dass ich meinem Mundinneren sowieso keine Beachtung schenke; im ersten Fall kaue ich neugierig auf dem Bissen herum und warte auf mein schlechtes Gewissen.
War diese Information neu genug, um aufgeschrieben zu werden? Man will ja nichts verkehrt machen. Allerdings: Wokeness sei im Abwind, freuen sich die Unwoken. Ich habe mir diesen Hut sowieso nie auf die Glatze gesetzt. Der schwarze George Floyd ist vom weißen Derek Chauvin fahrlässig getötet worden. Harvey Weinstein ist als Sexualstraftäter überführt worden. Floyd wurde zum Märtyrer stilisiert, Chauvin und Weinstein wurden zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Das ist nicht zu beanstanden, aber der Zeitgeist saß mit auf der Geschworenenbank und lief erregt durch die Straßen. Was vor fünfzehn Jahren womöglich noch weithin unbemerkt geblieben wäre, wurde zu den MeToo- und Black-Lives-Matter-Bewegungen hochgepuscht. Beides verständlich und richtig, und doch stört mich der heuchlerische, verlogene Zungenschlag, den ich bei den selbstgerechten Vertretern der Massenbewegung herauszuhören meine. Vielleicht bin ich auch bloß zu alt oder zu abgebrüht für überbordende Erregung. Ich mag die von allen Seiten bedrängten Israelis nicht als Völkermörder beschimpfen und ihre Waren boykottieren. Ich bin für Abtreibung, Sterbehilfe, Cannabis-Legalisierung, Taurus-Lieferungen an die Ukraine, Lockerung der Schuldenbremse, hübsche, kleine Atomkraftwerke, mir ist die eigenmächtige Gender-Identität von Leuten, mit denen ich nicht ins Bett will, egal, und ich weiß nicht, was, also wen ich am 23. Februar wählen soll. Eigentlich wollte ich jetzt über die erstaunliche Karriere von Lichtenberg schreiben und darüber, wofür er – zu seinen Lebzeiten unerwartbar – später berühmt geworden ist, und das hat nichts mit dem gleichnamigen Berliner Stadtteil und der dort früher ansässigen Stasi-Zentrale zu tun, aber die Seite ist voll. Ich mache Schluss hier: für Anette.
Euer immer noch lernwilliger
Hanno Rinke
Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH
Was interessant geschrieben ist, wird nicht langweilig 🤷🏻♂️
Eben. Es gibt ellenlange Romane, in denen nicht wirklich viel passiert, und man kann sie trotzdem nicht aus der Hand legen. Andere Bücher scheinen vollgestopft mit Handlung und Information und man langweilt sich trotzdem zu Tode.
Tja, man will irgendwie nichts verkehrt machen. Aber schlimmer und more cringe ist es meistens, wenn man alles richtig machen will.
Büschen kurz, aber wie immer amüsant, intelligent und macht Lust auf mehr und immer wieder! Weiter so und danke, dass es überhaupt weitergeht ! Schönen Sonntag noch, meiner ist es schon!
Was, oder wen ich am 23. Februar wählen soll, weiss ich ebenfalls nicht. Dabei würde ich so gerne mit Herzen und Überzeugung gegen die AfD wählen.