Liebe Leserinnen und Leser,
‚Zeitgeist‘ und ‚Lebensgefühl‘, das waren meine Begriffe. Beeinflusst habe ich die herrschenden Zustände nicht, aber ich habe in ihnen gebadet und ich habe beim Spiel im Casino des Daseins meine Chips im Sinn von Bourdieu eingesetzt: mein ökonomisches, mein soziales, mein symbolisches und mein kulturelles Kapital. Ich war gut ausgestattet. In der Wahl meiner Eltern hatte ich keine pränatalen Fehler begangen und später in der Abfolge meiner Ausbildungen auch nicht.
Schon bei Herder hatte das Wort ‚Zeitgeist‘, als er es 1769 einführte, etwas Einschränkendes. ‚Der Zeitgeist regiert also, wo traditionelle normative Orientierungen und Verhaltensstandards fehlen‘1, erläuterte Hermann Joseph Hiery noch 2001. Das traf auf mein postkatholisches Weltbild durchaus zu, und ich liebte diesen Zustand als persönliche Freiheit.
Das ‚Lebensgefühl‘ gilt Moralisten als die kleine Schwester des ‚Zeitgeistes‘ und als noch ehrloser, sofern es nicht um das seit Auden philosophisch ausdeutbare und dadurch rehabilitierte ‚Zeitalter der Angst‘ geht, sondern um ‚Rap‘ und ‚Sushi‘. Aber genau das war meine Welt. Nur hieß das bei uns damals stattdessen ‚Disco-Pop‘ und ‚Saltimbocca‘. Die soziale Abgrenzung war – absichtslos? – gewährleistet. Wir trugen Krawatten, nicht Klamotten, und wir reisten in die liebenswerte Toskana, nicht in die beliebigen Touristenparadiese. Ich habe meine Biografie als Popmusik-Führer geschrieben und als Kochbuch (ohne Rezepte, nur mit Lokalitäten und Ereignissen). Schließlich habe ich sogar eine Stiftung gegründet, die dazu beitragen will, das, was wir sind, und das, was wir tun, in angemessene Worte zu fassen.
Früher sah ich die Welt und ihre Metropolen real, jetzt beobachte ich sie allenfalls auf dem Bildschirm. Damals Fakt, heute Film. Hautnahes ist nicht mehr drin, und so hätte ich inzwischen trotz all meiner guten Voraussetzungen das Lebensgefühl, außerhalb von Zeitgeist und Lebensgefühl zu existieren, gäbe es nicht meine Internetadresse. An die schicken mir Zeit-Phänomene bedienende Organisationen gern Aufmunterungen zu, die mich zwar nicht bei der Stange, aber doch informiert halten.
Pro Idee empfiehlt mir ‚stylische Tischwäsche aus recycelten Jeans‘ und ‚das Wohlfühl-Geheimnis feinster Bambusfaser‘. Tommy Hilfiger belästigt mich nassforsch, wenn auch ausrufezeichenlos: ‚Neue Jeans-Styles sind da. Suche deine Lieblingsjeans und zieh sie nie wieder aus.‘ Happy Socks macht mich traurig: ‚Die 90er sind zurück! Mit einer 3er-Pack-Geschenkbox mit Socken aus extra weicher und luftiger gekämmter Baumwolle, kannst du dich in die guten alten Zeiten zurückbeamen.‘ – Mein Gott, in den Neunzigern war doch meine Glanzzeit schon vorbei, und das wird jetzt bereits als Neobarock wieder aufgewärmt?
Das GQ Magazin – der Kategorie ‚Lifestyle’ zutiefst verpflichtet – nennt zwanzig Läden zwischen Taiwan und Los Angeles, in denen man unbedingt vorbeischauen sollte. In Deutschland gibt es nur einen. In Berlin: den VooStore. Auszüge aus der Begründung: ‚Betrachten Sie die Auswahl bei Voo als Ihre Eintrittskarte ins Berghain: Designermarken, Streetwear-Marken und die neuesten Sneaker-Releases. Wie ist der Vibe? Voo liegt in einem Innenhof in einem Industriegebäude, das entrümpelt und mit cooler Kleidung gefüllt wurde. Mit einem hauseigenen Café und einem unschlagbaren Kiosk voller Indie-Modezeitschriften ist Voo nicht nur eine Boutique, sondern auch Treffpunkt der Berliner Modeszene.‘
Genug Gegenwart! Von heute an werde ich Ihnen bis weit in den Sommer hinein mein Lebensgefühl ‚Berlin 2000‘ anbieten. Dabei wünsche ich mir, dass Ihnen meine Aufzeichnungen nicht von allen guten Zeitgeistern verlassen vorkommen werden. Und ich bin da sogar ziemlich zuversichtlich: Eine Ablenkung vom verstörenden Jetzt, dreimal in der Woche, ist ein legitimes Bedürfnis, das sogar tiefschürfende Menschen haben dürfen.
Aufgemuntert und selbst aufmunternd,
Hanno Rinke
Quelle: 1 Auszug aus dem Vorwort zu ‚Der Zeitgeist und die Historie‘, Dettelbach, 2001/s. Wikideck;
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)
Betrifft: Putin, der SchrecklicheBetrifft: Denkanstößigkeiten
Berlin 2000 klingt super. Der Neunziger-Boom lässt doch mittlerweile eh wieder nach…
Ich freu mich darauf. Es geht mir eh nicht um einen tagesaktuellen Reiseführer, sondern um Ihre Beobachtungen und Gedanken. Die sind auch 2022 relevant.
Man kann ja gar nicht genug Ablenkung vom verstörenden Jetzt haben!
es ist wirklich deprimierend jeden morgen die nachrichten zu lesen. das einzige was mir ein wenig hoffnung macht ist, dass die ukraine so unglaublich mutig und beherzt gegen die russen ankämpft.
In meinem Freundeskreis finden manche die ukrainische Gegenwehr unvernünftig. Ich bewundere das. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Aber wieso denn unvernünftig? Was sollte man tun? Die russische Invasion einfach hinnehmen?
Es geht wahrscheinlich um die Abwägung wie viele Menschenleben der fortwährende Kampf noch kosten wird. Aber unter einer russischen Diktatur zu leben scheint für die Ukrainer keine Alternative zu sein. Ich kann das verstehen.
Die Menschen dort kämpfen um ihr Leben und ihre Freiheit. Vernunft ist da glaube ich nicht das richtige Argument.
Wenn die Franzosen nicht 1789 unvernünftigerweise die Basille gestürmt hätten, regierte heute noch Louis XXVII.
Voo ist schon ganz schick, aber wer extra shoppen gehen muss um ins Berghain zu kommen, ist dort eh fehl am Platz.
Ob der Berliner Voo Store wirklich der lohnenswerteste Laden Deutschlands ist? Naja.
Ob das Berghain der geeignetste Ort ist, die Nacht zu verbringen, sieht der Abgewiesene draußen vielleicht verheißungsvoller als der Raver drinnen.
Wahrscheinlich kommt es wieder darauf an welche Erwartungen man an die Nacht hat. Nicht jeder muss ins Berghain, nicht jeder muss zu Voo. Das ist ja das Interessante wenn man neue Menschen kennenlernt.
Und welche Menschen man kennenlernt, hängt sehr davon ab, wohin man sich begibt.
Ja keine Frage.
‚Rap‘ und ‚Sushi‘ muss doch eigentlich auch schon wieder passé sein. Was hört und isst man denn 2022 eigentlich? Sind Synthwave und Beyond Meat Burger auch schon wieder vorbei?
Den jeweiligen Modetrends hinterherzulaufen, gilt als dämlich. Sie zu kennen, ist nicht verkehrt. Sie sagen etwas aus über Zeit und Ort. Angesichts der Ereignisse in der Ukraina treten allerdings Phänomene wie Purple Disco Machine und Food pairing etwas in den Hintergrund.
Man merkt durch diese ständigen Schreckensnachrichten jedenfalls wieder sehr deutlich wie gut es uns in Deutschland verhältnismäßig geht. Was für ein Luxus sich über Food und Wine Pairings Gedanken machen zu dürfen. Man sollte das alles nicht zu selbstverständlich nehmen.