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2010
Sonntagspredigten

Was uns anzieht und was uns abstößt

Liebe Leserinnen und Leser!

Sex zieht meistens Unappetitlichkeiten nach sich, wobei ich nicht mal an die Spätfolgen einer blut- und schleimintensiven Geburt denke, sondern bloß an das, was nach dem Orgasmus – den gab’s doch hoffentlich? – die Leiber verunreinigt. Essen ist natürlich schlimmer. Das führt ausnahmslos zu Unappetitlichkeiten. Von allem, was oben gegessen wird, muss unten etwas raus. Ob das nun im Mund Kaviar oder Knäckebrot war, spielt für Gaumen und Leber noch eine Rolle. In der Kloschüssel nicht mehr. Mich hat es immer beschäftigt, dass das, was die Menschen am meisten beschäftigt, mit Ekel verbunden ist.

Statt Essen und Sex kann man auch Menü und Erotik sagen oder Kartoffelsalat und Erbfolge. Dann ist der Ekel bis zur Unkenntlichkeit übertüncht. Im Gespräch. Die Geschlechts- bzw. Ausscheidungsorgane bleiben, wenn es um den konkreten Vollzug geht, unbetroffen von den netteren Bezeichnungen für die unsaubere Wirklichkeit. Dabei verdrängen wir das Unangenehme an allem, was mit Ernährung und Fortpflanzung zu tun hat, noch wirkungsvoller, als wir das Ausblenden von Sterben und Tod verdrängen. Das werde ausgelagert in Kliniken und Hospize, wird von Systemkritikern bemängelt, die uns lieber frühzeitiger unglücklich hätten. Na ja: Nachdenklichen Menschen über 80 kommt die Vergänglichkeit auch in hochzivilisierten Konsumgesellschaften schon mal in den Sinn. Mir passierte das bereits ab dem fünften Lebensjahr: Da weinte ich eines Morgens im Bett. Warum?, wurde ich gefragt. – Weil meine Eltern vor mir sterben würden, war meine Antwort. War das nun sehr altruistisch? Die armen Eltern müssen sterben! Oder sehr egoistisch? Die sind weg, und was wird aus mir? Die Unterscheidung, was Eigennutz und was Menschenliebe ist, fiel mir immer schon sehr schwer. Besonders bei Mutter Teresa. So bald würde das ja noch nicht sein, wurde ich von Frau Otto damals getröstet, und sie behielt recht. Meine Eltern kamen wohlbehalten aus ihrem Côte-d’Azur-Urlaub zurück und wurden beide 92.

Essen, Kleidung, Vermehrung. Alles, was damit zusammenhängt, hat als Notwendigkeit angefangen und es bis zu Kunstformen gebracht: Haute Cuisine, Haute Couture, Pornografie. Die ausgefeilte Küche liegt nicht jedem, auch für extravagante Kleidung sind nicht alle zu haben. Noch schlimmer ergeht es dem Geschlechtstrieb. Jede Sexualpraktik, für die man selbst keine Vorliebe hat, findet man ausgesprochen ekelhaft. Gegenüber fremder Menschen Sexualverhalten Gleichmut zu bewahren, solange niemand anderes dadurch geschädigt wird, ist eine ziemlich neue, ziemlich westliche Errungenschaft. Was ich nicht selber mitmachen, nicht mal ansehen muss, das geht mich nichts an. Toleranz gelingt deshalb am besten dort, wo man nicht so genau hinschaut: Kotzen darf jeder! Hauptsache, ich muss es nicht wegwischen. – Eine sehr moderne Auffassung von Moral. Um aber auch alles andere, was stört, so wenig wie möglich mitzubekommen, werden große Anstrengungen unternommen, seit Menschen sesshaft wurden.

Kleidung soll nicht nur schützen und verhüllen, sie dient seit langer Zeit auch dazu, körperliche Mängel zu kaschieren. Parfüm gab es schon in den alten Hochkulturen Ägyptens und Indiens 1500 Jahre vor Christus. Das erste WC allerdings stellte der englische Klempner George Jennings erst 1851 im Hydepark in London aus. Ab Ende des 19. Jahrhunderts kam es allmählich in die Haushalte der Großstädte. Wer ist so konservativ, dass er vor Klospülung und Toilettenpapier gelebt haben möchte? Am liebsten erst ab 1959, als im Westen Deutschlands das weiche Tissue-Papier eingeführt wurde. In China wurde eine Art Abwischlappen zwar schon im Jahr 589 erwähnt, aber ich traue der Qualität nicht. Noch als ich in den 1980er-Jahren in Moskau war, fand ich immer, das Klopapier hatte die Saugkraft von Alu-Folie. Und überhaupt: Wie die Leute früher ohne Dusche und Zahnbürste gestunken haben müssen – mir ist völlig schleierhaft, wieso es da überhaupt zu Fortpflanzungen kam.

Dass Gott die Stellen für den Sex und für die Entsorgung von Unrat so dicht nebeneinandergelegt hat, habe ich ihm schon übel genommen, als ich noch an ihn glaubte. Inzwischen denke ich, als Gott mit dem Kopf, dem Geist und der Seele fertig war und auch Arme und Beine funktionstüchtig hinbekommen hatte, sagte er zum Teufel: „Mir reicht’s jetzt. Das da in der Mitte, das mach du mal!“

Besonders fromme Christen glauben das noch heute,

glaubt Ihr Laienprediger
Hanno Rinke



Grafik mit Material von: freepik/freepik (Jeans links) | freepik/drobotdean (Jeans rechts)

64 Kommentare zu “Was uns anzieht und was uns abstößt

  1. Ich las gerade Sex verunreinige die Leber. Aber es geht wohl doch nur um die Leiber. Ich glaube ich trinke erstmal einen Kaffee…

    1. Tatsächlich starker Tobak zum Sonntagmorgen. Mit dem Thema hatte ich auf einem Literaturblog erstmal nicht gerechnet. Ich ekel mich deswegen zwar nicht gleich, aber ich lese trotzdem lieber von anderen Dingen.

      1. Dabei geht es doch in der Hälfte aller Romane in der ein oder anderen Form um Sex 😉

  2. Oder: Toleranz gelingt doch am besten dort, wo man schon einmal hingeschaut hat. Meistens ist es doch (nicht unähnlich zu Ausländerfeindlichkeit oder Homophobie) die Angst vor Fremdem, die uns ekeln lässt.

    1. Oft geht’s doch nur um einen oberflächlichen Ekel, der eigentlich wenig mit den Dingen selbst zu tun hat. Es sind halt gesellschaftliche Prägungen, die uns so reagieren lassen – wenn die mal wegfallen, ist plötzlich vieles viel normaler, als man dachte.

      1. Das sind ja auch nur Floskeln. Wenn man selber furzt stört es keinen, bei anderen ist man entrüstet.

      2. Angeblich galt es noch zu Luthers Zeiten als unhöflich, wenn man bei Essenseinladungen keine Rülpser und Flautolenzen von sich gab.

      3. In China rülpst und schmatzt man laut Reise-Knigge auch nach wie vor wenn es einem schmeckt. Über die Handhabung von möglicherweise auftretenden Blähungen bin ich nicht informiert.

      4. Bei den China-Besuchen unserer Regierung scheinen mir andere Fragen vordringlicher.

      5. Die Bundesregierung setzt weiterhin stur auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China, obwohl die wachsende Abhängigkeit wirklich alarmierend ist. Gerade nach den Erfahrungen mit Russland sollten wir dringend alternative Handelsbeziehungen stärken, um nicht wieder in eine politische Sackgasse zu geraten.

      6. Die Situation zwischen auf dem Rückzug befindlichen USA und auf dem Vormarsch befindlichen China ist schwierig für Europa. So, wie es mal war, wird es nicht wieder.

      7. Europa braucht dringend eine klare Strategie, um in dieser neuen Machtbalance nicht unterzugehen. Aber Scholz und Baerbock scheinen wirklich weder besonders entschlussfreudig noch visionär zu sein.

      8. Eine ‚werteorientierte‘ Außenpolitik ist gutherzig, wird aber als Bevormundung empfunden, gerade wenn sie von ehemaligen Kolonialisten gepredigt wird. Das Lieferkettengesetz bewirkt weniger, dass es den Menschen im globalen Süden besser geht, als dass die Betriebe aus dem globalen Norden abwandern. Leider.

    1. Das kommt wohl ganz darauf an, in welchem Freundeskreis man die Frage stellt. Nach der Sonntagsmesse in Münster wäre die Antwort anders als beim Brunch in Neukölln.

      1. Ich habe mal eine Dokumentation geschaut, in der man sah wie sie den Kranken jegliche Medikamente verweigerte, weil Christus ja auch gelitten habe. Als sie selbst erkrankte soll das dann nicht mehr relevant gewesen sein. Sie kam wirklich nicht sonderlich sympathisch rüber.

      2. Ich kann nicht sagen, was da stimmt und was nicht. Aber selbst wenn Mutter Theresa ihre Fehler hatte, das wird doch sicher mit all dem Guten aufgewogen, das sie in ihrer Laufbahn für die Menschen geschaffen hat.

      3. Was Dschigis Khan und Iwan der Schreckliche geschaffen haben, wird ihnen auch positiv angerechnet.
        „Nicht der Erfolg, sondern die Treue im Glauben ist wichtig.“, sagte Teresa und wurde selig gesprochen. Zur Verleihung des Friedensnobelpreises sagte sie über die Abtreibung: „Der größte Zerstörer des Friedens ist heute der Schrei des unschuldigen, ungeborenen Kindes.“ Von wie vielen Kindern, einschließlich Trump, wünschte ich mir, sie wären abgetrieben worden?! Und ob die zum Sein-müssen-Verdammten überhaupt leben wollen, hat sie auch niemand gefragt. Selbstbestimmung? Weder beim Geborenwerdenmüssen noch beim Sterbendürfen.

      4. Zum Punkt von Anja Haake:
        „Es ist etwas Schönes, Arme zu sehen, die ihr Schicksal akzeptieren und es wie Christus erleiden. Die Welt gewinnt so viel von ihrem Leiden.“
        Da braucht man doch eigentlich nichts hinzufügen.

      5. Nein. Aber man kann: Die Seliggesprochene hat Schwerkranken mit derselben Begründung Schmerzmittel verweigert: „Unser Herr Jesus hat auch gelitten!“

  3. Tja, Sex zieht meistens Unappetitlichkeiten nach sich und doch ist es eines der Themen, die uns einfach nicht loslassen. Schon interessant, oder?

      1. Schrecken Sträuben
        Wehren Ringen
        Aechzen Schluchzen
        Stürzen
        Du!
        Grellen Gehren
        Winden Klammern
        Hitzen Schwächen
        Ich und Du!
        Lösen Gleiten
        Stöhnen Wellen
        Schwinden Finden
        Ich
        Dich
        Du!

  4. Was für ein absurder Gedanke, dass Systemkritiker uns „frühzeitiger unglücklich“ sehen wollen, nur weil sie Missstände ansprechen! Natürlich lagern wir nicht alles aus, weil wir es einfach verdrängen wollen. Es geht darum, Menschen in schwierigen Situationen bestmöglich zu unterstützen – ob bei der Geburt oder am Lebensende. Das hat nichts mit Verdrängung zu tun, sondern mit Fürsorge und Professionalität. Den Wunsch nach einem reflektierten Umgang mit Leben und Tod als Absicht zur Unglücksförderung hinzustellen, ist schon etwas zynisch.

      1. Der nachfolgende Satz, dass nachdenklichen Menschen über 80 die Vergänglichkeit in den Sinn kommt, deutet sanft in diese Richtung.

    1. Da muss ich daran denken, dass ich irgendwann mal ein Portrait von einer Frau gesehen habe, die sage und schreibe 800 verschiedene Sorten Toilettenpapier gesammelt hat…

      1. Na, wenigstens war bei ihr nie die Angst da, dass das Papier mal knapp werden könnte – pandemiesicher!

      2. Sie selbst nutzt ausschließlich das Bidet. Sie will doch ihre Sammlung nicht dezimieren.

  5. Abstoßend fand ich erst den Gedanken an die Fortpflanzung vor Erfindung der Seife. Aber man war die Gerüche wohl einfach nicht anders gewöhnt.

      1. Der Geruchssinn muss ja bei Sammlern und Jägern eher ausgeprägter gewesen sein als bei uns. Hunde riechen viel besser als wir und ekeln sich viel weniger. Wie sehr sich der Geruch von verdorbenem Mammut vom Eigenduft der Mitesser unterschied, mag ich mir gar nicht ausmalen.

      2. Am Ende war es der Duft von verdorbenem Mammut, der die ersten Parfüm-Ideen inspiriert hat. Aber davon abgesehen, In Island isst man doch auch dieses verrottete Walfleisch, oder vertue ich mich?

      3. Schwedisches Surströmming erinnert auch an das Erbrochene von Bauern, die fraßen, was sie nicht kannten.

      1. Die sind ja eigentlich ähnlich tabu und meistens auch weitaus schwieriger loszuwerden.

  6. Man kann dem lustigen Gedankenspiel kaum widerstehen, der Schöpfung eine gewisse Unvollkommenheit anzudichten. Man könnte meinen, dass genau diese Nähe von Widersprüchen – das Schöne und das Unangenehme – Teil des größeren Plans ist. Vielleicht geht es nicht darum, den Teufel für die ‚Unannehmlichkeiten‘ verantwortlich zu machen, sondern zu erkennen, dass das Leben selbst voller Gegensätze ist, die uns menschlich machen. Wenn man den Glauben verliert, verliert man oft auch das Gespür für den Sinn, der in dieser Dualität steckt.

    1. Der Teufel steckt halt im Detail. Darum befürchten Ungläubige ja auch, dass es ohne die hiesige Dualität im Himmel ein wenig langweilig werden könnte: Requiem aeternam eben.

      1. Man kann wirklich nur hoffen, dass im Jenseits ordentlich was los ist. Eine ewige Öde haben die meisten nicht verdient.

      2. Die ewige Öde kann schon auf Erden vorbereitet werden. Der entsprechende Chip im Leib sorgt dann für permanentes Glück im Hirn, egal was (nicht) passiert.

  7. Während Essen und Kleidung tatsächlich kulturell verfeinert wurden, bleibt Pornografie oft eher eine reine Ware als eine Kunstform. Im Vergleich zu echtem Sex geht es weniger um Nähe oder Intimität, sondern um schnelle Reize. So wirkt es eher wie eine Verwässerung als eine Veredelung.

    1. Pornos sind eher wie die Mikrowelle des Sex – nicht wirklich intim, aber hey, manchmal hat man einfach keine Zeit für ein ganzes Dinner!

      1. Auch beim Snack kann man Blini mit Kaviar von der Currywurst unterscheiden. Wenn also der Sex etwas ausgefeilter dargeboten wird, nennt man ihn in der Literatur und im Kino nicht mehr Pornografie, sondern Kunst.

      2. Wie bei Blini und Currywurst liegt die Bewertung oft im Auge des Betrachters – Geschmack ist eben subjektiv.

      3. Das Problem ist die Wertung: Das Andere ist dann nicht bloß ‚anders‘, sondern ’schlecht‘. Toleranz befindet sich im Abwind.

      4. Toleranz hat sich gewandelt. Heute sind die Ansprüche höher und Grenzen strikter – viele sehen im Andersdenken nicht mehr Bereicherung, sondern Bedrohung. Früher hieß Toleranz, andere Meinungen stehen zu lassen, heute oft, sie auszuhalten.

      5. Dreinhauen macht manchen aber nach wie vor mehr Spaß als stehenlassen. Und wenn das sogar anonym im Netz geht, sinken die Hemmungen noch weiter.

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