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Sonntagspredigten

Betrifft: A nicht mehr und Z noch nicht

Liebe Leserinnen und Leser,

mal sind die Anfänge schöner, mal die Enden. Manche essen gern Kalbskopf, andere bevorzugen Hummerschwänze. Hitler mochte den 1. September 1939 lieber als den 30. April 1945, vermute ich mal. Bei Churchill war es genau umgekehrt, bin ich mir sicher.

Geboren zu werden ist ein Schock, auch für solche Säuglinge, die sich nicht ganz so vehement gegen das Auf-die-Welt-Kommen wehren, wie ich es tat. Danach wird es meistens besser. Aber zum Schluss? Das Ende ist nur selten ein Helden- oder Liebestod. Oft ist es kläglich oder barbarisch. Das Schönste wäre, Selbstmord zu begehen am Ende einer ausgelassenen Party oder eines weihevollen Hochamts, indem man sich in Luft auflöst. All die Paradiese als Heilsversprechen sind ja nur dazu da, den Lebenden den Übergang ins Wegsein schmackhafter zu machen.

Kaum jemand möchte den ersten Liebesrausch gegen eine noch so gütliche Trennung eintauschen, das fiebernde Hoffen gegen das abgeklärte Wissen. Als die ersten Corona-Meldungen aus China kamen, war das ein Anfang, der zunächst keine große Besorgnis erregte. Das Ende der Pandemie mit Freedom-Days zu feiern scheint angesichts der wirklichen Lage vermessen.

Die Jugend hat einen besseren Ruf als das Alter – vor allem bei alten Menschen, die ihre Jugend verklären. Goethe lässt Faust ausrufen: „Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehn!“1 Diese Unbedingtheit ist eigentlich eher ein Kennzeichen der Jugend als die eines alternden Faust. Aber er ist halt einer, der ‚immer strebend sich bemüht.‘ So war ich auch, damals: weiter, immer weiter! Jetzt hätte ich nichts dagegen, wenn geeignete Augenblicke stehen blieben. – Ein Vorgeschmack von Ewigkeit.

Früh schon malte ich mir den Moment als den schönsten aus, in dem ich Durst haben werde, das gefüllte Glas vor mir auf dem Tisch: Wenn Hoffnung in Gewissheit übergeht, Sehnsucht in Erfüllung. Die Erfüllung selbst trägt schon den Schluss in sich. Wie erstrebenswert wäre ein Leben ohne Anfang, ohne Ende, die ewige Mitte? Ist so das Universum? Für uns ist das nicht vorstellbar. Das Gleichbleibende gibt es nicht, weil wir der Zeit unterliegen. Was es gibt, sind Überraschungen: eine abgewählte CDU, eine geimpfte Wagenknecht. – Alles möglich.

Es gibt vielversprechende Anfänge mit fatalen Entwicklungen und desaströse Anfänge mit glimpflichem Ausgang. Kassandra ahnt bereits zu Beginn den schrecklichen Ausgang, und Hans im Glück wähnt sich bei jedem Verlust reicher. Weder Fatalist sein noch Fantast. Weder abgebrüht sein noch naiv. Auf das Schlimmste vorbereitet zu sein und das Beste nicht auszuschließen – so wollen wir uns der neuen Regierung und dem weiteren Verlauf unseres Lebens stellen.

In meinem Blog beginnt heute ein neues Projekt. Menschen, die sich vorher nie begegnet sind, treffen aufeinander. Für fette Happy Ends fehlt es mir an Rührseligkeit, die den Augenblick verherrlicht, aber mit einem positiveren Ausblick als in der vorigen Geschichte vom Eremiten darf man rechnen.

Im selben Jahr 1972, als ich diese Begegnungen schrieb, komponierte ich das Lied von ‚Anfang und Ende‘. Vielleicht ein angemessener Einstieg.

Auf vieles gefasst,
Hanno Rinke





1Quelle: Auszug aus ‚Faust – Der Tragödi erster Teil‘ von Johann Wolfgang von Goethe
Cover mit Material von Julian Hochgesang/Unsplash (Auto) und Shutterstock: Rejean Bedard (Möwe), Alliance Images (Frau), stockyimages (Mann), Vereshchagin Dmitry (Kreuzfahrtschiff), steamroller_blues (Collie)

25 Kommentare zu “Betrifft: A nicht mehr und Z noch nicht

  1. Der Selbstmord nach einer ausgelassenen Partynacht schaffen die allerwenigstens. Weil wir ja doch unersättlich sind. Wir wollen immer mehr und mehr und mehr…

      1. Haha! Wer allerdings immer mit dem Hintergedanken flirtet, dass vielleicht noch was/wer Besseres kommt, der flirtet bestimmt nicht besonders überzeugend.

      2. Gerade habe ich gelesen, es sei durch Tests bestätigt: je größer die Auswahl desto unzufriedener der Mensch. Wahrscheinlich waren die Kinder mit Erdbeer-, Schokolade-, Vanille-Eis früher nicht weniger glücklich als heute mit allem von Avocado-Kiwi bis Zucchiniblüten-Mango. Man muss eben beides beherrschen: abwarten und zugreifen.

      3. Das klingt auch logisch. Wer nicht weiss was er noch alles haben könnte ist sicher eher zufrieden als der, der ständig sieht was noch alles zur Auswahl steht.

      1. Haha, ja das wäre die Königsdisziplin. Die meisten Menschen, die sich in Luft auflösen, tauchen allerdings irgendwann doch wieder auf. Selbst Carole Baskins ‚ermorderter‘ Ex-Ehemann.

  2. Nicht jedes Neugeborene leidet unter einem Geburtstrauma. Der Schock stellt sich aber manchmal noch im späteren Lauf des Lebens ein, wenn man mit Unverständnis auf seine Mitmenschen blickt.

      1. Das Wort Schock ist sicher übertrieben. Aber wer sich von einer Situation geschockt zeigt ist das ja auch im seltensten Falle wirklich klinisch gesehen.

      2. Wir gehen davon aus, dass die Medien-Gesellschaft gern schockiert ist, um sich kurz zu ereifern und dann auf den nächsten Schock zu warten.

  3. In my beginning is my end. In succession
    Houses rise and fall, crumble, are extended,
    Are removed, destroyed, restored, or in their place
    Is an open field, or a factory, or a by-pass.
    Old stone to new building, old timber to new fires,
    Old fires to ashes, and ashes to the earth
    Which is already flesh, fur and faeces,
    Bone of man and beast, cornstalk and leaf.
    Houses live and die: there is a time for building
    And a time for living and for generation
    And a time for the wind to break the loosened pane
    And to shake the wainscot where the field-mouse trots
    And to shake the tattered arras woven with a silent motto.

    In my beginning is my end. Now the light falls
    Across the open field, leaving the deep lane
    Shuttered with branches, dark in the afternoon,
    Where you lean against a bank while a van passes,
    And the deep lane insists on the direction
    Into the village, in the electric heat
    Hypnotised. In a warm haze the sultry light
    Is absorbed, not refracted, by grey stone.
    The dahlias sleep in the empty silence.
    Wait for the early owl.

    In that open field
    If you do not come too close, if you do not come too close,
    On a summer midnight, you can hear the music
    Of the weak pipe and the little drum
    And see them dancing around the bonfire
    The association of man and woman
    In daunsinge, signifying matrimonie—
    A dignified and commodiois sacrament.
    Two and two, necessarye coniunction,
    Holding eche other by the hand or the arm
    Whiche betokeneth concorde. Round and round the fire
    Leaping through the flames, or joined in circles,
    Rustically solemn or in rustic laughter
    Lifting heavy feet in clumsy shoes,
    Earth feet, loam feet, lifted in country mirth
    Mirth of those long since under earth
    Nourishing the corn. Keeping time,
    Keeping the rhythm in their dancing
    As in their living in the living seasons
    The time of the seasons and the constellations
    The time of milking and the time of harvest
    The time of the coupling of man and woman
    And that of beasts. Feet rising and falling.
    Eating and drinking. Dung and death.

    Dawn points, and another day
    Prepares for heat and silence. Out at sea the dawn wind
    Wrinkles and slides. I am here
    Or there, or elsewhere. In my beginning.

      1. Anfang und Ende. Das scheint mir doch eine recht klare Antwort auf Rinkes Chanson zu sein, nicht?

  4. „Weder Fatalist sein noch Fantast. Weder abgebrüht sein noch naiv. Auf das Schlimmste vorbereitet zu sein und das Beste nicht auszuschließen – so wollen wir uns der neuen Regierung und dem weiteren Verlauf unseres Lebens stellen.“

    Manchmal muss man doch klar Stellung beziehen und anecken um die Gemeinschaft zum Wohle zu zwingen. Nur auf Mittelwege kann man sich nicht einigen. Manchmal wär mir mehr Mut in den politischen Entscheidungen lieber. Mit Mittelwegen haben wir die höchste Impfverweigerer-Quote Europas gezüchtet!

    1. Beim Schreiben und bei meinen Forderungen bin ich gern radikal. (Man kann es lesen.) In der Praxis bin ich zahmer. Die Demokratie schläfert leider häufig eher ein, als dass sie aufrüttelt. In Merkels Suppe war nie viel Tabasco. Schonkost für deutsche Mägen.

      1. Merkel war meistens recht langweilig. Trump wäre mir aber auch zu nervenaufreibend. Ich beschwere mich also erstmal nicht weiter.

      2. Ist das der Grund warum die neue Ampel Cannabis legalisieren will? Um die Bevölkerung zu beruhigen weil es die nächsten Jahre keine Schonkost mehr geben wird?

      3. Hoffentlich kommt das durch. Ich bin Nichtraucher, kenne aber Canabis ganz gut. Es wird Zeit, das Kraut zu entdämonisieren. Bestimmt ist es bekömmlicher als Wodka.

      4. Ich fände es auch an der Zeit. Das Verbot ist doch eh nur Symbolpolitik. Alkohol- oder Nikotinsucht sind weitaus gefährlicher und verbreiteter.

      5. Der Koalitionsvertrag steht ja nun. Jetzt bleibt es nur abzuwarten was die drei Parteien wirklich zustande bringen können. Bzw. ob sie sich doch wieder gegenseitig Steine in den Weg legen.

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