Liebe Einzelne, liebe Gemeinde!
Einen Körper hat jeder, sonst gäbe es ihn nicht. Der Mensch, zumindest er, hat – jedenfalls im Unterschied zu Steinen – obendrein etwas, das Geist oder Seele genannt wird. Vieles kann der Geist über seine Materialisierung in Hirn beeinflussen: die Augen durch Schließen, die Lunge durch Atmen. Bei den Nieren klappt das nicht. Wie schnell der Urin in meiner Blase ankommt, bleibt mir nicht selbst überlassen, und wie viel Sperma meine Prostata freigibt, auch nicht. Aber normalerweise lässt der Körper den Geist gewähren, lässt sich stählen oder vernachlässigen und hat oft ziemlich viel Geduld.

Der Geist kann – bisher – ohne den Körper nicht überleben, was der Körper, weil er keinen Geist hat, ja nicht wissen kann. Also zwickt er dann und wann eben doch mal. Die Seele dagegen schlägt sich mit der Frage herum, ob sie existiert, und wenn ja, ob sie unsterblich sei. Da jeder von uns viele, viele Vorfahren hat, haben sich schon viele Seelen mit dieser Frage beschäftigt und damit, wie sie anderen Seelen bei der Beantwortung behilflich sein und gleichzeitig davon selbst profitieren können, denn einfach nur stattfinden, ohne zu fragen, ohne zu klagen, ohne zu hadern, das ist uns doch zu wenig. Tiere können das vielleicht, Menschen nicht. Das Bewusstsein! Ist es göttlich? Die Notwendigkeit, das zu erörtern, wurde überall da virulent, wo es Menschen gab, und so entstanden die Religionen.
In der Gegend, die unter dem Begriff ‚Abendland‘ geläufig und verschrien ist, fing man in der Renaissance damit an, sich über das Phänomen ‚Gott‘ vom Glauben unabhängige Gedanken zu machen. Durch Luther rückte erst mal wieder die Frage in den Vordergrund, wie man Gott am besten diene. Der Papst fand natürlich: über ihn. Luther fand das nicht. Im weiteren Zeitverlauf stellten sich dann aber die, die lieber dachten als beteten, die klammheimliche Frage, was es denn wohl mit jeder Art von Gott überhaupt auf sich habe. Kaum jemand war dabei so massentauglich wie Marx. Bei seiner Kritik an Hegel scheute Marx sich nicht mal, einen Zusammenhang zwischen Religion und Opium zu behaupten. Rein philosophisch natürlich.
Der französische Physiker Laplace hielt Gott für eine Hypothese. Eine unnötige, wie er meinte. Das war Anfang des 19. Jahrhunderts. Etwa hundert Jahre später erklärte Sigmund Freud die Religion zum Auslaufmodell und prognostizierte, ‚diese allgemein menschliche Zwangsneurose‘ werde schon mit zunehmendem wissenschaftlichen Weltverständnis verschwinden.
Irrtum!
Laut Statista gibt es weltweit ca. 2,4 Milliarden Christen. Das Christentum hat in den zurückliegenden Jahren etwa einhundert Millionen Anhänger dazugewonnen, der Islam als noch zweitgrößte Weltreligion rund dreihundert Millionen.1, 2 In einer Studie des Pew Research Center3 wurde in den zehn größten muslimischen Staaten die Bindung an den Koran untersucht. Demnach wünscht die weit überwiegende Mehrheit der Befragten in sieben Staaten die Scharia als Gesetz. Die Abkehr vom Islam sei mit dem Tod zu bestrafen (die Hälfte der Länder), und es gilt mit 85 bis 96 Prozent die Auffassung, dass die Frau ihrem Mann immer gehorchen müsse. Mein Gott! Der Anschlag in Australien hat gerade wieder gezeigt, was religiöser Wahn für die Menschheit bedeutet. Hinduismus und Judentum haben auch zugelegt, falls das jemanden interessiert. (Falls es nicht interessiert, ist es trotzdem so.)
Needless to say, also zu betonen, dass all diese Weltanschauungen im ‚Abendland‘ rückläufig oder fast nicht vorhanden sind. Den Artikel eines Besorgten aus der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ kann man sogar bei Instagram nachlesen. Da steht: ‚Das Christentum ist nicht nur ein Glaube, sondern auch eine Kultur, in der sich grundlegende Werte Europas spiegeln. Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit.‘ Das stimmt ganz sicher. In Glaubensfragen hilft es aber nicht weiter.
Geglaubt zu haben und nicht mehr glauben zu können – das ist ein Verlust, auch für den, der sich einredet, stolz darauf zu sein. Ein Verlust, denn Himmel und Hölle verschwinden genauso wenig wie die Hoffnung auf Erlösung und die Furcht davor, dass sie nicht stattfinden wird. Wir wissen, dass wir Gott weder beweisen noch das Gegenteil beweisen können. Ein Gemeinplatz. Sokrates wird zugeschrieben: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘ Ist die Einsicht, dass mir Einsicht unmöglich ist, eine höhere Einsicht? Ja, das lässt sich hübsch schreiben, ist aber eigentlich egal.

Das Licht hat zwei Gegensätze: den ästhetischen – die Dunkelheit – und den ethischen – die Finsternis. Ist das eine Feststellung oder eine Einsicht? Wortgeplänkel oder Wahrheit? Einsicht führt zu etwas. Hoffen wir. Was bewirkt im Dezember 2025 die Einsicht, dass die Aussichten zurzeit schlecht sind? Nicht nur Pessimisten denken das. Was tun? Auf die Straße gehen, (gewaltfrei) kämpfen, resignieren – alles möglich, alles erlaubt. Alles können, nichts müssen: Das ist das Paradies. Alles wollen, nichts dürfen: Das ist die Hölle. So ungefähr lautet das liberale Evangelium.
Wenn ich den altmodischen Engeln der Heiligen Nacht zwischen Andacht und Dominosteinen einen moderneren Mephisto zugesellen möchte, dann rede ich so:
„Freisein ist wie Glücklichsein eine vorübergehende Erfahrung, und sie wird wie alles als zu positiv Erlebte von Gott geahndet. Zwar gibt es ihn nicht, aber trotzdem verwaltet er das Paradies. Er hat ja mehrere verbotene Bäume und straft nicht nur die Erkenntnis (durch Leugnung, Missachtung, Entsetzen), sondern auch die Lust, die Freiheit und das Glück: durch die schlimme Macht seiner Nebengöttin – der Gewöhnung. Neurologisch, psychologisch, soziologisch lässt sich das erklären. Es geschieht durch die ausbleibenden Hormonausschüttungen, Wohlempfindungen oder Anteilnahmen. Der imaginäre Gott lacht sich ins unvorhandene Fäustchen. Er gewinnt schon deshalb, weil er gar nichts zu besiegen hat, und selbst diese Einsicht hat er den Menschen madiggemacht durch seine glänzendste Erfindung: mich, den Teufel!“
Weder ist das eine Weihnachtsbotschaft, noch bin ich ehrgeizlos genug, euch mit dem üblichen Quatsch zu langweilen, der um die Adventszeit auf der Straße und am Bildschirm verbreitet wird. Ursprünglich hatte ich die Absicht, in diesem Beitrag meine ‚Einsicht‘ über das Wesen des Menschseins zu transportieren und ihn ‚Im Unterschied zu Steinen‘ zu nennen. Aber da hätte das Lesen zu lange gedauert. Ihr müsst doch alle noch einpacken, auspacken, kochen, essen, Ausreden erfinden, Wahrheiten und Heucheleien ertragen und außerdem, wenn möglich, vergessen, wie seelisch schlecht euch im Oktober wurde, als euch die ersten Weihnachtsmänner aus dem Regal entgegengrinsten. Klingt alles furchtbar, lässt sich aber trotzdem genießen. Jedes Jahr.
Wir schaffen das!
Euer Kanzelredner
Hanno Rinke

Quellen:
1, 2 Statista/Anzahl der Christen, Statista/Anzahl der Muslime
3 Pew Research Center
Grafiken: Kl-generiert via Midjourney | Video: H. R. Privatarchiv/Produktion: ALEKS & SHANTU

Manches klingt furchtbar, vieles sogar. Aber trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die all das gar nicht zu kümmern scheint. Beneidenswert.
Ist Gleichgültigkeit beneidenswert?
Wer dem Glauben gegenüber gleichgültig ist, geht ja nicht unbedingt komplett gleichgültig durchs Leben.
Wer gleichgültig ist, leidet wohl weniger, regt sich weniger auf, bleibt unbeschadet. Gleichzeitig zahlt man dafür aber einen Preis: Man wird auch von den guten Dingen weniger berührt. Ich würde das nicht wollen.
Gleichgültigkeit ist nicht erstrebenswert, Gelassenheit ja.
Die Zahlen zu Religion und Glauben sind beeindruckend. Es ist verrückt, wie stark der Mensch an etwas Höheres glaubt, selbst wenn wir alles Wissen der Welt auf uns einprasseln lassen.
Ich bin eher überrascht als beeindruckt. Ich dachte immer die Anzahl der Gläubigen ist rückläufig.
In Europa, ja. Aber Europa ist nicht mehr die Welt …
Und simultan mit dem Erstarken der Religion erstarkt die KI. Schon absurd.
Zahlen hin oder her – dass Religion weltweit wächst, zeigt einfach, wie sehr Menschen nach etwas Größerem suchen. Logik hat da oft wenig zu melden.
Ein Freund von mir, war, bevor wir uns kannten, im Kloster gewesen, um Mönch zu werden. Eines Tages ging er zum Abt und sagte: „Ich kann das nicht. Mein Glaube ist nicht stark genug.“ Der Abt, der die Überzeugungskraft meines Freundes schätzte, antwortete ihm: „Nicht du sollst glauben. Die anderen sollen glauben.“ Mein Freund ist dann doch ausgetreten und hat mir die Geschichte so erzählt. Ich glaubte ihm.
Na, die Idee, dass man wissen kann, dass man nichts weiß, fühlt sich zwar erstmal paradox an. Gleichzeitig ist es aber ein bisschen befreiend: Man darf Fehler machen, darf zweifeln und muss nicht alles erklären.
… sucht aber weiter nach Erklärungen.
Zumindest eines kann man mitnehmen: Humor macht die ganzen existenziellen Fragen ein Stück leichter erträglich.
Ohne geht es nicht, keine Frage.
Humor inmitten existenzieller Fragen ist Gold wert. Lachen über Gott, Teufel und die Nebengöttin macht das Nachdenken leichter 😉
Ich schwanke noch, ob Humor eine Gabe ist oder Humorlosigkeit eine Krankheit.
Die Beschreibung von Freiheit und Glück als flüchtige Erfahrungen trifft es meiner Meinung nach ziemlich genau. Oft spürt man sie nur für kurze Momente, und trotzdem sind diese Augenblicke entscheidend dafür, dass das Leben lebenswert bleibt. Dass sie vergänglich sind, macht sie nicht weniger wertvoll – im Gegenteil, vielleicht sogar kostbarer.
Freisein oder glücklich sein nur als kurze Momente zu erleben, fühlt sich sehr echt an. Manchmal reicht ein Augenblick, um alles andere zu überstrahlen, und danach merkt man erst, wie sehr man diese Momente schätzt.
Hmm. Ich frage mich dabei eher, ob diese Kürze nicht auch etwas Grausames hat. Ein Moment genügt, um alles hell zu machen – und genau dadurch wird spürbar, wie schnell es wieder dunkler wird. Vielleicht sind diese Augenblicke weniger Belohnung als Erinnerung daran, was möglich wäre. Man trägt sie dann mit sich herum, vergleicht den Alltag unwillkürlich mit ihnen und merkt, dass sie Maßstäbe setzen, die sich kaum halten lassen. Trotzdem würde man sie nicht missen wollen. Ohne diese kurzen Überstrahlungen wäre das Leben wahrscheinlich gleichmäßiger, aber auch ärmer.
Etwas Grausames… Wölfe sind nicht ‚grausam‘. Ist Gott es? Dass man am Glück schnuppern darf, muss reichen. Unendliches Glück ist wohl nur mit Sonde im Hirn möglich.
Wahrheiten, Heucheleien und wahrscheinlich viele Streitigkeiten. Eine Frohen 4. Advent in die Leserrunde.
Ein bisschen gutes Essen und ein unterhaltsamer Fernsehabend sind – mit oder ohne Kerzenschein – auch möglich.
Wotan Wilke Möhring im Tatort begeistert doch nach wie vor die ganze Familie. Haha.
Körper und Seele leben offenbar in einer Art Zweckgemeinschaft. Der Körper will durchhalten, versorgt werden, möglichst ungestört funktionieren. Die Seele hingegen stellt Fragen, zweifelt, verlangt nach Sinn und nach Bedeutung. Oft redet sie dem Körper rein, zwingt ihn zu mehr, als ihm guttut, während der Körper die Seele durch Müdigkeit, Schmerz oder Lust wieder auf den Boden holt. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich nicht auflösen. Es bleibt ein ständiges Ringen darum, wer gerade das Sagen hat, und tja, vielleicht ist genau das der Preis dafür, ein Mensch zu sein.
Gleichzeitig wirkt es manchmal unfair: Die Seele sehnt sich nach Sinn und Freiheit, während der Körper einfach nur überleben will.
Ob der Körper etwas will, kann man ihn nicht fragen. Nicht mal seine Reaktionen – auf Drogen, bei Autoimmunkrankheiten – sind eindeutig. Aber wenn der Geist den Körper nicht belasten, z.B. durch Sport, belastet der Körper den Geist, z.B. durch Unbeweglichkeit.
Manchmal wünschte ich, die Seele könnte mal stillhalten. Dann würde der Körper einem den Tag nicht ständig auf den Kopf stellen 😉
Nicht jede Seele ist zappelig. Aber für Grabesstille wäre es mir ohnhin zu früh. Ausgewogenheit wäre schön. Erlernbar?
Einen schönen 4. Advent allerseits!
Inzwischen kann man ja schon ‚Schöne Weihnachten!‘ wünschen. Dreimal werden wir noch wach …