Liebe Leserinnen und Leser!
Kein Geheimnis: Ich liebe die Sprache als Ausdrucksmittel. Sie kann besser differenzieren als Mimik, wenn man es versteht, mit ihr umzugehen, und sie kann auch besser verschleiern. Politiker vermeiden es geschickt oder unbeholfen, auf Fragen zu antworten, und geben stattdessen lieber Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden. Das weiß ich und lächle. Was mich aufregt, sind diese dämlichen nachbohrenden Fragen: Werden Sie kandidieren? („Das wird auf dem Parteitag beschlossen!“) Stimmen Sie dem Kanzler zu? („Wir sind uns in der Partei einig, dass …!“) Vom Ukraine-Krieg bis zu den Schutzzöllen gegen China hoffe ich doch inständig, dass in der Diplomatie sehr vieles passiert, worüber nicht öffentlich gesprochen wird. Das Volk hat nicht das Recht, alles zu wissen, es hat ja noch nicht mal das Recht, von überflüssigen Informationen verschont zu bleiben.
Sagen kann man viel. Zu viel. Niemals schreibe ich auf, was nicht jeder wissen darf, niemals eine E-Mail mit kompromittierendem Inhalt. (Dass ich mir nicht besonders schnell kompromittiert vorkomme, merkt man an meinem Blog.) Seit meine wissbegierige Mutter meinem unversteckten Tagebuch entnahm, dass ich mir was aus Männern mache, lasse ich meinen Gedanken freieren Lauf als meiner Schreibsucht. Ich will selbst bestimmen, was ich wann öffentlich mache, und da finde ich mich schon ziemlich offenherzig, na ja, jedenfalls offen, wenn auch nicht herzig.
Schriftliches schadet oder macht zumindest einen ungünstigen Eindruck, wenn der Kanzler seine Wut vom Teleprompter abliest, und es verringert sogar die Wahlchancen, wenn die FDP-D-Day-Pyramide von der ‚ZEIT‘ ans Tageslicht gezerrt wird. Was ich denke, merkt keiner; was ich sage, kann ich leugnen oder relativieren; aber was ich aufgeschrieben habe, damit kann man mich festnageln, wenn es rauskommt. Da führen gelüftete Geheimnisse von Liebesbriefen oder Umsturzplänen rasch mal zu Vorhaltungen oder Hinrichtungen. Beides unbequem.
Dass ständig Politiker in Skandale verwickelt werden, nicht bloß, weil eine heimliche sexuelle Eskapade aufgedeckt wird, sondern weil sie etwas aufgeschrieben haben, was ihnen zum Verhängnis wird, das verstehe ich beides nicht. Wenn ich mich entschließe, eine öffentliche Person sein zu wollen, dann können andere Wünsche in dieser Zeit eben nicht erfüllt werden. So ist das nun mal, und von einer unbeobachteten Privatperson wie mir ein ziemlich naiver Vorschlag, denn er setzt voraus, dass diese Leute nicht blöd sind. Sind sie aber. (Oder geil. Oder korrupt.) Denen, die nicht erwischt werden, möchte ich das nicht unterstellen: Es gilt die Unschuldsvermutung. Tut sie nicht. Sie befindet sich zwar im Text des Grundgesetzes, aber nicht in den Köpfen der Bürger. Die fühlen sich bereits bei ihrer Würde ziemlich angetastet. ‚Respekt‘ solle das ausgleichen, sagte Olaf Scholz, als er die erste Kanzlerwahl noch vor sich hatte und nicht die Antwort auf die Vertrauensfrage schon hinter sich. Einfach zuzugeben „Ich bin dafür nicht geeignet. Ich lasse es lieber!“, hat das jemals jemand freiwillig gemacht? Kaiser Wilhelm nicht, Joe Biden nicht, René Benko nicht. Außer Papst Benedikt fällt mir da niemand ein. Und wer von vornherein weder große Lust noch genügend Mut dazu hat, Kanzler zu werden, der sagt keinesfalls „Ich kann das nicht!“ oder „Ich will das nicht!“, sondern: „Ich stehe nicht zur Verfügung.“ Da kann die SPD dann zusehen, woher sie ihre Stimmen bekommt oder wie sie abschmiert.
Ich denke, wenn mir etwas ganz und gar wichtig ist, dann stelle ich alles andere hintan. Dann verlasse ich Frau und Kind, um fürs Vaterland zu kämpfen oder einer betörenden Frau zu erliegen, dann lasse ich Nebenbuhler umbringen, um Drogenboss zu werden, dann gehe ich ins Kloster, um in den Himmel zu kommen, dann lasse ich mich vom Produzenten ficken, um eine Filmrolle zu ergattern. Ist alles so. Aber nicht nur. Ich weiß auch, dass es Ausschließlichkeit nicht gibt. Die bringt erst der Tod. Wenn ich am liebsten Staatsoberhaupt bin, geht meine Neigung zu ganz jungen Mädchen mit der Ernennung zum Präsidenten ja nicht weg, und ich, der ich ich bin und diese Neigung überhaupt nicht teilt, hätte ein diebisches Vergnügen daran, ihn, der er er ist, bei einer Verfehlung zu erwischen und anzuprangern, ganz besonders, wenn er einer Partei angehört, die ich nicht wähle.
Geheimnisse sind die Grundlage vieler Romane und Filme. Wenn sie aufgedeckt werden, wird es komisch oder tragisch. Da gibt es die Geheimnisse, die auf alle Fälle unter dem Deckel gehalten werden sollen. Dafür wird gelogen und gemordet. Im Theater schon bei Sophokles, im Kino und im Fernsehen heute erst recht, weil das so ein gängiges Tatmotiv ist, das alles erklärt, ohne dass sich der Autor weitere Beweggründe ausdenken muss.
Und dann gibt es die Geheimnisse, die darauf warten, aufgedeckt zu werden. Beliebt ist der Fall der Sekretärin, die den Chef an seinem Geburtstag nach Hause begleitet, weil dessen Frau verreist ist. Das soll sich natürlich nicht herumsprechen, findet er. Vor dem Glas Sekt am Kamin will sie sich nur kurz ‚frisch machen‘. Er zieht sich schon mal aus, und als er nackt ist, fliegt die Flügeltür zum Esszimmer auf: „Überraschung!“ Da steht die gesamte Abteilung, um zu gratulieren.
Ein besonders aufsehenerregendes Geheimnis bleibt die Frage, wie erwachsene Menschen lange Zeit Folgendes glauben konnten: Eine im neunten Monat schwangere Frau läuft (wie sonst?) die 150 Kilometer mit ihrem Verlobten von Nazareth nach Bethlehem. Na, vielleicht sitzt sie im Eselskarren. In Bethlehem ist kein Zimmer frei. Die Wehen setzen ein. Das Brautpaar sucht sich einen unverschlossenen Stall. Dort bekommt die Frau ohne fremde Hilfe und ohne Hygienemaßnahmen an der Nabelschnur ihr Baby, das sich etwa dreißig Jahre später ans Kreuz nageln lässt, um die bis dahin angefallenen Sünden der Menschheit zu sühnen. Findet Gott in Ordnung. Für zukünftige Erdenbürger ist allerdings das Wasser des Taufbeckens nötig, um von der Erbsünde befreit zu werden, die darin besteht, dass sich die Urahnen der Lebenden um Erkenntnis bemühten, statt tatenlos im Paradies abzuhängen. Wer das in Europa nicht glaubte, machte daraus fast zweitausend Jahre lang besser ein Geheimnis, weil ihm sonst Ausgrenzung, Folter oder sogar der Tod gedroht hätte.
Die Vorweihnachtszeit jetzt ist ja besonders zuständig für Geheimnisse: damit Heiligabend die Überraschung klappt! Früher habe ich das ganze Jahr über von meinen vielen Geschäftsreisen Geschenke mitgebracht. Immer das, was mir für den zukünftigen Empfänger passend erschien. Im Dezember musste ich dann nur noch einwickeln. Von der Lüftung des Geheimnisses erhofft sich der Geber Begeisterung, was der Empfänger natürlich weiß. Ich selbst bin nicht so wild auf solche Überraschungen, weil ich immer Angst davor habe, dass ich meiner Freude nicht in gebührendem Maße Ausdruck verleihen kann. Diese Befürchtung wird noch quälender, wenn ich das mir überreichte Ding furchtbar finde und mir meine Heuchelei nicht so richtig glaubwürdig vorkommt.
Euch wünsche ich, dass Eure Geschenke gut ankommen und Ihr das, was Ihr bekommt, lieben werdet. Und wenn eines von beidem – wider Erwarten – nicht so ist, soll es keiner merken: Es bleibt Euer Geheimnis.
Frohe Weihnachten!
Hanno Rinke
Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH
Ich bon zugegebenermaßen ganz froh, dass wir uns in meiner Familie nichts mehr zu Weihnachten schenken. Da spare ich mir die falsche Freude wenigstens.
Eine Zeit lang haben wir zu Weihnachten Geschenke nach Wunschliste gemacht. Das fand ich aber auch ziemlich blöd – da kann man sich doch genauso gut gleich selbst etwas kaufen.
Wenn andere es tut, kostet es natürlich weniger …
Hahaha, auch wieder wahr. Wobei man sich im besten Falle ja gegenseitig beschenkt 😆
Ärgerlich, wenn man was Hübsches verschenkt und was Doofes bekommt. Freunde auf ihre Schenkqualität hin antesten und auswählen!
Ich finde es viel schöner, etwas zu schenken, wenn man zufällig etwas Tolles sieht und dabei sofort an jemanden denken muss. Das fällt mir leichter, als aus Anlass oder zu einem festen Termin ein Geschenk zu suchen.
Die Spontanität macht mehr Spaß, aber die Anlässe sind so fucking verpflichtend.
Das wünsche ich Ihnen trotzdem alles auch. Und vor allem erstmal einen schönen 4. Advent.
Und zack, ist auf einmal Weihnachten. Eigentlich kein Geheimnis und trotzdem kommt es überraschend.
Für ‚Lindt‘ nicht.
Für den aufmerksamen Supermarktbesucher ja eigentlich auch nicht. Der sollte es seit spätestens Oktober wissen.
Wer Weihnachten nicht mitbekommen hat, kann seit September inur noch zwischen Bett un Klo hin und her gependelt sein.
Also, ich bin ja völlig bei Ihnen: Die Sprache ist ein mächtiges Werkzeug, besonders wenn man es schafft, ganze Fragen in Antworten zu verstecken, die gar nicht dazu passen. Ich übe das schon fleißig im Alltag. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt: ‘Hast du den Müll runtergebracht?’, antworte ich mit: ‘Wir sollten viel öfter über Nachhaltigkeit sprechen!’ Funktioniert erstaunlich gut.
Was das Schreiben angeht, bin ich weniger vorsichtig als Sie – vielleicht zu meinem Nachteil. Mein altes Tagebuch wäre heute wohl Material für Fremdscham-Workshops. Und ja, manchmal wünschte ich, Politiker würden weniger schreiben und mehr sagen, was sie wirklich meinen. Wobei: Vielleicht ist es besser, wenn manches unausgesprochen bleibt.
Fremdscham-Workshops und Cancel Culture sollte es gar nicht geben. Was in der Vergangenheit liegt sollte da auch bleiben. Jeder darf sich ändern.
Es kommt meiner Meinung nach drauf an. Aber ja, wenn es um Tagebucheinträge oder andere private Dinge geht, sollte das niemanden etwas angehen.
Und wenn jemand im Tagebuch über Mord oder Vergewaltigung schreibt?
Da mache ich einen Unterschied, ob es Wunschtraum oder Wirklichkeit ist.
Finde ich auch. Die Leute sollen denken dürfen was sie wollen, solange sie mich in Ruhe lassen. Es mordet ja nicht gleich jeder, weil es wild herum fantasiert.
Es veröffentlicht auch nicht jeder seine Tagebücher, bloß weil er im Gespräch bleiben will.
Ganz ohne Geheimnisse wäre es ja auch viel zu langweilig. Im Leben, selbst in der Partnerschaft. Wer will denn schon alles (alles!) wissen?
Hmmm. Ja das stimmt schon. Aber auch da kommt es ja drauf an worum es geht. Kleine Geheimnisse, klar. Sowas wie bei Gisele Pelicot eher nicht.
Kleine Geheimnisse gibt es eigentlich nicht. Unerwähnte Lappalien zählen nicht, aber je wichtiger mir jemand ist, desto mehr ist Offenheit eine Grundlage für Vertrauen.
Erwachsene Menschen glauben irgendwie alles wenn sie sich daraus eine Art Erlösung erhoffen. Nach zig Dokumentationen über verschiedene religiöse Sekten irritiert mich der Katholizismus überhaupt nicht.
Na, wundern kann man sich doch immer noch.
Ich wundere mich vor allem darüber, dass im Jahr 2024 (fast 25, aber da ändert sich so schnell wohl nichts) immer noch so viele Leute dran glauben.
Natürlich kann ich alles ’symbolisch‘ nehmen, aber was bleibt dann noch für die Wirklichkeit?
Bei Amerikanern höre ich oft „God first“ oder gar „I love you, Jesus“. Da wundere ich mich. Dann sehe ich wie die Mehrheit einen Präsidenten wählt, der offensichtlich noch nie in seinem Leben eine Bibel aufgeschlagen hat. Da wundere ich mich noch mehr.
Es ist traurig, dass Dummheit und Glaube so nah beieinanderliegen. Das das der Glaube nicht verdient.
Sind die beiden nicht sogar untrennbar miteinander verbunden?
Das traue ich mich nicht zu behaupten.
Wer zu viel verstecken will, stolpert irgendwann über die eigene Geheimniskrämerei.
… hoffen zumindest die, die nichts verstecken.
Ein herrlicher Text, der zeigt, wie vielschichtig Geheimnisse sein können – mal schwer wie ein Staatsgeheimnis, mal leicht wie Geschenkpapier 😉
Und genau diese Unterscheidung macht den Unterschied! Ob schwer wie ein Staatsgeheimnis oder leicht wie Geschenkpapier – unser Umgang und unsere Reaktion darauf sollten sich nämlich entsprechend anpassen. Das eine erfordert Nachdenklichkeit und Vorsicht (beim Geheimnisträger) und wohlmöglich Entsetzen oder gar Eskalation (beim Geheimnislüfter), das andere lediglich Vorfreude und ein Lächeln.
Ja! Hoffentlich wird es so auch immer erkannt.
Dass Politiker ständig in Skandale verwickelt werden, verstehe ich zwar auch nicht so richtig, aber ich finde gleichzeitig auch, dass am Ende nicht jeder „Skandal“ genügend Substanz hat. Vieles scheint mir von der Presse übertrieben.
Uui, ich finde fast eher, dass manche Skandale, die zunächst wie aufgebauschte Geschichten wirken, bei genauerem Hinsehen doch mehr Substanz haben, als man denkt. Vielleicht täuscht uns da manchmal die schnelle Empörungskultur.
Das Ärgerliche an der Verallgemeinerung ist, dass sie mal zutrifft und mal nicht.
😆
Diese nachbohrenden Fragen sind ja hauptsächlich dämlich, weil man vorab schon weiss, dass der Befragte nicht antworten wird. Wäre das Gespräch „Werden Sie kandidieren?“ – „Ja, das habe ich vor!“, dann sähe das anders aus.
Der Politiker könnte auch einfach sagen „Tut mir leid, darüber kann ich leider momentan noch keine Auskunft geben“ anstatt der Frage komplett auszuweichen und irgendeinen anderen Mist zu erzählen.
Diese Antwort wird sofort als unausgesprochens ‚Ja‘ gewertet und heizt die Diskussion erst recht an.
Dass es Ausschließlichkeit nicht gibt wird so oft vergessen. Gerade wo die Sozialen Medien am liebsten alles auf einen knackigen Slogan runter brechen wollen.
Diese Tendenz zur Vereinfachung ist halt verführerisch.
So war es schon immer. Nur sind die Marketing-Strategien komplexer geworden. Die Lebensumstände aber auch…
Na und genau da schließt sich der Argumentationskreis wieder. Je komplexer die Probleme unserer Zeit, desto lieber greifen wir zur schnellen Erklärung. Einfachheit erzielt eben mehr Likes und verkauft sich besser.
Die Furcht vor einfachen Erklärungen ist berechtigt, führt aber auch zu Verkomplizierung oder Tatenlosigkeit.
Ich wünsche Ihnen schon einmal einen ruhigen und gemütlichen Heiligen Abend und bedanke mich in einem für die vielen interessanten Texte in den vergangenen Wochen!
Da kann man sich nur anschließen.
Ich bedanke mich. Heilig Abend war wie zu erwarten.
Alles Liebe und meine besten Wünsche!
Hanno Rinke
Die Gäste sind auf dem Weg nach Hause, die Küche ist aufgeräumt, und das letzte Glas Rotwein neigt sich dem Ende zu. Mein Heiliger Abend war im besten Sinne unspektakulär. Ich wünsche Ihnen und allen Lesern besinnliche Feiertage!
Frohe Weihnachten Herr Rinke!
Fröhliche Weihnachten allerseits 🎄
Ein Frohes Fest auch von mir!
1.Feiertag. Das Christkind ist geboren, die Festessen gehen weiter. Allen einen harmonischen Jahresausklang und Zuversicht für 2025!
Viel Freude bei den ganzen restlichen Festessen, einen wunderbaren Start ins Jahr 2025 und viel Erfolg mit dem neuen Buch!
Frohe Weihnachten
Bevor die Familie kommt … auch meinerseits ein Frohes Fest und geruhsame (oder spannende, je nach Vorliebe) Tage bis zum neuen Jahr.
Und schon ist Weihnachten wieder vorbei. Für das neue Jahr wünsche ich mir vor allem weniger Geheimnisse und Überraschungen und dafür etwas mehr Ruhe und Ausgeglichenheit.