Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Wer die Wahl hat, hat die Qual. Wer allerdings keine Wahl hat, hat oft eine noch viel größere Qual. Weil nix da ist. Natürlich bin ich nicht so albern, die Bundestagswahl mit der Wahl eines Joghurts unter zwanzig Sorten im Regal zu vergleichen. Bei dem, was ich in den Einkaufswagen lege, weiß ich, was ich bekomme: 1 Kilo Weideglück Joghurt Stracciatella (‚hmm … so cremig‘) für 3,49 Euro zum Beispiel oder Müller Froop Pfirsich-Maracuja zu 1,88 Euro, aber nur 150 Gramm, also 12,53 Euro das Kilo. Da kann ich mich zwischen Preis und Geschmack entscheiden. An der Urne gelingt das nicht. Man weiß bereits vorher, dass man allenfalls eine Mischung bekommt, die man nicht bestellt hat, und kann schon froh sein, wenn es die Lieblingsstracciatella überhaupt bis ins Parlament schafft und nicht supercremig draußen bleibt.
Eigentlich wähle ich gern und informiere mich auch einigermaßen gründlich. Dass der Wahl-O-Mat mich irgendwie immer missversteht, enttäuscht mich zwar auch ein wenig, aber diese ganzen dümmlichen Wahlplakate, die einen sofort belästigen, wenn man die Wohnung verlässt, und die jede Stadt in eine Sondermüll-Anlage verwandeln – über die kann ich mich richtig aufregen. Ist wirklich jemand so blöd, sich von solchen Bildern und Sprüchen beeindrucken zu lassen? Psychologen sagen vielleicht: „Ja!“, ich hoffe: nein. Reine Geldverschwendung! Mit diesem Kapital könnte man sehr viele Waffen kaufen oder sehr viele Arme beköstigen (da sehen die unterschiedlichen Parteien unterschiedliche Notwendigkeiten). Ich würde diese ganze wahllose Zukleberei der Straßen verbieten, aber mich fragt ja keiner – und ab morgen wird das alles sowieso eingestampft.
Sich zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden ist nur eine Alternative. Es fuchst mich immer, wenn ich von ‚den beiden Alternativen‘ lese, denn das wären dann ja vier Möglichkeiten. Genauso stört es mich, wenn Leute (in Talkshows, wo sonst?) behaupten, etwas sei – wem auch immer – aufoktroyiert worden oder dürfe es nicht werden. Klingt das kompetent? – Nee. ‚Oktroyieren‘ bedeutet bereits aufdrängen, das zusätzliche ‚auf‘ ist für die Katz. Deren Pleonasmus – meine Pedanterie!
Ein Dilemma hat zwei Möglichkeiten, und im allgemeinen Sprachgebrauch gelten beide als schlecht. Wenn ich Die Linke wähle, werden meine Steuern erhöht, wenn ich die Rechte wähle, wird mir mein Joint wieder verboten, so als Beispiel für einen Interessenkonflikt. Ich habe aber auch die Möglichkeit, das Dilemma als einen moralischen Konflikt auszulegen: Sollen von meinen Steuern Hungernde mit ‚Weideglück‘ beköstigt werden oder will ich es mir selbst mit Marihuana etwas gemütlicher machen als ohne?
Neben dem negativen gibt es auch das positive Dilemma. Dafür steht Buridans Esel, der sich zwischen zwei gleich leckeren Heuhaufen nicht entscheiden kann und verhungert. Ideal ist die Wahl zwischen einer guten und einer schlechten Möglichkeit. Da hat man es einfach. Ärgerlich bloß, wenn man sich geirrt hat: Dann ist das Geld weg oder der Ruf oder die Liebschaft, schlimmstenfalls alle drei auf einmal. – Pech.
Wenn mir etwas oktroyiert wird, habe ich keine Wahl. Das wird nicht geschätzt. Dass man in den Lebensmittelgeschäften der DDR etwas gar nicht oder bloß alternativlos bekam, hat zum Fall der Mauer beigetragen. Zonen-Gabi freute sich auf dem ‚Titanic‘-Titelbild über ihre erste Gurke/Banane. Aldis breitgefächertes Angebot von Südfrüchten hat auf Anhieb Honeckers einseitige Auslegung von Marx übertrumpft. Rentner, die nichts mehr zum Bruttosozialprodukt der sozialistischen Volksgemeinschaft beitrugen, sondern dem klammen Staat nur lästige Kosten verursachten, diese Alten waren auch vorher schon gern in den Westen gelassen worden, und wenn sie dort gleich ganz blieben: umso besser. Eine Kollegin erzählte mir Ende der Achtzigerjahre von einer älteren Tante, die folgerichtig von Ost- nach Westberlin gedurft hatte und dort unbedingt im KaDeWe die Schlemmer-Etage sehen wollte. – Bekam ihr nicht. Sie brach überwältigt zusammen und musste abtransportiert werden.
Ein zu großes Angebot kann lähmen. Da wählt man gern einen, der diese ganzen lästigen Entscheidungen trifft. Der schmeißt alle anderen raus, und man selbst kann sich zurücklehnen und glücklich sein. Oder auch nicht. Oft kommt das böse Erwachen. Die repräsentative Demokratie soll verhindern, dass zu viele Idioten ständig reinreden und alles versauen. Genau das ist allerdings auch der Ansatz machthungriger Autokraten.
Selbstbestimmung ist ein hohes Gut im Liberalismus. Wenn ich keine Lust habe, auf eine Party zu gehen, bleibe ich zu Hause und freue mich über meine Entscheidung: Niemand wird mich stören. Schön! Wenn ich dagegen gar nicht erst eingeladen war, sitze ich genauso zu Hause, aber ich gräme mich. Der konkrete Zustand ist der gleiche, die Gefühlslage ist es nicht, weil die Ausgangssituation eine andere ist. Allein zu sein, kann ich mir wünschen, einsam zu sein, nicht. Niemand bleibt gern ausgeschlossen. Was tue ich? Will ich beliebt sein? Bedeutend? Unauffällig? Diese Entscheidung beeinflusst meine Wahl maßgeblich, aber die Folgen sind nicht immer abzusehen.
Das Verborgene reizt mehr als das Zur-Schau-Gestellte, das Verbotene reizt mehr als das Erlaubte. Doch am köstlichsten schmeckt das Bloßgestellte, jedenfalls in den Augen feinschmeckerischer Bestmenschen. Des Kaisers neue Kleider. Ein Grüner, der Kartoffelschalen in die Restmülltonne entsorgt hat, ein Seelsorger, der im Puff war. Andere der Heuchelei zu überführen, ist eine großartige Gelegenheit, um selber Empörung zu heucheln. Mein Idol hat vergewaltigt, behauptet eine Frau. Nicht mal schön ist die … Was überwiegt? Die Enttäuschung, anbetungslos auf dem Trockenen zu sitzen, oder die Lust, auftrumpfend in der Sensation zu baden? Gemischte Gefühle. Welche Möglichkeit wählt der (weibliche/männliche) Fan? Einfacher und deutlich befriedigender ist es natürlich, die Anklagende als Lügnerin zu schmähen, als sich sein Idol aus dem Herzen zu reißen.
Herauszufinden, wie und warum jemand lügt, das scheint viel interessanter zu sein, als die Gründe für die Verbreitung einer Wahrheit zu hinterfragen, zumindest, falls der Wahlredner seine Wahrheit aus Fantasielosigkeit zur Schau stellt oder um ein guter Mensch zu sein. Behauptet er seine Wahrheit allerdings, um sich zu beweihräuchern oder um andere bloßzustellen, dann bekommt der Charakter des oder der Posaunenden und beider Absichten eine andere Note: Das ist dann so ein Gewürz in der Lauterkeitssuppe, dem nachzukosten sich lohnt, weil eventuell gerade diese Dreingabe der Geschmacksverstärker ist, der den Eintopf zum Kantinenhit machen soll. Unverschnörkelt gesagt: Wahrheit, um zu verklären, oder Wahrheit, um zu vernichten. Wahlversprechen, Wahlversprecher – das Falsche gesagt, abgestraft.
„Ich hatte keine Wahl“ dient immer als Rechtfertigung, wenn etwas total schiefgegangen ist. Wann stimmt die Behauptung? Es ist belegt, dass im Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten keine Repressalien zu befürchten hatten, wenn sie an Erschießungskommandos nicht teilnehmen wollten. „Aber der Gruppenzwang …“, redeten sie sich heraus.
Es ist doch Wahnsinn, aber die Staaten haben keine Wahl: Weil ein Selbstmordattentäter an Bord geraten könnte, werden seit Jahrzehnten alle Flugpassagiere zeitraubend minutiös kontrolliert. Weil ein afghanischer Psychopath in die Menschenmenge rasen könnte, werden alle Grenzen überwacht und Ausländer verdächtigt. – Einzelfälle, die das Leben aller verändern. Den Jungen wurde von Eltern oder Predigern womöglich weisgemacht, sie seien großartig. Und was wird daraus? Eingebildete, ungebildete Männer, die sich missachtet fühlen, toben ihren Frust aus und zwingen alle Regierungen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Zeitverschwendung, Geldverschwendung. Es scheint unverhältnismäßig, aber es geht nicht anders: so lange, bis alle Menschen dermaßen KI-überwacht sind, dass man sich und dem Steuerzahler solche Kontrollen ersparen kann. Dann ist die ‚schöne neue Welt‘ perfekt. Wohin will man noch ausweichen?
„Man hat immer eine Wahl“, sagen Moralisten etwas weltfremd. Auch die Kirche behauptete, der Mensch habe die Wahl: Entweder er hält sich an ihre Lehren und kommt in den Himmel, oder er entscheidet sich für das Böse und landet in der Hölle. Dilemma: Kein Mensch will sich für einen netten Augenblick die Ewigkeit verscherzen, aber wenn es die Ewigkeit nicht gibt, wäre es ja ganz schön blöd, den Augenblick verkümmern zu lassen, ohne ihn genutzt zu haben.
Diese Art, dem oder der Wahlberechtigten die Entscheidungen mithilfe von Erpressung zu überlassen, gibt es auch im Privaten: „Geh ruhig! Geh heute Abend ruhig zu ihr! Wenn du wiederkommst, such nicht nach mir! Ich habe mich umgebracht.“
Auf die Politik übertragen: „Du kannst natürlich auch die andere Partei wählen, aber dann geht das Land vor die Hunde, und es ist deine Schuld.“ Die einen mahnen: „Wehret den Anfängen!“, die anderen fordern: „Macht endlich Schluss!“, damit ist dann die Asylpolitik, der Klimaschutz oder das ‚ganze woke Getue‘ gemeint.
Na, dann mach’ ich jetzt mal Schluss.
Entschlossen,
Hanno Rinke
Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH
Ich drücke uns heute allen die Daumen!
In welche Richtung?
Ein Fortbestand der Demokratie und ein wirtschaftliches Überleben ohne Unterstützung der USA wären ein bescheidener Anfang.
Die Demokratie sehe ich noch nicht in Gefahr, die Wirtschaft schon eher, was dann allerdings auf die Demokratie Auswirkungen haben kann.
Ich habe das Gefühl, dass die Wahlen seit Jahren nicht so entscheidend waren wie heute. Je mehr Europa alleine in der Weltpolitik steht, umso wichtiger wird eine starke Deutsche Regierung. Die Umfragen machen mir keine großen Hoffnungen.
Die Verhandlungen werden endlos dauern und Deutschland lähmen. Ich hoffe sehr, dass ich mich irre.
CDU / SPD / Grüne. Geht überhaupt was anderes?
Wir werden es heute Abend wissen.
Ich fürchte, wir werden heute Abend sehr wenig wissen. Mehr Fragen als Antworten.
Wählen heißt also, sich zwischen verschiedenen Übeln zu entscheiden – oder zwischen unterschiedlichen Sorten Joghurt. Manchmal weiß man vorher, was man bekommt, manchmal gibt es Überraschungen. Und manchmal bleibt nur die Wahl, sich über das Angebot oder dessen Abwesenheit zu ärgern. Vielleicht liegt die eigentliche Qual nicht in der Entscheidung selbst, sondern darin, dass man nie sicher sein kann, ob es die richtige war.
Nur dass die Wahl dieses Mal wichtiger wird, als welchen Joghurt ich zum Frühstück esse. Da hat Micha Brenner wohl recht.
Was auch immer man gewählt hat, man bekommt es allenfalls in Koalitionen verwässert.
Geht bitte alle wählen, liebe Leute.
Aber wenn Ihr das Falsche wählen würdet, bleibt bitte lieber Zuhause.
Bei den Wahlplakaten herrscht wirklich jedes Mal das gleiche Bild: Phrasen, die nichts sagen, Gesichter, die nichts verraten – und ein paar Wochen später sind die Straßen wieder frei, als wäre nie etwas gewesen. Ich habe die meisten jetzt schon wieder vergessen. Vielleicht sollte man stattdessen das Geld in etwas stecken, das länger hält als ein paar Wochen zwischen Laternenpfählen.
Das ist wohl wahr. Mich hat da nichts überzeugt, geschweige denn begeistert.
Gegen die Konkurrenz der Social Media kommt das Plakat-Gewitter sowieso nicht an.
Aber waren die Parteien in den Sozialen Medien präsent? Bei mir sind sie kaum aufgetaucht.
Ich habe mich durch mehr Bundeswahl-Talkshows gequält, als mir guttat. Und dann heute Abend noch diese ganzen Erklärungen, warum es so kommen musste, wie es kommen wird. Da brauche ich dann anschließend, glaube ich, ganz was Abgefahrenes auf Netflix
Ich glaube die Kommentare im Anschluss spare ich mir dieses Mal. Man kennt den Ausgang ja bereits.
Aber die verbalen Verrenkungen der Sieger und Verlierer sind manchmal ganz unterhaltsam.
Wer sich von der AfD einen Wandel zum Besseren erwartet, dem sollte sowieso die Erlaubnis zur Teilnahme an der Demokratie entzogen werden. Nicht wegen Bösartigkeit, sondern wegen Dummheit.
Weiss man nicht auch bei der AfD ziemlich genau was man bekommt?