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Sonntagspredigten

Die Farbe von Nagellack

Liebe Einzelne, liebe Gemeinde,

wie Musikalität oder Gelenkigkeit, so ist auch die Begabung, das Leben aushalten zu können, ungerecht verteilt, und selbst wer diese Begabung besitzt, der muss sie trainieren, wie er ja auch mit Etüden das Klavier beackern oder mit Sport den eigenen Körper quälen muss, damit solche Talente nicht verkümmern.

Jedem, dem sein Leben nicht passt, dem steht es frei, sich umzubringen, statt andere Sinnsucher mit seinen Macken zu belästigen. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist es, Leute zu suchen und zu finden, die auf eine ähnliche Weise unzufrieden sind, und mit diesen Gleichgesinnten einen Verein oder eine Partei zu gründen, um das Dorf, das Land oder die Welt umzukrempeln. Ganz besonders Tapfere fangen damit sogar bei sich selbst an. Das gilt natürlich gendergerecht gleichermaßen für Frauen und geschlechtlich Unentschiedene, was, einmal gesagt, ab jetzt vorausgesetzt wird.

Wer mit den Zuständen unzufrieden ist, muss sich entscheiden: akzeptieren oder ändern. Schimpfen gehört noch zum Akzeptieren, Auf-die-Straße-gehen schon zur Änderungsabsicht. Beides kann falsch sein, wenn auch nicht gleichzeitig.

Klar, alles das sind Verallgemeinerungen. Sie sind zwar übel, aber unvermeidlich. Wir wissen doch, nicht jeder Indianer will Weißhäute skalpieren, nicht jeder Berliner schiebt sich Eisbein in die freche Schnauze, und nicht jede Republikanerin möchte von Trump by the pussy gegrabbt werden. Warum wollen wir trotzdem einordnen? – Weil es sonst eben keine Ordnung gäbe. Und die meisten von uns fanden ja auch das meiste im Land bis vor Kurzem ganz in Ordnung. Damals wurden sie noch nicht von dem unberechenbaren amerikanischen Präsidenten und den errechenbaren deutschen Statistiken verschreckt. Nun gilt wieder Lampedusa: Alles muss sich ändern, damit es bleiben kann, wie es ist. Darum ist inzwischen jeder, absolut jeder, für den Fortschritt. Die einen verstehen darunter, sich ihren bisherigen Lebenslauf von der KI aufschreiben und den Rest ihrer Zeit von ihr bestimmen zu lassen, die anderen lassen sich jede Substanz spritzen, die gegen die Grippe oder das Altern auf den Markt kommt, und die dritten essen nur noch (von der EU umbenannte) Tofu-Schnitzel, damit keine Wälder mehr für Rinder und deren Steaks abgeholzt werden.

Am schlimmsten sind die Gleichgültigen, oder? Sie setzen sich weder für die Juden noch für die Palästinenser ein und fühlen sich weder gestört, wenn sie in ihrem Stadtbild eine Demo sehen, noch, wenn sie keine sehen, und bei einzelnen Grüppchen von Aus- oder Inländern gucken sie gar nicht erst hin. Schon Dante wusste, dass die ‚Lauen‘ im tiefsten Kreis der Hölle schmoren. Zu denen gehören vermutlich ziemlich viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die von links wie von rechts so sehnsüchtig umworben wird.

Was wäre schlimmer: wenn mir alles, was nicht mir selbst passiert, egal wäre, oder wenn ich zu allem, was in der Welt passiert, eine eigene Meinung verträte und mich für deren Umsetzung vehement einsetzte? – Hypothetische Frage. Was mir egal ist, soll gefälligst auch den anderen egal sein: die sexuelle Ausrichtung fremder Leute, die Religion fremder Leute, die Nagellackfarbe fremder Leute. Aber was mir wichtig ist, das sollen die anderen genauso wichtig finden wie ich: sexuelle Ausrichtung, Religion, Nagellackfarbe. Für den Ausbau des Christentums, den Aufbau des Sozialismus oder die Optimierung des eigenen Körpers war den wahrhaft Gläubigen schon immer jedes Mittel recht.

Der eigentümliche Begriff ‚Streitkultur‘ ist von der Wokeness abgelöst worden, die ihrerseits inzwischen als Schimpfwort benutzt wird. Alle sagen alles, und keiner traut sich noch, etwas zu sagen. Was denn nun? – Stimmt schon: Jedes Wort wird möglichst anders ausgelegt, als es gemeint ist, damit es als Aufreger mehr hergibt. War das denn immer so? – Vielleicht. Aber die Informationsdichte heute macht es schwieriger als früher, auszuweichen. Im Vorspiel zum ‚Faust‘ reimte bereits Goethe:

‚Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,
Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.‘

Heute gilt: Zufriedenheit macht nicht glücklicher als Wünsche zu haben, sie ist bloß undynamischer. Deshalb sind die meisten erst zufrieden, wenn sie etwas gefunden haben, um so richtig schön unzufrieden sein zu können. Unbewusst? – Vielleicht. Zufriedenheit ist einfach spießig, cringe.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama behauptete: „Wenn die Menschen in einer erfolgreichen Demokratie leben, die friedlich und stabil ist, und sie keine Möglichkeit haben, für die Demokratie zu kämpfen, dann werden sie irgendwann gegen die Demokratie kämpfen.“1 Oje! Dann will ich doch lieber die Demokratie vorlaut benörgeln, als vor lauter Zufriedenheit in der Diktatur zu landen. Mein Trost: Mit dem angeblichen ‚Ende der Geschichte‘ hat sich Fukuyama schon mal geirrt, obwohl mir die Umsetzung dieser These viel mehr Spaß gemacht hätte, als weiterhin unzufrieden an der Demokratie rumschustern zu müssen. Zuerst kommt da ein Vorsatz, dann, wenn es gut geht, ein Einsatz, und hier kommt jetzt ein Absatz.

Stimmt schon – zufrieden kann man später im Grab sein, zumindest als Atheist. Gläubige Christen wissen: Nicht alles, was nach dem Tod passieren kann, ist lustig. ‚Gar nichts‘ ist da noch eine der netteren Möglichkeiten. Wer also die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, lieber mit ‚Nein‘ beantwortet, auf den kommen neue Fragen zu:

1) Sind – auf das ganze Leben gesehen – fünftausend überwältigende Orgasmen, ausgelöst durch fünfhundert unterschiedliche Personen, einer fünfzigjährigen langweiligen Ehe vorzuziehen?

2) Wird, gut zu sein, belohnt durch das eigene Wohlgefühl oder durch die Dankbarkeit der Beglückten, die dieses Wohlgefühl womöglich erst entfacht?

3) Soll man zusehen, dieses Leben entweder so ereignisreich oder so einflussreich oder lieber so schmerzfrei wie möglich hinter sich zu bringen?

Also, da ist zu glauben doch einfacher. Vor allem deshalb, weil der Glaube sich mit den Bedürfnissen, Gutes zu tun, Ereignisse zu genießen und Einfluss auszuüben, herrlich verbinden lässt. Das freut die Seele. Dass der – angeblich – rein körperliche Orgasmus außen vor bleiben muss, schreckt die Seele genauso wenig wie die laienhafte Behauptung, dass es sie gar nicht gäbe. ‚Die ewige Seele‘ – ist das tröstlich oder furchteinflößend? Zumindest Grund genug, sich nicht umzubringen, sondern doch lieber andere mit seinen Macken zu belästigen. Das macht zwar wahrscheinlich auch nicht zufriedener, aber vielleicht wenigstens glücklich.

Viel Glück!

Euer Sonntagsredner
Hanno Rinke



Quelle: ‚Neue Zürcher Zeitung‘ vom 11.07.2025, Interview mit Francis Fukuyama
Grafik: Kl-generiert via Midjourney

8 Kommentare zu “Die Farbe von Nagellack

  1. Der Vergleich von Gleichgültigen mit Dantes „Lauen“ hat Wucht, aber vielleicht verwechselt der Text Passivität mit Überforderung. Bei der Informationsflut heute kann Gleichgültigkeit ja auch einfach Selbstschutz sein, nicht moralische Feigheit.

  2. Also, die Polemik gegen Gleichgültige ist herrlich überzogen – und gerade deshalb so treffend. Klar, nicht jeder, der keine Meinung zu Israel-Palästina äußert, ist ein „Lauer“ im dantesken Sinn. Aber diese moralische Erwartungshaltung, zu allem Stellung beziehen zu müssen, ist doch ein Dauerdruck unserer Gegenwart. Schön überspitzt. Ich lese weiter…

  3. Ich stolpere über die Entweder-Oder-Logik: Umbringen oder Verein gründen. Das ist als rhetorische Provokation gemeint, klar, aber unterschätzt doch ein wenig, wie komplex psychische Krisen und politische Impotenz sind. Der Text spielt für mich etwas gefährlich mit Vereinfachungen.

  4. Nicht nur die Begabung, das Leben aushalten zu können, ist ungerecht verteilt. Auch das Leid, welches uns das Leben zumutet.

  5. Der Abschnitt über die ewige Seele hat mich tatsächlich berührt. Nicht, weil ich religiös wäre, sondern weil er das Unbequeme im Denken so gut sichtbar macht: dass der Mensch zwischen Trost und Schrecken pendelt und beides braucht. Ein schöner, fast literarischer Moment inmitten des politischen Gefechts.

  6. Ich finde Fukuyama besonders spannend. Der Text suggeriert, dass wir in Demokratien paradoxerweise revoltieren, sobald uns das stabile Leben zu gemütlich wird. Das trifft einen wichtigen Punkt: politische Erregung ersetzt oft politische Handlung. Gleichzeitig muss man ergänzen, dass viele Menschen heute nicht aus Langeweile frustriert sind, sondern aus echter materieller Unsicherheit. Das fehlt mir als Gegenpol. Trotzdem eine scharfe Beobachtung über den „Zwang zur Haltung“, der uns alle überfordert.

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