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Sonntagspredigten

Silvester-Beichte

Liebe Leserinnen und Leser!

Zum Jahresende setzt es angeblich ein: das Fassen von ‚guten‘ Vorsätzen. Wirklich? Ich habe mir Silvester nie vorgenommen, nicht mehr zu rauchen oder nicht mehr zu trinken. Rauchen tat ich sowieso nicht, und eine Woche ohne Alkohol, immer mal wieder, bewies mir ausreichend, dass ich es schaffe, Lammkoteletts runterzuschlucken, ohne mit Rotwein nachzuspülen.

Das heißt, doch: Weihnachten 1975 verbrachte ich mit meinen Eltern in Kitzbühel. Nach dem Abendessen in der angesagten ‚Tenne‘ stieg ich allein den Hang empor: auf Waldpfaden, die der Neuschnee unsichtbar und der Zeitpunkt menschenleer gemacht hatte – richtig melodramatisch. Um Mitternacht erreichte ich eine Lichtung und sah von oben das Feuerwerk im Tal. „In diesem Jahr muss etwas passieren!“, dachte ich. Es war eigentlich kein Vorsatz, sondern ein Versprechen, vage, aber zuversichtlich. Zurück in Hamburg, wurde ich gleich versetzt: vom Marketing in die Produktion (Artist- & Repertoire-Bereich). Dort begann mein beruflicher Aufstieg. Im November lernte ich während einer Karajan-Aufnahme in der Berliner Philharmonie Roland kennen. Mit ihm lebte ich dann bis zu seinem Tod zusammen.

Im Dramaturgie-Beitrag meiner ‚Sonntagspredigten‘ vor drei Wochen habe ich ja schon angedeutet, wie akribisch bis manisch ich mein Leben immer zu gestalten versuchte. Entweder ist mir das von der katholischen Liturgie eingeimpft worden oder ich bin so. Eine Zeit lang habe ich mir einzureden versucht: ‚Immer alles so machen, wie man es geplant hat.‘ – Total spießig! ‚Ich ändere mein Leben dadurch, dass ich einfach nie das tue, was ich mir vorgenommen habe.‘ – Hat nicht funktioniert.

Ein wichtiges Prinzip: Die Ausnahme darf nicht zur Gewohnheit werden! Gewinnen macht keinen großen Spaß mehr, wenn alle Gegner von vornherein unterlegen sind. Ob man es schafft, sich die Freude an der Seezunge zu erhalten, wenn man sie nur einmal im Jahr isst, obwohl man sie sich wöchentlich leisten könnte, muss man ausprobieren. Beim Lachs und mir hat das jahrelang ganz gut geklappt. Ich verdiente genug, Roland und ich aßen ungefähr zweimal im Monat am Freitagabend einen Toast mit Räucherlachs und Sahnemeerrettich. So blieb es Ausnahme und wurde Ritual. – Ein Luxusproblem. Ja, was denn sonst? Die Probleme, bei denen es ums Überleben geht, werde ich bestimmt nicht in einem Blog beschwatzen.

Mein ganzes Leben lang bin ich – vom Schicksal? – verschont geblieben. Bis auf Rolands Tod. Das war krass und lebensverändernd. Manchmal versuche ich, mir einzureden: ‚So ist es besser!‘ Was bleibt, sind Erinnerungen, die mir einen gelungenen Lebensabschnitt vorgaukeln, ohne auf den Prüfstand des ‚Wie-wäre-es-jetzt?‘ zu müssen. Stattdessen beweisen sie mir: ‚Ich kann Partnerschaft.‘ Denn ja, schwierig war es immer, und als das soziale Gefälle wegfiel und Roland in seinem Umfeld genauso erfolgreich wurde, wie ich es in meinem war, da kam Aids. Dass es den Zuhausebleiber traf und nicht den weltreisenden Rumhurer – in besonders selbstgefälligen Augenblicken denke ich: ‚Er hatte all seine Ziele erreicht; ich hatte noch einiges zu erledigen.‘ Klingt gläubig oder zynisch, ich weiß. Na ja. Wenn ich mit dem Hoffen auf Gott oder auf ein lenkendes Schicksal auch meine Schwierigkeiten habe – mein Sinn für Dramaturgie lässt mich nicht los.

Aufs Ganze gesehen: Ich fürchte, ich bin nur deshalb nicht gescheitert, weil ich mich nicht genügend Außerordentliches getraut habe. Dadurch bin ich dem Aids-Virus und dem Ruhm entgangen. Ist in Ordnung. Triumphe vergehen, Selbstvorwürfe auch. Nichts trifft auf alle zu. Trotzdem klinge ich ständig nach besserwisserischen Ratschlägen, in meinen Predigten und mehr noch in meinen Antworten auf die Kommentare: Resultat meines immer noch nicht erloschenen Sendungsbewusstseins und des hochmütigen Glaubens: Manches weiß ich eben wirklich besser.

Tut mir leid. Nein, eigentlich nicht,

Ihr das Alte(r) zurücklassender
Hanno Rinke

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Grafik mit Material der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

62 Kommentare zu “Silvester-Beichte

  1. Ich denke mir nur einen guten Vorsatz aus, wenn mich Freunde fragen. Meistens hab ich den aber ein paar Tage später eh wieder vergessen.

    1. Ich versuche mir immer zumindest einen Vorsatz vorzunehmen, an den ich mich auch halte. Wir wollen bestimmt alle nicht au f der Stelle treten, oder?!

      1. Von Silvester zu Neujahr passiert ja kein Zeitenumbruch. Ein Tag folgt auf den anderen, wie immer. Aber die Jahreseinteilung ist durch den Wechsel: Winter, Frühling, Sommer, Herbst spürbar. Da ergibt es Sinn, die Toten und die Ereignisse der vergangenen zwölf Monate einzuordnen und seine Hoffnungen und Befürchtungen für die kommenden zwölf Monate zu formulieren.

      2. Der Vorsatz fällt mir leichter, die Rückblicke habe ich weniger drauf. Ich erinnere mich selten welches Ereignis in welches Jahr gehört. Da bin ich immer fasziniert wie viele Andere so organisiert denken können.

      3. Das Jahr ist nicht so wichtig, die Reihenfolge schon. Ursache und Wirkung muss man unterscheiden können.

    2. Weniger zu trinken oder öfter ins Gym zu gehen nehme ich mir nie vor. Aber ich überlege mir schon was ich vom kommenden Jahr erwarte. Manchmal geht es auf, manchmal eben nicht. Das finde ich am Ende gar nicht immer den ausschlaggebenden Punkt.

      1. Vorsätze machen einem zumindest bewusst, wo man Defizite hat, egal, ob man später mit seinen Vorsätzen triumphiert oder scheitert.

      2. Ja genau. Das ist doch auch die eigentliche Auseinandersetzung um die es dabei geht.

  2. Manches wissen Sie vielleicht wirklich besser, anderes nicht. Aber Sie haben etwas zu sagen. Das ist in der Regel immer spannend.

  3. Gläubig oder zynisch … Man versucht doch nur im Nachhinein einen Sinn in solch einer Tragödie zu finden. Das verstehe ich nur zu gut. Jeder, der ein gewisses Alter erreicht, muss sich wohl mit solchen Verlusten auseinandersetzen.

    1. Manche Menschen erleben große Verluste schon in der Kindheit, manche erst im Alter. Ist es besser abgebrüht zu sein als zu leiden? Das Leben ist kein Rosengarten, aber Dornen und Blüten liegen dicht beieinander.

      1. Abgebrüht zu sein mag vor Schmerz schützen, nimmt uns aber auch die Fähigkeit, Freude wirklich zu empfinden. So schlimm wie das ist, Verluste gehören zum Leben, ob früh oder spät, aber sie lehren uns auch, die guten Momente bewusster zu schätzen. Die Mischung aus beidem macht wohl am Ende das Leben aus.

      2. Ja, ‚abgebrüht‘ ist etwas kochendes Wasser zu viel, aber ganz hilfreich, wenn einen etwas kalt erwischt.

  4. Ich weiss gar nicht ob das besserwisserischen Ratschläge sind. Wenn die Leserschaft nicht an der Meinung des Autors interessiert wäre, liefe ja etwas falsch. Machen Sie einfach weiter so.

      1. ‚Weiter so‘ ist gut, wenn es bedeutet, jeden Sonntag etwas Neues zu bieten.

      1. Hamburger zwischen McDonald’s und Elbphilharmonie sind auch nicht leiser.

  5. Ich frage mich immer ob Neujahrswünsche in Anbetracht der momentanen politischen Lage weltweit nicht einfach nur banal sind. Aber andererseits, wenn die Vorsätze oder Wünsche Antrieb für konkrete Handlungen werden, egal ob auf persönlicher, politischer, lokaler oder globaler Ebene, dann sind sie es irgendwie auch wieder nicht. Wie auch immer, einen guten Rutsch ins neue Jahr allerseits.

      1. Danke. In meinem Alter ist ein sanfter Übergang einer halsbrecherischen Rutschpartie vorzuziehen.

      2. Ich ziehe den sanften Jahreswechsel auch vor. Diese riesigen Neujahrsparties finde ich letztendlich immer anstrengend.

      3. Schon im Fernsehen machen sie mir Angst, geben mir aber das erhebende Gefühl: Ich kann abschalten.

      1. Aber lässt man sich darauf ein? Oder versucht man stur an seinen Plänen festzuhalten? Das ist doch die Frage.

      2. Wer versucht seine Pläne gegen alle Umstände und Widerstände durchzusetzen, dem kann man nur viel Glück wünschen. Viel Erfolg wird er nicht haben.

  6. Ich habe mich immer über Deine Sonntagspredigten gefreut. Sie waren (und sind) für mich ein Innehalten, ein (weiterer) Anlass, nachzudenken, ebenfalls ein weiterer Anlass, mich zu freuen, über Deine Offenheit, Deinen Kenntnisreichtum, Deine unerwarteten und so vielfältigen Wendungen im Geschriebenen… Meine Worte vermögen es nicht, alles in Breite und Tiefe adäquat zu würdigen!
    Selbstverständlich hole ich mir freiwillig genau diese Art von Sonntagspredigt künftig eigenverantwortlich und ohne zu fragen von Deiner Homepage! Wahrscheinlich ist dies mein einziger Vorsatz, schauen wir mal…
    Vorher aber wünsche ich Dir (und den anderen Beiden!!!) ein gutes und Neues Jahr!
    Charlotte
    Liebe Grüße auch von Wend

    1. Das macht mir Mut, meine – manchmal vielleicht etwas zu selbstgefälligen – Bemühungen zum Thema ‚Über Leben‘ in meinen sonntäglichen Predigten fortzusetzen. Ich danke Dir, Charlotte.

  7. Meine guten Vorsätze betreffen immer meine persönliche Entwicklung. Ich muss also keine neuen fassen, sondern kann die alten getrost fortschreiben.
    Alles gute zum neuen Jahr!

    1. Danke. Wenn man die Vorsätze einfach weiterschreiben kann, heißt das: Man hat seine Ziele noch nicht erreicht. Andernfalls muss man eben doch neue Ziele formulieren.

      1. Eine sehr optimistische Sicht, die wohl in der Ukraine und in Gaza nicht geteilt wird. Womöglich wird es auch Olaf Scholz nicht selbst bestimmen können …

      2. Scholz wird als verfehlter Kanzler in die Geschichte eingehen. Ich muss ja bereits jetzt nachdenken, mit welchen einschneidenden Ereignissen ich ihn in Verbindung setzen würde. Ich frage mich nur, ob die Zeit der starken, handlungsfähigen Regierungen grundsätzlich erstmal vorbei ist…

      3. Selbst bzgl. der Neuwahlen ist/war er zögerlich. Das passt doch alles zusammen.

      4. Ich habe ihn sogar gewählt, aber wer bei ihm Führung bestellte, bekam Zögern. Er ist wohl doch eher der Kellner, der wartet, dass der Koch die Speisen zubereitet hat, bis er sie den ungeduldigen Gästen servieren kann.

    1. Ist passiert. Von nun an rutschen wir durch 2025 und hoffen, dass nicht allzu viele Huppel das Gleiten erschweren oder wir auf der Strecke bleiben.

    1. Ein wunderbares 2025 wünsche ich! Hoffentlich wird es weniger düster als die momentane Lage es weltweit ahnen lässt.

      1. Was im Politischen nicht klappt, muss im Privaten ausgeglichen werden. Dazu wünsche ich uns Mut und Glück.

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