Liebe Leserinnen und Leser,
vom bedrückenden Aktuellen mal kurz zum erfreulichen Allgemeinen. Würde jemand sagen: „Ich habe Lust!“, würde ich fragen: „Worauf?“ Lust haben heißt ja, etwas zu wollen, nicht, etwas zu besitzen. Lust ist ein deutliches Gefühl, aber ein widersprüchliches Wort. Das Gegenteil ‚Leid‘ ist leidlich klar definiert. Die Lust ist erklärungsbedürftig. Wobei empfinde ich Lust?
Saft zu trinken? Meinen Gegner zu quälen? Den Orgasmus zu vermeiden? Eine Erkenntnis zu haben? Beim Zwergenwerfen zu gewinnen? Weiterschlafen zu dürfen? Den Sonnenuntergang zu betrachten? Angepisst zu werden? Einen Asylanten aufzunehmen?
Der Sinn des Lebens besteht darin, Lust zu empfinden. Oder Lust zu bereiten. Oder die Lust zu überwinden. Zum Beispiel um selig zu werden (auch eine Lust-Möglichkeit in spe). Der Tanz ums Goldene Kalb war dem Vernehmen nach recht lustig. Religionen sind im Allgemeinen lustfeindlich, weil Augenblicke der Lust nicht zukunftsorientiert sind, sich also ums Seelenheil und mögliche unliebsame Konsequenzen für ein Leben nach dem Tod nicht scheren. Tun sie es doch, erlischt die Lust rasch. Die Pflicht der Lust vorzuziehen, ist sehr gut beleumundet. Wer aus dem Urteil anderer nur wenig Lust gewinnt, muss sich stattdessen fragen: Was bereitet mir Lust? Die Ächtung Russlands in der UNO-Vollversammlung? Wenn mein Vorgesetzter mich lobt? Wenn mein Vorgesetzter getadelt wird? Der Anblick einer Siegerehrung, bei der zwar ich nichts gewonnen habe, aber immerhin ein Landsmann von mir (eventuell sogar weiblich)?
Lust wird zur Last, wenn ein Sex-Partner (eventuell sogar weiblich) sie erwartet, man aber nicht liefern kann. Erst recht, wenn sich bei einem angesagten Lustspiel oder einer launigen Rede alle kringeln vor Lachen, nur man selbst verzieht höchstens die Mundwinkel zu einem vorgetäuschten Grinsen.
‚Hedonismus‘ war in der Antike ein geschätzter, ordnender Begriff. Wem heute Hedonismus nachgesagt wird, der gilt als oberflächlicher Egoist (eventuell sogar weiblich). Trifft diese Einschätzung zu, kennt die beschimpfte Person das Wort meistens gar nicht, braucht sich also auch weder zu grämen noch zu schämen.
Der Philosoph Robert Nozicks stellt die Frage, ob es wünschenswert wäre, dauerhaft in eine simulierte Realität versetzt zu werden, die angenehmer ist als das wirkliche Leben. Es ist das Thema des Films ‚The Matrix‘. Wir Publikum werden das nicht gefragt. Wir müssen die relativ kurze Dauer von Lust und von Glück akzeptieren, weil beides entweder vergeht oder Gewöhnung eintritt. Immer mehr! Immer weiter! Das hilft nicht mehr und führt nicht weiter. Aber: Im Nachempfinden liegt eine Chance. Das Schöne ist dabei nicht ganz so schön wie das Erlebte, dafür ist das Schlimme auch weniger schlimm als das Erlittene – im Kino, im Buch, im Blog. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiterhin lustvolle Begegnungen mit meinen abgeschlossenen Berliner Freuden und Peinlichkeiten.
Aufmunternde Grüße,
Hanno Rinke
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)
Betrifft: Andere Länder, eigene SittenBetrifft: Putin, der Schreckliche
Ich weiss gar nicht, ob ich den Begriff so viel eindeutiger empfinde…
Sie meinen damit das Leid?
Des einen Lust, des anderen Leid. Das ist natürlich etwas abgeändert, aber es kommt schon ungefähr hin.
Leid ist klarer definiert als Lust. Man kann dann leiden, aber nicht lusten.
Wenn Lust zur Last wird, dann ist es aber auch schon keine Lust mehr.
Ich weiß nicht, wie Masochisten das sehen.
In der Matrix wurde ja irgendwann rebelliert. Aber es gibt bestimmt einige, die mit einer Parallelrealität glücklich(er) wären.
Man muss sie sich wohl nur selbst schaffen. Stellt man irgendwann fest, dass man gegen den eigenen Willen in so einer Welt lebt (also z.B. belogen wurde), dann sieht die Sache ja in der Regel anders aus.
Eine schöne Lüge lebt sich netter als eine schlimme Wahrheit. Lieber bilde ich mir doch ein, dass mich alle lieben, als zu erkennen, dass mich keiner liebt. Es sei denn, ich selbst kann den Zustand ändern.
Wenn die Ukraine allen Widrigkeiten zum Trotz gegen Putin gewinnen würde und er als Regierungschef endgültig gescheitert wäre, das würde mir schon Lust bereiten.
Ja, das ist keine Frage. Eine neue Zeit, ohne Putin, das wäre eine ganz neue Chance. Aber ob das wirklich realistisch ist? Ich zweifle.
Und selbst wenn. Wir neigen dazu, die schlimmen Dinge wahrzunehmen und die guten nach einem Augenblick der Erleichterung hinzunehmen.
Putin ist ja leider auch nicht die einzige Bedrohung für den Weltfrieden. Er bekommt aus gutem Grund nur gerade die meiste Aufmerksamkeit. Andere Diktatoren und Tyrannen lauern trotzdem.
Ich finde, dass sie mehr tun als ‚lauern‘.
Ein like auf Social Media fällt mir noch ein wenn es um das Empfinden von Lust geht. Schließlich werden laut Forschern dabei dieselben chemischen Prozesse im Körper angestoßen wie beim Orgasmus.
Dann kann man sich ja eins von beidem sparen.
Zumindest kann man das eine ganz gut durch das andere ersetzen. Vielleicht ist das nicht das, was viele gerne wollen. Aber die Likes sind manchmal etwas einfacher zu ergattern.
An dieser Lust/Last-Problematik sind schon so einige Beziehungen zerbrochen.
Und ebenso viele Menschen.
Bis zu doppelt so viele …