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Sonntagspredigten

Betrifft: Nahe Sterne, ferne Sterne, keine Sterne

Liebe Leserinnen und Leser,

im ‚Spiegel‘ Nr. 11 wunderte sich Anna Clauß in ihrer Kolumne über den Bezirksausschuss von München/Au-Haidhausen. Der hat nämlich verfügt, dass in Zukunft zur ‚Bürger*innenversammlung‘ geladen werden soll. Sie schreibt: „In der Ukraine droht eine humanitäre Katastrophe und in Deutschland eine militärische Zeitenwende – in der bayerischen Hauptstadt aber gibt es Menschen, die sich mehr Gendersternchen wünschen.“1

Zwei ‚Spiegel‘-Ausgaben später die Reaktionen der Leserinnen: ausschließlich wütend. Karin Unkrig etwa empört sich „dass der ‚Spiegel‘ in einer missratenen Glosse […] den Bürgerausschuss […] für seine Anregung, Einladungen künftig in moderner Sprache zu formulieren, nicht nur kritisiert, sondern diesen Vorstoß (sic!) […] seine […] Bedeutung abspricht […]“.2 Kathrin Taube ereifert sich: „[…] hüten Sie sich, demokratische Strukturen ins Lächerliche zu ziehen, […]“3. Und so weiter. Ich habe erlebt, wie das in meiner Jugend unanständige Wort ‚geil‘ zu einem euphorischen Begriff wurde. Ich wäre gern noch dabei, wenn man dereinst solch aufgebrachten Kommentator*innen wie Unkrig und Taube mit dem lobenden Wort ‚Fotze‘ schmeicheln dürfte. Darüber hinaus bin ich alter, weißer Mann eher froh, so vieles nicht mehr ausbaden zu müssen, was gerade in die Weltenwanne eingelassen wird. Ist es Schadenfreude oder Ängstlichkeit des Greises oder hat mein Missmut objektive Gründe? Die nun anstehende Karwoche gilt christlich gesinnten Menschen als die traurigste des Jahres. Aber die Verheißung dämmert ihnen schon am Horizont. Mir profan Sterblichem blüht ja vor einer ungewissen Auferstehung erst mal der gewisse Tod. Aber wann? Den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, klingt nach einem verlockenden Angebot. Ob man dann aber im richtigen Augenblick die wahrhaft verantwortungsbewusste Entscheidung trifft, das steht in keinem Drehbuch, sondern allenfalls in den Sternen.

Zumindest gibt es Sarco. Das sei die Abkürzung von ‚Sarcosuchus‘, einer ausgestorbenen Krokodilgattung, las ich als Erklärung. Sarco kann man sich im 3D-Drucker erbasteln. Es ist eine große Kapsel. Man steigt ein und flutet den Innenraum durch Hebeldruck mit Natrium-Pentobarbital. Erst fühlt man sich leicht beschwipst, dann ist man tot. Ganz ohne Stress, sagen die, die es noch nicht ausprobiert haben, sondern bloß verkaufen wollen. Praktisch, was? Jetzt las ich, ‚Sarco‘ leite sich von ‚Sarkophag‘ ab. Klingt wahrscheinlicher. Das Wissen, jederzeit mühelos aufhören zu können, fände ich genauso schön wie die Genugtuung, steinreich zu sein: In beiden Fällen ist die Zukunft abgesichert. Und wenn man es vor Schmerzen oder Seelenpein nicht mehr aushält, macht man halt Schluss. Die Endgültigkeit finde ich etwas problematisch. Fluss ohne Wiederkehr. Himmel ohne Sterne. Moralische Bedenken hätte ich nicht, aber organisatorische. Still sterben oder einen feierlichen Abschied gestalten? Selber den Nekrolog vortragen, selber den Leichenschmaus vertilgen, selber die Kranzschleifen beschriften? Wer derart viel Energie aufbringt, das alles vorher noch zu stemmen, der kann auch gleich weitermachen, statt sein Ableben als Festakt zu planen.

Das letzte Abendmahl, ach, da schleiche ich mich eher als enttäuschter Judas vom Tisch und lasse die anderen ohne mich weiterfeiern. Doch auch im Blog kommen wir heute zum ‚Abendmahl‘. In diesem Berliner Lokal geht es allerdings eher blasphemisch zu als religiös. Immerhin fleischlos – zumindest auf dem Teller.

Guten Appetit!
Hanno Rinke



Quellen: 1Der Spiegel‘ vom 11.03.2022 – ‚Pazifismus in Krisenzeiten – Waren wir naiv?‘ | 2–3 ‚Der Spiegel‘ vom 26.03.2022 – Briefe
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

22 Kommentare zu “Betrifft: Nahe Sterne, ferne Sterne, keine Sterne

  1. Was für ein schwieriges Thema. Klar sollte man selbst über sein Leben und auch über den Tod bestimmen können. Aber ob man mit dieser Verantwortung wirklich umgehen könnte!?

    1. Entweder will man den Menschen wirklich die Wahl geben oder man will es eben nicht. Ein Dazwischen gibt es eben nicht.

      1. beim freien willen und der freien wahl ist ja immer auch super, dass man dinge einfach lassen kann

    1. Nichts. Es bietet sich für einige Populisten aber an Dinge in denselben Topf zu werden um möglicherweise zu Punkten.

      1. In Relation zu einander setzen kann man alles. Dann kommt man zu Einsichten wie: der Odenwald ist größer als der Hunger in Afrika. Oder umgekehrt.

  2. Ohne Endgültigkeit ist der Tod natürlich schwierig. Wenn man sich einfach mal eine Auszeit gönnen könnte, wäre das natürlich einfacher.

      1. Es gibt natürlich trotzdem eine Vielzahl von Webseiten und Blogs wo Veganer versuchen ihren Diät-Glauben mit Bibelzitaten zu belegen. Ein wenig an den Haaren herbeigezogen scheint das Ganze allerdings schon.

      2. Das ist ja das Schöne und manchmal auch das Gefährliche an der Bibel. Der Text ist offen genug, dass man so ziemlich alles hineininterpretieren kann, was man möchte.

    1. Neulich stand in den Nachrichten, dass Kirchenmitglieder in Deutschland erstmals in der Minderheit sind. Dass der Einfluss der Bibel nicht mehr wirklich wichtig ist, werden wir nicht mehr erleben. Aber das scheint mir trotzdem ein wichtiger Einschnitt zu sein.

      1. Und wie viele in dieser Minderheit sind wirklich gläubig im hergebrachtenen Sinne? Als ehemals sehr frommer Renegat begrüße ich diese Entwicklung.

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