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Sonntagspredigten

Betrifft: Putin, der Schreckliche

Liebe Leserinnen und Leser,

in der Vergangenheit habe Putin ‚jede Frechheit der westlichen Wertegemeinschaft‘ mit ‚Engelsgeduld‘ ertragen, doch damit sei nun Schluss: ‚Bevor Russland das Messer an die Kehle gesetzt wird, erfolgt der Präventivschlag‘1, freut sich der querdenkende Autor Hermann Ploppa. Auch Sahra Wagenknecht räumt dem Westen eine Mitschuld ein, wegen der NATO-Osterweiterung. Verständlich: Ich sehe Briten und Esten gemeinsam unter dem fadenscheinigen Deckmantel des Militärbündnisses in St. Petersburg einfallen und Peter den Großen vom Sockel stürzen.

Ploppa und Wagenknecht sind aber eher die Ausnahme. Be- oder zumindest Gerufene äußern bei Anne Will, Illner und Lanz im Allgemeinen ihre Ratlosigkeit, die ich noch obendrauf auf meine eigene Ratlosigkeit eigentlich nicht brauche.
Nun haben sich also alle geirrt. Putin meint es ernst. Unser Weltbild bricht zusammen. Das Problem ist eventuell, dass eben nicht jeder Mensch von Hause aus gut ist, und was die Gene nicht schon verbockt haben, das schafft dann die miese Umwelt. Dies wäre die konservative Sicht der Dinge. Der fortschrittliche Standpunkt ist: Die Menschheit wird immer gebildeter, vernünftiger, besser. Also auch der Einzelne, auch der kleine Putin aus dem Leningrader Hinterhof. Und nun doch – noch? – nicht.

Meine Freundin mit Geschichtsstudium Anette schrieb mir: „Ansonsten höre ich von internationalen Brigaden, die die Ukraine unterstützen wollen, und ähnlichem, in meinen Augen schwachsinnigem, Heldentum.“ Wer sich alles gefallen lässt, tut sich damit keinen Gefallen, fand Putin und findet jetzt der Westen. Die Frage ist: Wo fängt man an? Beim Einmarsch der Russen in Tschetschenien, auf der Krim, in Kiew? Oder doch erst in Warschau, auf dem Potsdamer Platz oder in Dünkirchen vor Überquerung des Ärmelkanals? Wenn rote Linien, die genannt wurden, überschritten werden, dann muss etwas passieren. Angriff auf einen NATO-Staat bedeutet Weltkrieg. Und dann? ‚Mourir pour Dantzig?‘ war schon 1939 in Frankreich eine Parole, allerdings ausgegeben von einem Nazi: Marcel Déat in ‚L’ Œuvre‘. Alles mit sich machen lassen, bloß um zu überleben? Das klingt nicht heroisch. Ist es pazifistisch? Wenn man jung ist, will man nicht alles mit sich machen lassen, wenn man alt ist, auch nicht. Die verbleibende Zeit soll kein Vegetieren sein. Der umgekehrte Leitspruch meiner Jugend lautet: ‚Stell dir vor, es ist Frieden, und einer macht nicht mit.‘ Angeblich wurden schon am Hindukusch unsere westlichen Werte verteidigt, wie viel mehr dann am Dnjepr?

Dass meine Generation diese Zeitenwende erleben würde, hat niemand vorausgesehen. „Mein Sohn wird nie Soldat werden müssen!“, sagte meine Mutter, dass sie kurz nach meiner Geburt gesagt habe. Dann kam die Wehrpflicht, dann wurde sie abgeschafft. Und jetzt? Putin schlägt ein wie die Flugzeuge ins World Trade Center, nur – für uns – näher. Noch als ich meine Berlin-Berichte schrieb, wollte ich so vieles. Jetzt nehme ich es negativ: Wenn ich keine Angst und wenn ich keine Schmerzen habe, dann, wenn mir beides fehlt, dann nenne ich es schon ‚Glück‘.

In Kriegszeiten wurden Lustspiele gezeigt. Zur Aufheiterung. Zwischen meinen beiden Berliner Tagebüchern habe ich jetzt im Blog auch ein Divertimento in vier Sätzen eingebaut. Ob Sie es komisch finden werden, weiß ich nicht, ein Ablenkungsmanöver (ganz ohne Panzer) ist es in jedem Fall.

Lassen Sie es sich gefallen!
Hanno Rinke

Quelle: 1 ‚apolut: Tagesdosis‘, 26.02.2022

25 Kommentare zu “Betrifft: Putin, der Schreckliche

  1. Die NATO-Osterweiterung kann ja eigentlich kein Grund sein, dass Putin sich dazu angestachelt sieht die Gebiete rund um Russland zu erobern. Zugegeben, anscheinend gab es da Zusagen, die nicht eingehalten wurden, aber er könnte auch einfach ein Partner des Bündnisses werden anstatt ein Gegenspieler.

    1. Es ist doch auch völlig daneben nun Gründe zu suchen, die sein Handeln erklären könnte. Eine Invasion bleibt eine Invasion.

  2. Immer wieder lese oder höre ich Meinungen, die besagen, dass Putin kein Interesse an einem Atomkrieg haben könne. Ich hoffe jedesmal, dass die interviewten Experten recht behalten.

      1. Das bleibt eben die Frage. Angeblich versteckt sich seine Familie in der Schweiz. Vielleicht ist das ein Grund, der ihn vom Weltkrieg abhalten würde.

      2. Ich glaube, das Interesse wurde gar nicht abgestritten. Man hatte nur nicht damit gerechnet, dass er so dreist sein würde.

      3. Dass Putin Familienmitglieder – in der Tundra oder in der Schweiz – in seine Entscheidungen einbezieht, halte ich für unwahrscheinlichst. Schon Stalin hatte einen Gefangenenaustausch abgelehnt, um seinen Sohn aus der Kriegsgefangenschaft zu befreien.

      4. Er scheint ja generell nicht viele Menschen um sich zu haben, die ihn beraten könnten. Das ist nunmal das Problem, wenn man alleiniger ‚Herrscher‘ eines Landes ist. Allein fällt man selten die besten Entscheidungen.

  3. Wo fängt man an? Mit dieser Frage hat sicher auch Putin lange gespielt. Mit der Antwort, die der Westen ihm momentan bietet, hat er sicher nicht gerechnet. Dass die Länder trotz ihrer unterschiedlichen Interessen bisher so geschlossen auftreten, dass Deutschland seinen Verteidigungsetat drastisch aufstockt, dass es Sanktionen aus der ewig unabhängigen Schweiz gibt, das alles muss eine Überraschung für Putin sein.

    1. Hoffentlich bleibt es so. Allein die Flüchtlingsproblematik wird einige Länder an ihre Grenzen bringen, wenn sich der Krieg über weitere Wochen oder Monate hinauszieht.

    2. Ich lese gerade, dass der Direktor der russischen Nationalgarde eingesteht, dass die Dinge nicht so laufen, wie man sich das gedacht hatte. Das sind ja überraschende Töne von einem Regime, dass der Bevölkerung sonst konstant die eigene Überlegenheit verkaufen will.

      1. Es hat ihn wie zu erwarten war erwischt und es gibt gleich mehrere Begründungen für seine Verhaftung. „Leaks of military info that led to loss of life“ bzw. „wasteful squandering of fuel“.

  4. Mich interessiert ja vielmehr ob an den Gerüchten etwas dran ist, dass Putin schwer krank sein soll. Dann würde ich zumindest einen Grund sehen, warum er auf einmal so irrational agiert.

    1. Hitler war auch schwer krank, hat alle Beseitigungsversuche überlebt und musste sich in Ermangerung eines fähigen Attentäters selber umbringen: zwölf Jahre zu spät. Voll Parkinson. Hat aber geklappt. Jeder Schuss ein Treffer.

      1. Dann könnte sich Putin ja mal ein Beispiel nehmen. Gerne vor Ablauf der 12 Jahre…

      2. Er nimmt sich ja schon ein Beispiel. Zumindest was die Kriegsverbrechen angeht. Die Bombardierung des Krankenhauses in Mariupol zum Beispiel. Wer hätte gedacht, dass solche Widerwärtigkeiten hier in Europa möglich wären.

  5. Erst kam die Wehrpflicht, dann wurde sie abgeschafft, und nun gibt es wieder Diskussionen ob es nicht besser wäre sie wieder einzuführen.

    1. Die Debatte um eine Wiedereinführung wird ja regelmäßig geführt. Der Ukrainekrieg ist da wohl nur ein willkommener Anlass für all diejenigen, die schon seit langem dafür sind.

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