Liebe Einzelne, liebe Gemeinde!
Ein Einfall ist der Einfall in eine bestehende Welt. Er schafft Ordnung oder Chaos, in jedem Fall Veränderung. Zumindest im eigenen Kopf. Er kann genial sein, mörderisch oder dämlich und alles andere auch. Die Hauptsache ist deshalb: sortieren.

Ist ein Einfall sehr ausgefallen, fällt er entweder sehr auf oder er fällt durch. Durchfall nennt man ihn im Deutschen dann aber nicht, sondern Reinfall. Oder Ausfall. Hat zum Beispiel ein Maler den Einfall, an einer Stelle zu dübeln, an der Leitungen liegen, gibt es vielleicht einen Strom-Ausfall. Doch das muss nicht sein. Es gab sowieso schon viele Einfälle, die erst durchfielen und dann die Welt eroberten. Friedrich II. von Preußen fiel 1740 ins österreichische Schlesien ein. Maria Theresia verbündete sich mit Russland und Frankreich gegen ihn. Nach der verlorenen Schlacht bei Kunersdorf wollte Friedrich sich umbringen, aber im Frieden von Hubertusburg wurde ihm Schlesien doch zuerkannt (Kurzfassung). Kaiser Wilhelm II., auch sonst nicht besonders weitsichtig, prognostizierte, das Automobil sei nur eine ‚vorübergehende Erscheinung‘, er glaube an das Pferd. Falsch! Die Oper ‚Carmen‘ fiel bei der Premiere am 3. März 1875 durch und ist heute eine der meistgespielten Opern der Welt. Auch der koreanische Einfall, zwei kleine Kinder „Baby Shark doo-doo-doo-doo-doo-doo, Baby Shark doo-doo-doo-doo-doo-doo“ und fast nichts sonst singen zu lassen, hat sich bewährt. Der ‚Song‘ ist auf YouTube mit mehr als 16 Milliarden Aufrufen das meistgeklickte Video der Erde – das Doppelte der Weltbevölkerung.
Ob man einen Einfall preisgibt oder für sich behält, ist Ermessensfrage. Einem Mann kann man durchaus sagen: „Ich möchte in deiner Achselhöhle leben.“ Gegenüber einer Frau verstieße das gegen Me-too-Benimmregeln. Prince Charles durfte allerdings seiner Geliebten Camilla schlankweg vorschwärmen, dass er gern der Wattebausch in ihrer Vagina wäre, und ist trotzdem König geworden. Umgekehrt hingegen: Die Idee, seine Freundin umzubringen, sollte reiflich überlegt sein. Das wird rasch als ‚Femizid‘ ausgelegt. Seinen Lover zu beseitigen, gilt dagegen nur als einfacher Mord.
Es gibt Menschen, die keine oder nur wenige Einfälle haben. Das fällt den Einfallslosen aber im Allgemeinen nicht auf, was gut ist, weil diese Einsicht ja ziemlich niederziehend wäre. Sicher, es ist ein recht bedeutsamer Einfall, nur, wenn man daran nichts ändern kann, unterbleibt solche Erkenntnis besser. Das Buch ‚Erwartung, Erfüllung, Enttäuschung‘ schreibt dann kein Autor, sondern das Leben.
Der Einfall, der mich auf den Roman gebracht hat, der jetzt veröffentlicht wird, steht in der gedruckten Version von ‚EISINSEL‘ auf Seite 253. Von diesem einen Satz aus habe ich vorwärts und rückwärts geschrieben.
Einfälle nehmen Dinge vorweg, die später realisiert werden. Das ist doch befriedigend, oder schmälert die Voraussehbarkeit das Vergnügen? Kann man sein Vergnügen daraus beziehen, auf Vergnügungen zu verzichten? Solche Spitzfindigkeiten führen in die Irre. Man wird irre. Der Psychopath redet sich dann ein: „Ich glaube nicht mehr an Gott, ich glaube nicht mehr an mich selbst, ich glaube nur noch an meine Pillen. Sie werden mich schon davor bewahren, durchzudrehen. Welche andere Macht würde das hinkriegen?“
Nachts: Da befällt mich ein Einfall nach dem anderen. Da gilt es dann herauszufiltern: Was ist bloß Erinnerung an bereits von anderen Gedachtes? – Weg damit! Und was ist neu, also von mir? Daran schließt sich die Frage an: verwertbar oder nicht? Wenn ja: als eingestreute Albernheit oder als dick aufgetragene Erkenntnis? Manchmal gelingt beides: erst Pathos, dann Party.
Dass es die Welt gar nicht gibt, sondern dass sie nur in meinem Kopf stattfindet, muss weg. Kommt mir irgendwie vor wie ‚bereits gedacht‘. In der Tat. Am Morgen google ich: „Of course it is happening inside your head, Harry, but why on earth should that mean that it is not real?“1, geschrieben von J. K. Rowling. Ist nicht ganz dasselbe, weil es sich auf eine Situation bezieht und nicht auf das ganze Leben. Also gut – in den Zettelkasten des Gedächtnisses!
Ich denke ziemlich viel über Wörter nach. Über ihre Bedeutung, über den Wandel ihrer Bedeutung, auch darüber, was diesen Wandel auslöst und was dieser Wandel auslöst. Wörter sind Waffen und Friedensstifter. Ich liebe sie. Sie helfen mir, den Abbau des Körpers zu ertragen. Sie sind die Quelle meiner Einfälle. Das lasse ich jetzt einfach so stehen. Ohne abschließendes Bonmot dieses Mal. Es sei denn, das hier ist eins …

Euer Geschichtenerzähler
Hanno Rinke

Quelle: 1 Aus ‚Harry Potter and the Deathly Hallows‘, Bd. 7, Bloomsbury/Scholastic, 2007
Grafiken: Kl-generiert via Midjourney | Video: H. R. Privatarchiv/Produktion: ALEKS & SHANTU

OH! Ich dachte mir doch, dass da eine Veröffentlichung oder zumindest etwas ähnliches ansteht 🙂 Wie schön!
Auf die Reaktionen bin ich sehr gespannt.
Was du siehst, was du weisst, was du fürchtest… es läuft einem ja fast kalt den Rücken herunter…
Fast nur?
Na der Teaser macht auf jeden Fall schon einmal neugierig. Ich lasse mich dann im Januar überraschen wie gruselig es wird. Kommt die Veröffentlichung „nur“ in Papierform oder auch auf dem Blog?
412 Seiten sprengen die Möglichkeiten des Blogs. Die Silvesterpredigt wird das Äußerste, was dieses Format verkraften kann.
Der Gedanke, dass ein Einfall immer ein Einfall in etwas Bestehendes ist, gefällt mir. Er entromantisiert die Idee ein wenig und macht sie zugleich konkreter. Einfälle wirken dadurch weniger wie göttliche Eingebungen und mehr wie riskante Eingriffe.
In jedem Fall schon einmal vorab, alles Gute für den Release!
Kann auch das Göttliche riskant sein? Wohl nicht. Hoffentlich wird es dadurch nicht langweilig.
Wenn man an die griechischen Götter denkt, sieht man ja eher das Gegenteil von Sicherheit: Eifersucht, Fehltritte, Launen, handfeste Katastrophen. Dort war das Göttliche alles andere als risikofrei, eher ein permanenter Unsicherheitsfaktor. Vielleicht waren die Götter gerade deshalb interessant, weil sie scheitern, sich verstricken und Schaden anrichten konnten. Ganz ohne Risiko wird das Göttliche schnell unerquicklich 😉
Für requiem aeternam ist dann später noch Zeit genug.
„Ich denke ziemlich viel über Wörter nach.“
Würden das doch nur viel mehr Menschen tun.
Es wird dadurch nicht unbedingt besser, aber gezielter.
Man kann es ja wenigstens mal versuchen.
‚Bildung‘ ist auch hier das Schlüsselwort.
Die Bemerkung über Einfallslosigkeit hat fast etwas Brutales, gerade weil sie so lapidar daherkommt. Dass Menschen ihre eigene Einfallslosigkeit meist nicht bemerken, wirkt wie ein Schutzmechanismus des Bewusstseins. Genau dieses Nicht-Bemerken scheint notwendig zu sein, damit der Alltag erträglich bleibt und nicht ständig als Summe verpasster Möglichkeiten erlebt wird.
Das kann auch einfach nur Dummheit sein.
Zumindest Einfallslosigkeit.
Ich wollte schon sagen „das kommt auf meine Weihnachtsliste“, aber der Release ist ja erst im neuen Jahr.
Das Buch ist nicht besonders weihnachtlich, vorsichtig ausgedrückt.
Hahaha, das ist gut zu wissen. Trotzdem gute Nachrichten aus dem Hause Rinke. Schön.
Wohl fast das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre, eines Tages feststellen zu müssen, dass ich vor Jahren den letzten neuen Gedanken hatte und seither nur noch Wiederholungen wiederkäue Mich tröstet nur die Hoffnung, es selbst gar nicht zu bemerken. In meinem Alter, das wohl in etwa dem Ihren entspricht, sind Einfälle, möglichst neu und gerne auch außergewöhnlich, Glücksfälle, an denen ich mich, auch zunehmend mangels Alternativen, die Zielgerade entlang hangele. Insofern empfinde ich eine Art Schicksalsgemeinschaft mit Ihnen und freue mich an Ihren, offensichtlich noch reichlich strömenden Einfällen und den daraus entstehenden Sonntagspredigten. Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen, friedlichen 3. Advent.
Meinen Dank aus vollem Herzen. Auch Ihnen weiterhin gute Einfälle und nur selten (unvermeidliche) Ausfälle.
Ich schließe mich den Wünschen zum 3. Advent an. Und freue mich schon auf das Buch!
Interessant. Sprache wird hier nicht nur als Werkzeug dargestellt, sondern fast wie ein eigenständiger Akteur, der mitdenkt, lenkt und die eigenen Einfälle formt. Dadurch bekommt das Denken dann selbst eine lebendige, fast unberechenbare Qualität.
Das hat es im besten Falle ja sowieso. Das meint Lukas weiter oben wahrscheinlich auch. Denken ist lebendig, auch wenn das Ergebnis, wie Herr Rinke schon anführt, nicht unbedingt besser sein muss. Aber immerhin gibt man sich nicht der Taubheit hin.
Wenn man Spache nicht nur denkt, sondern mitteilt, sollte die Qualität ‚berechenbar‘ sein. Ich finde nicht unbedingt falsch, was Merz sagt, aber, dass er später relativierend nachlegt, um sich zu verteidigen, zeigt, dass er die Konsequenzen vorher nicht genügend bedacht hat.
Es zeigt auch einfach, dass er, wie so viele andere Politiker „out of touch“ ist. Man mag die jüngeren Generationen für zu sensibel halten, darüber kann man reden. Es ändert aber nichts daran, dass ein Kanzler ein Kanzler seiner Zeit sein muss.
59% der Wahlberechtigten sind allerdings über 50 Jahre alt. Und die sind eben deutlich konservativer und für den Kanzler Merz wichtiger.
Das stimmt. Aber nicht jeder Sich-Aufplustern über eine Wortwahl würde ich ’sensibel‘ nennen. Social Media hat dazu geführt, dass es nichts Schöneres gibt, als Vorgänge zu skandalisieren.
Hat Social Media wirklich dazu geführt oder hat es dieses Verhalten nur aufgedeckt und vereinfacht? Der Impuls zum Aufschrei war doch bestimmt immer da. Früher ist er halt am Stammtisch geblieben, heute multipliziert sich alles zum Shitstorm.
Die Trennung zwischen „schon gedacht“ und „wirklich neu“ ergibt sich oft erst am nächsten Morgen, wenn der nächtliche Einfall einer ernsteren Prüfung unterzogen wird.
Das „Sortieren“ darf man aber dann auch nicht vergessen. Siehe oben. Im Detail liegt der Teufel.
Sehr Neugierige stehen auf und prüfen gleich. Andere packtieren mit dem Teufel in der Hoffnung, dass es niemand merkt.
Dass nachts sortiert werden muss, was neu ist und was bloß Erinnerung, kommt mir sehr bekannt vor. Kreativität wirkt dann eher wie Mülltrennung als wie Erleuchtung.
Hoffentlich wird dann nachher nicht wieder alles in einen Ofen geworfen.
Am Ende bleibt der Eindruck, dass Denken hier kein Ziel hat, sondern ein Zustand ist. Kein Abschluss, keine Pointe, sondern ein Weiterarbeiten im Kopf – für den Blogleser auch nach dem Lesen.
Der einzelne Gedanke sollte ein Ziel haben. Das Denken selbst hat vielleicht nur die Erweiterung des Horizonts zum Ziel.
Tja, nicht die Qualität entscheidet, sondern der Moment, die Umstände … und manchmal schlicht das Durchhaltevermögen.
Durchhaltevermögen ist ja schon eine gewisse Qualität. Der richtige Zeitpunkt auch. Die heutige Informationsflut macht es dem Glauben an ewige Werte schwer.