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Sonntagspredigten

Betrifft: Nie zuvor – und ab jetzt für immer

Liebe Leserinnen und Leser,

ich weiß schon: ‚You can’t buy love‘, nein, nein, kann ich nicht; trotzdem dachte ich immer, zumindest alles, was Spaß macht, kostet. Das liegt eindeutig an meiner kapitalistischen Sozialisierung, aber diese Umwelt-Prägung wurde mir bei meinen vielen Besuchen des sozialistischen Ostblocks nur allzu deprimierend bestätigt. Stimmt aber gar nicht! Pornos gibt es im Internet ganz umsonst, höchstens, dass mal meine Adresse für Werbung oder Staatsschutz gespeichert wird. – Macht mir nichts. Ich erlaube alles. Mir auch. Cookies für die Werbewelt, Sicherheit für die Bevölkerung, Lust für mich. Registriert zu werden ist doch tröstlicher, als nicht vorhanden zu sein.

Zum Vorhandensein ist ein Körper recht hilfreich. Und was wird aus dem? Sport brauchten unsere Vorfahren ja nicht, die waren doch sowieso dauernd mit Sammeln, Jagen und Fliehen beschäftigt. Jetzt hat der Körper kaum noch was zu tun. Wir fahren, wir sitzen, wir liegen. Das heißt aber nicht, dass wir deswegen jetzt weniger Möglichkeiten hätten als früher unsere Ahnen. Im Gegenteil. Damals wären wir ständig auf Trab gewesen, heute bleiben wir einfach sitzen. Um zu lernen, um zu genießen, um zu verzweifeln, müssen wir nicht mal mehr aufstehen. Google ersetzt beides: Brockhaus und Boulevard. Pornos kriege ich so viele, wie ich ertragen kann, und selbst klassische Musik bekomme ich auf YouTube ganz nach Lust und Laune, also von dem, was ich weiß, so viel, wie ich will.

Im 19. Jahrhundert hörte man einmal in seinem Leben eine Sinfonie von Beethoven; auf Schallplatte war sie dann bereits schneller abrufbar; jetzt ist alles bloß einen Mausklick entfernt: das Streichquartett, das Date, das gern gesehene, ferngesehene Geschlechtsteil. Alles gibt es in Reproduktion. Ich brauche nicht mehr in den Louvre, in den Kinosaal, in den Nachtklub zu gehen: Den Leonardo, den Spielfilm, den Luxuskörper hole ich mir auf den Bildschirm. Was macht das mit uns? ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘1. Die ‚Aura‘ der ‚Mona Lisa‘ erschließt sich mir, wenn ich im Kreis der tuschelnden Besuchermassen im Louvre vor dem Original abstehe, noch weniger, als wenn ich die Lächlerin im Kunstband oder auf dem Display betrachte. Inzwischen sind uns ja gleichzeitig alle Karikaturen der Gioconda (mit Schnurrbart, Joint oder Entenschnabel) geläufig. Ja, ich mag das Gemälde sowieso nicht, aber es ist darüber hinaus zwar materiell unbezahlbar, aber durch seinen Bekanntheitsgrad inflationär entwertet.

Die ersten vier Töne von Beethovens fünfter Sinfonie: allgegenwärtig. – Entwertet. Wenn das Original ohnehin seinen Zauber eingebüßt hat, spricht nichts mehr gegen eine Fälschung, die bei Snobs natürlich verpönt ist. Der echte Louis-Vuitton-Koffer oder das Imitat; das nachgebaute Berliner Stadtschloss – der Preis ist nicht gleich dem Wert, und der Wert hat aufgehört, allgemeinverbindlich zu sein; er ist eine individuelle Festlegung, und die Mehrheit dieser Festlegungen bestimmt den Preis. Während der Renaissance schuf bei den Experten ihre Kenntnis der ‚Musica reservata‘ das Bewusstsein, einer Elite anzugehören. Heute sorgen Geheimtipps im Restaurantführer für die Hoffnung, etwas Besonderes zu sein oder zumindest zu entdecken. Nicht in der (Volks-)Gemeinschaft aufgehen zu wollen, sondern etwas Eigenes darzustellen, das ist auch so eine – für Herrscher ärgerliche – Folge der Aufklärung und der Fernsehwerbung. Influencer schüren dieses Lebensgefühl. Sie torpedieren die Umsetzung des Wunsches nach Eigenständigkeit allerdings bereits durch ihre bloße Existenz.

Das Besondere war noch nie so allgemein. – Stört mich nicht. Den freien Zugang zu allem finde ich herrlich. Fake aufzusitzen gehört sich nicht oder einfach dazu, je nachdem, wie man tickt. Häufig wollen wir betrogen werden: Pornodarsteller gaukeln uns Lust vor, Bioprodukte Reinheit und Verbraucherbewusstsein. Die, die sagen: „Stimmt ja gar nicht!“, mögen wir nur, wenn sie unserer eigenen Richtung angehören. Die digitale Wahrnehmung hat die haptische Berührung in vielen Bereichen so selbstverständlich abgelöst, dass wir den Unterschied zum großen Teil gar nicht mehr wahrnehmen. Das Lesen des Rezepts ersetzt das Schlucken beim Essen. Die Abbildung ersetzt den Vollzug. Sex ist der Vorgang, bei dem sich der Körper, den es gibt, und die Seele, die behauptet wird, treffen. Für die Übertragung der Stimulanzien per Satellit kein Problem: Da können sich die Triebe des Menschen ohne Körpereinsatz austoben. Das Internet schafft Fakten. Unwirkliche Fakten. Fake-Wahrheiten. Das Wichtigste neben Sex ist dabei Klatsch.

Dass es so viele Menschen gibt, die das Privatleben von Prominenten aufregend finden, spricht gegen die Demokratie. Aber dabei kommt natürlich auch Wissenswertes zum Vorschein: Würde ich mich gern von jemandem regieren lassen, der Kinderpornos geil findet? – Nein. Würde ich gern einen Film sehen, dessen Hauptdarsteller einen Lustmord begangen hat? – Warum nicht. Wenn er gut spielt! Macht es fast noch spannender. Wir denken mal in ethischen und mal in ästhetischen Kategorien, und beides hat seine Berechtigung. Und beides ist unter Umständen unmoralisch. Ich gehöre der ersten Generation an, die sagen kann: So wie es jetzt ist, so war es noch nie. Eine solche Veränderung im Denken und Fühlen, im politischen und persönlichen Handeln hat es nie zuvor in der menschlichen Geschichte gegeben. Noch unsere Eltern hätten sich nicht vorstellen können, wie das Smartphone und die sozialen Medien unser aller Leben völlig verändern werden.

Im ‚Wachs!‘ des Jahres 2000 ist diese Entwicklung noch im Anfangsstadium, aber die Jugendlichen, um die es in den neuen Beiträgen geht, sind schon Teil dieses Prozesses, und der Autor ist Beobachter und Teilnehmer zugleich.

Immer dabei und immer abseits,
Hanno Rinke



Quelle: 1 Walter Benjamin, Aufsatz in der ‚Zeitschrift für Sozialforschung‘, veröffentlicht 1936
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

21 Kommentare zu “Betrifft: Nie zuvor – und ab jetzt für immer

  1. Das Privatleben von Prominenten hat schon immer fasziniert. Nur kann man dank Google mittlerweile jahre- und jahrzehntelang zurückstöbern. Das macht es für die Betroffenen VIPs bestimmt nicht einfacher.

    1. Ich finde das schlimm, wie Jedermanns Vergangenheit nach Dreck durchforstet wird. Dass sich Menschen für Dinge, die sie vor 25 Jahren mal gesagt haben, heute noch rechtfertigen müssen, ist doch absurd.

      1. Nicht nur in der Politik. Es gibt doch haufenweise Prominente, die über ein paar wiederaufgetauchte Kommentare stolpern. Damit meine ich natürlich nicht Leute wie Weinstein, die völlig zu Recht entlarvt und abgestraft werden, aber z.B. Comedians, die vor Jahren mal einen Witz gemacht haben, der heute nicht mehr als pc durchgeht.

  2. Diese Fake-Wahrheiten wandeln sich dann aber ja letztendlich doch in gelebte Wahrheiten um. So geht es zumindest im Politischen. Oder was das Querdenken angeht. Wenn dann noch mehr an das Gefälschte glauben als an das Tatsächliche … Prost, Mahlzeit.

      1. Man merkt in den letzten Jahren doch immer mehr wie gefährlich nah Demokratie und Diktatur doch beieinander liegen können.

  3. 1517 hatte Leonardo eine Lähmung in der rechten Hand, so dass er Mona Lisa nicht fertigstellen konnte. Deswegen guckt sie so genervt. Sie hat Bauchschmerzen und will nach Hause. Das war aber nicht die Absicht. Vielleicht ist jedoch der Gesichtsausdruck erst entstanden, nachdem sie eine Weile im Schlafzimmer Napoleons hängen musste. Das würde mich auch total nerven.

  4. Reproduzierte Kunst ist aber doch wahnsinnig uninteressant. Jetzt gibt es zwar überall immersive, virtuelle Ausstellungen, wie gerade bei Van Gogh – aber sowas hat doch nicht mehr Charme als eine Abbildung im Katalog. Oder Banksy-Ausstellungen im Museum. Dabei geht es bei allem was Banksy ausmacht doch wirklich darum, dass es eben Street Art ist. Und nicht im Museum konserviert wird.

      1. Hmmm, grundsätzlich würde ich gar nicht widersprechen. Aber Banksy im Museum, das ist dann doch wie ein Panda im Gelsenkirchener Zoo.

      2. Auf der Biennale gegen den ‚Nazi-Bau‘ des deutschen Pavillons zu protestieren, indem man seinen Boden aufreißt, ist auch nicht viel erwachsener als Hitlers Kunst-Geschmack.

      3. Ah, gab es die Aktion schon? Sich im Nachhinein gegen Bauwerke und Kunstwerke aufzulehnen finde ich sowieso immer etwas seltsam. Die betreffenden Künstler darf man gerne kritisch sehen, aber was soll das Zerstören eines Werkes?

  5. Ich finde, ein großer Unterschied bleibt ja auch: schaue ich mir als Zuschauer einen Film an, dessen Hauptdarsteller einen Lustmord begangen hat oder drehe ich als Regisseur einen neuen Film mit einem Hauptdarsteller, der einen Lustmord begangen hat.

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