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1912
Sonntagspredigten

Betrifft: Wie man es betrachtet

Liebe Leserinnen und Leser,

Halbherzigkeit gilt als miese Eigenschaft. ‚Voll und ganz‘ ist angesehen, Verzicht auch. Dabei ist das alles nur eine Frage der Bezeichnung. Sagt man zu ‚voll und ganz‘ ‚fanatisch‘ und zu ‚Verzicht‘ ‚Feigheit‘, dann kehrt sich das Ganze um.

Die Extreme sind auf der Bühne hinguckenswerter als das Erwartbare, aber wie behaglich, währenddessen geschützt im Dunkeln zu sitzen: Parkett oder Loge! Für uns selbst und für unseren Staat wollen die meisten von uns den Mittelweg, und weil wir ihn (also uns) ein bisschen dafür verachten, nennen wir ihn, um uns Mut zu machen, ‚golden‘. Dabei ist er mal brüchig und mal bleiern. Und doch: Diese Kompromissbereitschaft, dieser Wunsch, sich zwischen den Extremen durchzuschlängeln, um im Paradies bleiben zu dürfen, ist er so verwerflich? Seit Camus wissen wir, dass Sisyphos ein glücklicher Mensch war1: Den Stein immer wieder aufwärts zu stemmen und dabei zu wissen, er rollt doch gleich wieder runter, ist ein achtbarer Versuch, das Leben zu bewältigen. Er liegt mir. Verführerisch ist aber auch der genauso absurde Versuch, blöd zu bleiben.

Den Baum der Erkenntnis immer betrachten, aber vor den Wirkungen seiner Frucht zurückschrecken. Ich esse sie nicht deshalb nicht, weil ich keinen Appetit habe, sondern aus Angst vor den Folgen. Meine Mutlosigkeit nenne ich Einsicht. Denn: Werden es die paar Augenblicke im Ruhm, im Glanz, im Zenit wert sein, vorher auf viele Jahre der genügsamen Zufriedenheit verzichtet zu haben? – Vielleicht. Schlimmer ist es umgekehrt: reinbeißen – köstlich! Runterschlucken – herrlich! Und dann den Rest des Lebens daran rumdauen, ohne es verdauen zu können: ein fahrlässiger Seitensprung, der Scheidung oder chronische Krankheit zur Folge hat. Ein bedachter Weitsprung, der nach Jahren des Verzichts und des Trainings die Goldmedaille bringt, um dann ein Sportgeschäft in der Fußgängerzone zu eröffnen. Vorsitzender gewesen, rausgeschmissen, Abfindung gnädig erhalten, Freunde längst verloren. Diversifizieren? Gleichzeitig Sternekoch und Staranwalt werden wollen? – Klappt nicht. Alles auf eine Karte setzen klappt eher, aber selten. Kleinere Brötchen backen? – Stillt den Hunger, aber nicht den Appetit. Hauptsache, nicht reinstolpern in den nächsten Abschnitt, sondern den Schritt bewusst vollziehen. Es bereut sich immer noch netter, was man getan hat, als das, was man unterlassen hat. Über das Unerlebte kann man nicht mal reden oder schreiben, höchstens verzweifeln. Oder man denkt sich das aus, was hätte sein können. Entscheidungen stehen immer im Raum. Die Frage ist, wie man sich selbst dazustellt. Mutlose Entscheidungen sind erbärmlich. Friedrich Merz könnte jetzt Kanzler sein. Nicht, dass das besser wäre, aber, dass er es nicht ist, belegt die fantasielose Dummheit des CDU-Vorstands. Fantasie ist hilfreich, aber wenn man andere mit seinen Hirngespinsten belästigt, sollte Stil hinzukommen, sogar beim Psychiater.

In der Jugend Fantasie zu haben ist schön und bedrohlich. Im Alter ist sie unabdingbar. Alles, was nicht mehr geht, muss man sich nun abstrakt ausmalen und kann dafür im Speicher seiner Erfahrungen herumstöbern wie in einer Schatztruhe, in der man Preziosen und Tinnef findet.

Als Autor mache ich es unserem Helden nicht leicht. Natürlich nicht. Sonst wäre er ja auch kein Held. Ein Weg. Ein Ausweg. Ein Irrweg. Das, was möglich ist, brauche ich nicht zu beschreiben.

Nicht einsichtig, sondern zweisichtig,
Hanno Rinke


1Albert Camus – ‚Le mythe de Sisyphe‘, 1942
Cover mit Material von Julian Hochgesang/Unsplash (Auto) und Shutterstock: Rejean Bedard (Möwe), Alliance Images (Frau), stockyimages (Mann), Vereshchagin Dmitry (Kreuzfahrtschiff), steamroller_blues (Collie)

21 Kommentare zu “Betrifft: Wie man es betrachtet

  1. Und hier ist ja gleich noch so ein toller Satz: Über das Unerlebte kann man nicht mal reden oder schreiben, höchstens verzweifeln. Danke für die wie immer anregenden Texte.

      1. Ist das besser oder schlimmer? Wahrscheinlich eine Frage der Perspektive.

  2. Der Held muss sich natürlich durchkämpfen um uns als Leser zu überzeugen. Ob Gregor das wirklich schaffen wird?

  3. Ich bin ganz froh, dass wir keinen Kanzler Merz haben. Ich bin zwar auch kein großer Olaf Scholz-Fan, aber er scheint mir die passendere Wahl zu sein. Außerdem sollte nicht ein und die selbe Partei über 20 Jahre regieren. Ganz egal welche das ist.

    1. Ich stimme zu (was nichts an der Blödheit des CDU-Vorstands ändert), aber das Argument, eine Partei soll nicht weiter regieren, weil sie schon zwanzig Jahre lang regiert hat, setzt eine überzeugende Alternative voraus. Ich glaube (fürchte), die meisten Chinesen sind ganz zufrieden.

      1. Da dürfte natürlich etwas dran sein. Ohne (funktionierendes) Mehrparteiensystem stellt sich so eine Frage gar nicht. Bei uns in Deutschland finde ich ja auch, dass zumindest CDU/SPD/FDP/Grüne nah genug beieinander liegen, dass man ihnen in unterschiedlichen Konstellationen das Regieren zutrauen kann. Und zwar ohne riesige Katastrophen in die ein oder andere Richtung. Das steht ja doch in großem Kontrast zu z.B. den USA, wo die Kluft zwischen Demokraten und Republikanern immer größer wird, oder auch Frankreich, wo man sich mehr und mehr zwischen einer gemäßigten (Konservative / Sozialisten) oder einer extremen (RN) entscheiden muss.

      2. Wie sehr sich die Parteien unterscheiden wird man ja in den nächsten Monaten sehen. Ideologisch gibt es ja eigentlich deutliche Unterschiede. Aber was man in einer Regierung nachher wirklich umsetzten kann oder will, das mag etwas anderes sein. Opposition ist ja immer einfacher.

      3. Das Verhältnis-Wahlrecht kommt uns zugute. Als ‚ideologisch‘ würde ich die Ausrichung der Parteien (bis auf AfD) nicht bezeichnen.

      4. Als Ideologie würde ich das auch nicht bezeichnen. Damit, dass die politischen Schwerpunkte anders gelagert sind, haben Sie natürlich recht, Martin Kiesow.

  4. Manchmal denke ich ja, dass wir uns in der Kunst, im Fernsehen, in Gedanken so gerne mit Extremen beschäftigen, damit wir es in der Realität nicht tun müssen.

      1. Eher stimme ich Anna zu. Die, deren Realität wirklich so schrecklich ist, beschäftigen sich wenig mit Kunst und Fernsehen und denken lieber an etwas Schönes.

  5. Irrwege gehören ja zum Leben. Obwohl wir immer nach den direkten Wegen suchen, sind die meistens die uninteressantesten.

      1. Im Nachhinein sind ja eh Irrwege spannender, Urlaube schöner, Zeiten besser gewesen. Oder genau anders herum. Jedenfalls erhöht sich oft die Intensität.

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