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Sonntagspredigten

Totensonntag

Liebe Leserinnen und Leser!

Früher ging ich gern auf Friedhöfe. Tagsüber. Ich fand das so beschaulich. Auch die Zypressen und die Buchsbaumhecken mochte ich. Der Duft vermischte sich in meiner Wahrnehmung mit dem Weihrauchgeruch, der während des sonntäglichen Gottesdienstes verströmt wurde. Das Weihwasserbecken, die Bekreuzigung: stabilisierende Routine. Wir Katholiken gedachten unserer Toten an Allerseelen, einen Tag, nachdem an Allerheiligen die Elite geehrt worden war. Der Totensonntag der Protestanten ist bürgerlicher. Zu diesen Ereignissen sind die Gottesäcker bestens besucht. Ich ging lieber im Sommer auf Friedhöfe, bei blauem Himmel und verheißungsvoller Hitze. Das nahm dem Besuch die Schwere – ein schattiger Park, in dem Menschen ausgestreckt liegen.

Manchmal las ich die Namen und Daten der Verstorbenen. In den Drang, durch die Inschriften etwas über fremdes Leben zu erfahren, mischte sich Ehrfurcht. Die Vergänglichkeit. Das hoffnungsvolle Wort ‚Erlösung‘. Wovon? Wohin? Form und Inschrift von Grabsteinen sagen vielleicht weniger aus über die Verstorbenen als über die Hinterbliebenen: über deren Gestaltungswillen, deren Hochachtung, deren Geiz. Aber es gibt auch Menschen, denen schon lange zuvor wichtig ist, wie ihrer später einmal gedacht wird. Manche von ihnen planen alles im Voraus: den Blumenschmuck am Sarg, die Trauermusik während der Feier. Ein Trost für die Fortscheidenden vielleicht, ein vorweggenommenes Abschiednehmen. Ein Trost vielleicht auch für die, die zurückbleiben und wissen, zumindest wissen könnten: Eines Tages liege dann ich dort – oder irgendwo.

Die Stille, die Totenruhe, hat etwas Besänftigendes. Das Schlurfen der Leute hinter den Sargträgern, die Geräusche der Abwicklung beeinträchtigen dieses Schweigen kaum. Unvermittelt Zeuge einer solchen Prozession zu werden, macht dennoch betreten, obwohl wir die Situation aus vielen Filmen kennen. Die Wirklichkeit hat nicht so viele elegante schwarze Hüte. Aber auch in der schlichteren Version soll die Trauer während der Bestattung unser Unbehagen über das vorangegangene Sterben ablösen. Würdevoll sollen die Toten in ihre ‚ewige‘ Ruhe hineingebettet werden. Der Friedhof ist ein freundlicher Ort. Schützengräben, Pyramiden, Mausoleen sind eher gespenstisch. Grüften des Todes.

Der Gedanke, nachts auf einem Friedhof zu sein, schreckte mich: keine Furcht vor Betrunkenen oder Geistern, sondern die Angst vor dem Unerklärlichen. Damals, als so etwas für eine Mutprobe unter Freunden noch infrage gekommen wäre.
Seit ich viele Tote kenne, gehe ich nicht mehr hin. Auf überhaupt keine Friedhöfe und an die Gräber der Menschen, die mir etwas bedeutet haben, schon gar nicht. Ich habe ziemlich viele Nekrologe gehalten und Beerdigungen musikalisch unterstützt. Danach ist für mich Schluss. Ein Grab spendet mir keinen Trost, es kündet mir nur von Verlust. Jedes Mal, wenn ich aus Höflichkeit jemanden, der das dringend wollte, zur Lagerstätte eines lieben Menschen begleitet habe, fühlte ich mich anschließend unangemessen elend. Seit mehr als zehn Jahren war ich auf keinem Friedhof mehr. Fast alle meine Toten habe ich in meinen Filmen: als Lebende. Meine Bilder und meine Erinnerungen – das reicht mir.

Gnadenzeitlich gestimmt,
Hanno Rinke

Grafik mit KI-generiertem Material

21 Kommentare zu “Totensonntag

  1. Ich finde ja, Friedhöfe sind auch ein bisschen wie Lebensläufe: Manche Grabsteine protzen, andere halten sich bedeckt, und manche sagen überhaupt nichts. Vielleicht ist es deshalb so spannend, dort spazieren zu gehen…

    1. Große Friedhöfe sind wie unterhaltsame Wälder. Hauptsache, es liegt dort niemand, den ich kenne. Selbst die Grabmale bekannter Persönlichkeiten sind mir fremd. Lenins dauernd wiederhergerichtete Leiche auf dem Roten Platz ist das Gruseligste überhaupt. In zwanzig Jahren liegt dort Putin.

  2. Ich kann ihre Gefühle sehr gut nachvollziehen. Mich machen Friedhöfe auch eher traurig. Als Kind bin ich noch jeden Sonntag mit meinen Eltern zum Grab meiner Großeltern gelaufen. Anfänglich fand ich das auch ein schönes Ritual. Heute brauche ich diesen Ort auch nicht mehr, wenn ich ich an meine gestorbenen Freunde und an meine Familie erinnern will. Es gibt genügend andere Möglichkeiten dies zu tun. Und am liebsten denke ich natürlich an schöne gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen. Das ist weniger traurig.

    1. Meine Schriften, meine Filme. So bleiben meine Lieben präsenter, als wenn ich an einen Ort gehe, an dem sie nie waren und jetzt liegen.

  3. Der Gedanke, dass Friedhöfe mehr über die Hinterbliebenen verraten als über die Verstorbenen, ist spannend. Vielleicht sollten wir beim Grabstein-Design einfach ehrlich sein: „Hier ruht Opa Karl – ein Freund klarer Worte und günstiger Angebote.“

    1. Findet eigentlich jedes Jahr sieben Tage vor dem 1.Advent statt. Ab morgen akzeptiere Weihnachtsdekoration und Aachner Printen.

      1. Die Lindt-Weihnachtsmänner an der Supermarktkasse stecke ich schon seit ungefähr einem Monat in meinen Beutel. Man kann sie ja seit September kaufen. Aber langsam freue ich mich tatsächlich auch auf die Festtage. Der Schnee neulich hat mich z.B. gefreut.

      2. Bis heute gefällt mir Schokolade als Tafel besser. Ab morgen darf sie auch die Form von Weihnachtsmännern oder Jesussen haben.

  4. Mir gefallen immer die alten Friedhöfe in Italien oder auch Père Lachaise in Paris viel besser als unsere Deutschen. Man könnte das zwar auch protzig nennen, aber ich habe immer den Eindruck, dass die Toten dort mehr „gefeiert“ werden. Hier wirkt alles viel düsterer und bedrückender.

    1. Das liegt sicher auch daran, dass sich unser Leben in den letzten Jahrzehnten ziemlich verändert hat. Mittlerweile liegt der Anteil der Feuerbestattung bei 80%. In der Generation unserer Eltern sah das ganz anders aus.

      1. Und damit einhergehend liegt dann auch der Anteil der kirchlichen Beerdigungen unter 50 Prozent. Schon ein klarer Trend.

      2. Die Idee, jemanden, den ich gut kannte, verbrannt zu wissen, schreckt mich. Aber die Idee, dass Würmer die Leiche abnagen, ist ja auch nicht lustiger.

      3. Mich schreckt vor allem immer die Idee unter einer schweren Steinplatte begraben zu liegen. Selbst wenn das nach dem Tod eigentlich egal sein sollte.

      4. Ein Blumenbeet ist zweifelos gefälliger. Der Granit am Fußende sollte reichen.

    1. Das Tanzverbot am Totensonntag wirkt eh überholt. Gedenken ist persönlich, kein Gesetz sollte vorschreiben, wie wir diesen Tag verbringen. Wer trauern möchte, kann das tun – aber warum muss dafür anderen das Feiern verboten werden? Lebende und Tote schließen sich nicht aus.

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