Liebe Leserinnen und Leser,
die einen denken gar nicht, die anderen denken sich um den Verstand. Denken stört zunächst ja niemanden – außer den Denkenden selbst (manchmal) und argwöhnische Herrscher (immer). Erst wenn das Denken sich durch Reden manifestiert, belästigt es. Oder es begeistert. Aber genauso, wie es viel mehr fades als rasantes Essen gibt und weitaus mehr belanglose Musik als bedeutende, so wird natürlich sehr viel mehr Banales gesagt als Schlaues oder gar Kluges. Alles, was gesagt wird, muss vorher gedacht sein, auch das Undurchdachteste: Sonst ließe es sich ja nicht in Worte fassen. Manchmal mag man das kaum glauben, bei all dem Blödsinn, der geredet wird. Dabei kann Sprache viel, vor allem: benennen. Dazu ist dann allerdings ein Mindestmaß an Wissen Voraussetzung. Indem ich etwas benenne, bewerte ich es. Das kann als Lob gemeint sein oder als Gemeinheit.
Es gibt den Vorschlag, ‚Unter den Linden‘ von Hausnummer 63 bis 65 in Wolodymyr-Selenskyj-Platz umzubenennen. Dann läge die russische Botschaft in Berlin am Selenskyj-Platz 1 und müsste das auch auf ihr Briefpapier drucken. Das finde ich lustiger, als ein paar hundert Meter weiter die Mohrenstraße neu zu taufen. „Dieser 1707 vergebene Straßenname erinnert ‚an die durch Kooperation zum beiderseitigen Vorteil geprägten Anfänge deutsch-afrikanischer Beziehungen zwischen 1681 und 1716‘ und sei von jeher Ausdruck für die Achtung fremder Kulturen in Brandenburg-Preußen“1, argumentiert der in der Noch-Mohrenstraße lebende Anwalt Bodo Berwald. Keinerlei Diskriminierung!
Ich dachte, Rassen gibt es nicht, das glaubte bloß Hitler, und gleichzeitig fand ich, na ja, aber einen Menschenschlag, den gibt es aber schon. Doch nun ist die Rasse plötzlich wieder Gesprächsstoff. Die US-Wokeness schwappt nach Europa. In Amerika gibt es Forderungen, die Namen Washington, Jefferson und Lincoln zu ächten: weg mit deren Denkmälern und Straßenschildern! Die seien Rassisten gewesen. – Und wer nicht? Ibrahim X. Kendi formuliert für die Critical Race Theory (CRT): ‚Nur künftige Diskriminierung kann die heutige beseitigen.‘2 „Gestern waren Schwarze die Opfer, jetzt müssten die Weißen für ihre ‚systemischen‘ Privilegien Buße tun […]‘3, denn ihr ‚System ist eine einzige Verschwörung gegen die schwarze Rasse. […] Rassismus sei Teil der weißen DNA. […] Sagt einer ‚Ich bin kein Rassist‘, beweise er nur, dass er einer ist.“4
Das klingt so überzogen, dass ich mich gar nicht damit befassen will, andere offenbar schon. Intellektuelle Dummheit findet viel Gehör. Französische Universitäten sind besonders betroffen. Am Institut Sciences Po, an dem Jacques Chirac und François Hollande einst ihre Abschlüsse machten, wird jeder als Rassist und Faschist gemobbt, der islamistische Gewalt nicht als Folge von Kolonialismus entschuldigt.
Der Neomarxist Antonio Gramsci hatte nach seiner Überzeugung sicher bis zu einem gewissen Grade recht: ‚Das Wort ist die Waffe, die Denken und Wollen lenkt.‘5 Aber übertrieben ist es zu behaupten: „Das ‚Wahre‘ ist das Nützliche, das Vorherrschaft gebiert.“6 Daraus folgt dann: Wissen ist unvermeidlich politisch, Munition im Machtkampf. Angesichts des realen Krieges in der Ukraine kommen mir solche Thesen papieren vor. Auch wenn ich Harald Welzer beipflichte: Sprache ist Deutung von Wirklichkeit.7 Das sehen wir täglich in der unterschiedlichen Berichterstattung aus Moskau und aus Kiew. Und wie sehr der militärisch unterlegene Selenskyj das Wort geschickt gegen den steifen Putin nutzt, das nötigt mir Respekt ab. Gönnen wir ihm also seinen Platz vor der russischen Botschaft und belassen es bei der Mohrenstraße – zumindest im Blog; denn als ich mit Bo, Ingrid und Giuseppe im Jahr 2000 dort an der Ecke zur Friedrichstraße zwei Suiten bewohnte, hieß sie noch so, unangefochten. Also, weiter im Text!
Unverdrossen,
Hanno Rinke
Quellen: 1 Verein Deutsche Sprache (VDS): Infobrief vom 19. März 2022 | 2 aus ‚How to Be an Antiracist‘, erschienen 2019 | 3–6 ‚Neue Zürcher Zeitung‘ vom 21.03.2022, Joseff Joffe: ‚Wokeness als Wahn […]‘ | 7 ‚Stern‘ vom 16.03.2022, Harald Welzer (Kommentar zum Ukraine-Krieg)
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)
Manchmal muss man eben übersteuern bevor sich alles wieder auf einem Mittelmaß einpendelt.
Was mich ja wirklich verwirrt: CRT ist eine Theorie der 70er. Warum wird die von verängstigen Republikanern (nicht nur, aber vor allem…) gerade jetzt aus der Mottenkiste geholt?
Weil es zur Wokeness passt.
Und weil man mit der Idee, dass auf einmal alle Demokraten Sozialisten, Anti-Polizei, irgendwie pädophil, und generell far left eingestellt sind, gut Wähler anlocken kann, die lieber alles so lassen wollen, wie es gerade ist.
Na und nicht zuletzt weil durch George Floyd’s Tod und die Black Lives Matter Bewegung das Thema ’systemic Racism‘ doch einfach sehr aktuell geworden ist.
Es ist auf alle Fälle einschlägig in den Medien gelandet. Aktuell ist das Thema wohl immer. Schlimm, dass es solch ein Anlass braucht um überhaupt darüber zu diskutieren.
Es scheint ja auch nochmal ein paar Jahrzehnte zu dauern bis sich etwas ändert bzw. bis es keine Unterscheidung anhand der Hautfarbe mehr gibt. Ändern tun sich Dinge ja zugegebenermaßen langsam doch.
Glück hat, wer bei der Übersteuerung nicht draufgeht, sondern noch die Mitte erlebt, falls es nicht gleich wieder ganz ins Gegenteil umschwenkt. Ist das Kind erst mit dem Bade in den Brunnen gefallen, nützen auch Entschuldigungen nichts. Ob Putin Mariupol leid tut, ist dann ziemlich egal.
Ich habe da auch eine etwas zweigeteilte Meinung. Bei viel übertriebenem Aktivismus wird mir unwohl. Andererseits ist es wohl auch die Aufgabe jeder neuen Generation gegen die etablierten Werte der vorherigen aufzubegehren.
Aufbegehren muss man gegen überholte Normen, die keine Werte mehr darstellen. Nur weil etwas etabliert ist, muss es noch nicht veraltet sein.
Was für ein schöner Titel!
Die Titel mache ich immer am Schluss, wenn ich schon weiß, was ich geschrieben habe.
Das Wortspiel hat mir auch gefallen 🙂
Die Idee mit dem Selenskyj-Platz ist ja ganz gewitzt, aber was wirkt so etwas aus?
Weniger Atomkrieg als ein Nato-Eingreifen.
Es zeigt Russland oder den russischen Vertretern zumindest noch einmal eindeutig auf welcher Seite man steht.
Das sollte ja eigentlich bereits ziemlich deutlich sein. Aber klar, jedes Zeichen zählt. Warum also nicht.
Ich habe das Foto einer Freundin mit dem entsprechenden Schild vor der russischen Botschaft.
Ob Rassismus Teil der weißen DNA ist, na ja, aber es stellt sich auch die Frage, ob das wirklich wörtlich gemeint ist. Dass Rassismus in unseren Systemen verankert ist, scheint mir hingegen logisch. Schließlich sind diese ziemlich ausschließlich von Weißen Menschen gestaltet. Ob ungewollt oder nicht, es liegt ja nahe, dass man die eigenen Interessen eher verfolgt oder andere Sichtweisen und Bedürfnisse ausblendet. Regeln und Gesetze werden ja auch nicht ständig überarbeitet. Wie lange Gleichstellung und Gleichberechtigung braucht, sieht man ja auch in anderen Bereichen.
Dann ist die Ausgrenzung ‚anderer‘ in jeder DNA enthalten: Die Schwarzen haben die Angehörigen anderer Stämme selber als Sklaven an Weiße verkauft, und Protestanten und Katholiken haben sich während des Dreißigjährigen Krieges als gute Christen gegenseitig abgeschlachtet.
Mittlerweile denke ich tatsächlich oft, dass ein offeneres Miteinander zwar ohne Frage das Ziel sein muss, aber dass der Mensch gleichzeitig nicht so richtig darauf ausgelegt ist. Ich wünsche mir, dass ich falsch liege.
Das würde aber heißen, dass man sich gar nicht mehr groß bemühen muss. Das klingt als Message nicht besonders anregend.
Nein, das sehe ich anders. Man wird nie immerwährenden Frieden erreichen, aber wenn man sich gar nicht bemüht, hat man immerwährenden Krieg.
Ich finde auch, es geht nicht darum einer Utopie hinterherzulaufen. Man kann aber trotzdem dafür Sorgen anderen Menschen kleine oder große Freuden zu bereiten. Ordentlich miteinander umzugehen macht einem ja auch selbst das Leben leichter. Man wird oft so behandelt wie man es selbst mit anderen tut. Einen Versuch ist es allemal wert.
Erstaunt hat mich immer, wie unfreundlich die Menschen in sozialistischen Ländern waren, schon bei der Einreise und dann im Hotel, im Restaurant. Da ist mir kapitalistische Freundlichkeit, und sei es wegen des Trinkgeldes, immer lieber gewesen.