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Sonntagspredigten

Betrifft: Von Männern, Frauen und mir

Liebe Leserinnen und Leser,

Aline von Drateln hat einen interessanten Namen, Chic und blondes Engelshaar. Natürlich werde ich alter weißer Mann mich hüten, diese Journalistin nach ihrem wohlgefälligen Äußeren zu beurteilen, obwohl Incorrectness mein Markenzeichen ist. Es geht um ihre Ansicht, und die ist im ‚Tagesspiegel‘* nachzulesen. Anlässlich von ‚Bild-Julian‘s Sturz schreibt sie sehr richtig über penisgesteuerte Chauvis und Frauen, die naiv genug sind, sich einen Augenblick lang mächtig vorzukommen. Sie selbst hatte sich aus (beruflicher?) Neugier bei Reichelt beworben, das Einstellungsgespräch langweilig gefunden, und als sie den Anruf erhielt, dass sie auserwählt sei, hat sie zufrieden und dankend abgelehnt. Mit dieser Pointe in der Hinterhand ist es zweifellos reizvoll, dem eigenen Erfolgserlebnis einen süffigen Artikel vorauszuschicken: Warum sind Männer so und warum machen Frauen da mit? – Männer, weil sie es können, und Frauen, weil sie sich davon etwas versprechen. Das ist in etwa von Dratelns Antwort. Zweierlei beschäftigt mich trotzdem weiterhin:

1.) Warum können Männer in exponierter Stellung sich nicht entweder beherrschen, um nicht alles, was sie sich in Politik oder Kultur aufgebaut haben, aufs Spiel zu setzen, oder so diskret vorgehen, dass niemand es merkt. Das hat doch sogar Hitler geschafft und Willy Brandt fast! Wenn man stattdessen denkt, man könne sich alles erlauben – macht es dann überhaupt noch Spaß? Die Heimlichkeit der Diskretion, ist sie nicht viel reizvoller? Oder gilt das bereits als Heuchelei?

2.) Bestimmt von Heuchelei bestimmt wird die immer noch moderne #MeToo-Debatte. Mein Gott, ich habe auch Sex eingesetzt, um meine Karriere zu unterstützen, und das hat nicht immer Spaß gemacht, aber ich bin so zielstrebig vorgegangen, dass es mir zunächst genutzt und später nicht geschadet hat, wenn ich es beendete. Ich sah keine Notwendigkeit, öffentlich darauf stolz zu sein, meine sexuellen Möglichkeiten eingesetzt oder fremdem Drängen nachgegeben zu haben, aber erst recht sah ich keinen Grund, das Geschehen nach Jahren larmoyant zu publizieren. Sich hinzugeben und trotzdem nichts zu erreichen ist natürlich ärgerlich, aber wer nicht ganz doof ist, lernt daraus wenigstens für die Zukunft.

Der Johannes in unserer Blog-Erzählung lernt ja schneller als ihm – und vor allem uns – lieb ist; aber wer wissen will, worauf das alles hinausläuft, muss da durch.

Mitfühlend, aber gnadenlos,
Hanno Rinke



Bild mit Material von Shutterstock: Christian Mueller (Hintergrund), François-Guillaume Ménageot – ‚Das Martyrium des Hl. Sebastian‘/Wikimedia Commons/gemeinfrei/public domain

*‚Der Tagesspiegel‘ vom 23.10.2021

24 Kommentare zu “Betrifft: Von Männern, Frauen und mir

  1. Alle gesellschaftlichen Strömungen beheimaten Heuchler. Egal wie gut gemeint sie sind. Das liegt aber einfach auch daran, dass so etwas wie #metoo Menschen anzieht, die den eigentlichen Grund bzw. die ursprüngliche Idee missverstehen.

    1. Vollkommen egal. Solange die Debatte dazu führt, dass Machtmissbrauch verringert wird, war sie erfolgreich.

    2. Viele Männer sehen Frauen als Sexobjekte. Dafür kenne ich aus eigener Erfahrung und aus meinem Bekanntenkreis dutzende passende Beispiele. Heucheleien gibt es in jedem Zusammenhang, da braucht man „me too“ natürlich nicht rausnehmen. Das hat aber nichts mit der eigentlichen Bewegung zu tun, sondern vielmehr mit den Menschen an sich.

      1. Gestern Abend habe ich im ZDF die Dokumentation über Harvey Weinstein gesehen. Das hat meinen Blick auf die Frauen doch noch empathischer gemacht.

  2. Mann fühlt sich unverwundbar, oder? Bei einigen der großen ‚Vorbilder‘ aus jüngerer Zeit könnte man das zumindest denken.

      1. Die armen verunsicherten Männer sollen mal nicht zu sehr jammern.

  3. Ich habe zwar mitbekommen, dass diese Reichelt-Geschichte es bis in die New York Times geschafft hat, aber die eigentliche Berichterstattung ist völlig an mir vorbeigegangen. Ich musste glatt noch einmal nachlesen was nun wirklich vor sich gegangen ist.

    1. Das ist wohl wahr. Aber geteilte Freude ist eben auch doppelte Freude. Nicht geteilte Lust, sondern die Freude über so eine Begegnung…

  4. In diesem Fall kann man nur auf der Seite der Frauen stehen. Heuchelei ist zwar verabscheuungswürdig, aber für sexuelle Übergriffe jeglicher Art gibt es troitzdem keine Entschuldigung.

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