Teilen:

2112
Europa im Kopf  —   7. Kapitel: Lombardei

#7.4 Ein Irrtum nach dem anderen

Auf der Piazzetta trinkt Silke meist Sanbittèr, Rafał immer Aperol Spritz, Carsten manchmal auch, und ich trinke immer Negroni ohne Eis. Von Schluck zu Schluck hoffe ich darauf, dass endlich ein Leeregefühl im Magen oder ein Lustgefühl, den Gaumen zu reizen, einsetzt. Aber nur die Augen sind beschäftigt.

Rafał: „Die da hinten, die sieht gut aus.“ – Silke: „Ich muss erst mal das Kleid sehen.“ – Rafał: „Nein, die Tasche passt doch nicht.“ – Selten denke ich, wenn ich Menschen beobachte: ‚Jetzt machen die sich Gedanken über mich, wie ich mir Gedanken über sie mache.‘ Ist ja auch so, also nicht so, und wenn es anders wäre, würde mich das höchstens verunsichern. Diese Fette da drüben, wie schafft die es morgens in ihre Schlüpfer?! Und die beiden ekligen Knutscher hier vorn, die nachts im Bett? – Das geht doch gar nicht! Alle möglichen Sexpraktiken, die als normal gelten, finde ich ausgesprochen abstoßend, ich kann mir also gut vorstellen, wie dergestalt ‚Normale‘ das finden, was mir Spaß macht. Man darf sich fremde Leute nicht beim Sex vorstellen. Was nicht begeistert, stößt sofort ab. Das Niemandsland dazwischen ist weniger breit als ein territorial ungeklärtes Stückchen Land zwischen Stacheldraht und Freiheit. Ich habe mal gelesen, wenn man zu gehemmt sei gegenüber Respektspersonen, solle man sie sich am Klobecken ausmalen, dann verliere man die Scheu. Stimmt das? Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ankommt, wenn man seinem Bewährungshelfer vor die Füße kotzt.

Foto: R. S./Privatarchiv

Der heutige Abend gehörte dem mindestens so guten, aber schlichteren Lokal: ‚Al Torcol‘. Es liegt drollig an mehreren Stufen einer Treppe: die Osteria rechts, der balkonartige Gastgarten stufaufwärts links. Der Wirt kam mir etwas griesgrämig vor und wenig interessiert an uns, aber dann brachte er uns doch an den von Silke reservierten Tisch. Wir bekamen ein paar Karten, aber wenig Aufmerksamkeit. Um andere Tische kümmerte sich der Wirt halbwegs, zu uns schickte er nur seinen – wenigstens sehr hübschen – Lehrling, der uns den ganzen Abend lang bedienen und sogar die Rechnung kassieren musste. Wir waren Luft für die Wirtssau. An den anderen Tischen war er zwar auch nicht besonders nett, aber er war wenigstens mal da. Uns würdigte er keines Blickes; dafür war der kleine Kellner durchaus bemüht um uns, vielleicht um Abbitte zu tun. „Das Essen ist gut“, sagte Carsten, „aber hier gehen wir nicht wieder hin.“ Empört über die Behandlung hatte ich meine Gruppe ein wenig aufgehetzt.

Fotos (3): R. S./Privatarchiv

Von ausschließlich aufs Essen Fixierten kann man als Beurteilung lesen: ‚Ich kostete die Sarde del Garda in Saor, mit Zwiebeln und Rosinen (12) – die zergingen am Gaumen, Süße und Säure tanzten venezianische Folkloretänze auf den Papillen.‘ – Na, meinetwegen. ‚Torcol‘ ist Dialekt für ‚Wendehals‘, glaube ich jedenfalls. Der Wendehals ist der einzige Langstreckenzieher unter den europäischen Spechten. Wendehälse überfallen die Bruthöhlen anderer Höhlenbrüter. Aufgefundene Gelege werden zerstört und gefressen; Jungvögel werden gelegentlich auch an die eigene Brut verfüttert.

Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Das bringt mich auf zwei Geschichten:

Ein böser, alter Zauberer entführte einen jungen, lieben Prinzen, der im Wald Pilze suchte oder Böcke schoss, und zwang ihn, in seinem Geister-Gasthaus die niederen Dienste zu verrichten. Sein Vater, der König, lief heulend durchs Schloss, während seine Gemahlin sich immer neue Rezepte für den Zauberer, der nicht kochen konnte, ausdenken musste. Für das unvergleichliche Essen zahlten die vorbeireisenden Fürsten und Edelleute mit Dukaten und Edelsteinen, die Gespenster mit Bettlaken. Der Zauberer drohte der armen Königin: An dem Tag, an dem du mir kein neues Rezept bringst, schlachte ich deinen Sohn und esse ihn selber auf, mit Liebstöckel. – Das ist ein Märchen.

Foto: Pawel Furman/unsplash

Mir kamen, weil ich den besten Beobachtungsplatz am Tisch hatte, ein paar Zweifel an den hierarchischen Gegebenheiten in der Osteria; deshalb ging ich über die Straße/Treppe zu den Waschräumen. Dabei konnte ich beobachten, wie der Junge den Griesgram instruiert und wie er in der Küche Anweisungen gab. So erhärtete sich mein Verdacht: Der alte Muffel aß hier sein Gnadenbrot, der junge Meister war sein Chef. – Das ist die Wahrheit.

Aber weil ich meine Begleiter nun mal eingeschworen hatte auf meine Version, wollte ich sie mit der Wirklichkeit nicht belästigen: So funktioniert Politik.

Am Montag war, wie vorgesehen, der Himmel strahlend blau, der Pool einladend leer und der See seidig sanft, so dass Silke Rafałs Aufforderung, ihn zu beschwimmen – den See –, wenig entgegenzusetzen hatte.

Foto: Olena Z/Shutterstock

Da sehe ich dann von meinem bequemen Liegestuhl in der ersten Reihe aus auf das, was mir nicht möglich ist, und ich muss mir ganz allein für mich selbst überlegen, wie ich das finde, weil mir jeder andere, der das miterlebte, nur darüber in den Ohren läge, wie gut ich es habe. Und wenn ich nun aber lieber sprungbereit in Aleppo läge? – Du bist ja verrückt! – Ja, ist das neu? Schon meine Mutter hat Hitler in der Wolfsschanze nicht erschossen. „Versündige dich nicht!“, ist mir als Kind immer gesagt worden, weil ich es so scheißgut hatte. ‚Tu dies, lass das!‘ Wie befreiend war es, als ich mich, viel zu spät, so richtig versündigt hatte: falschen Sex gehabt, schlechtes Essen weggeworfen, bettelnden Zigeunerinnen kein Geld gegeben. Für die Medien ist ein triebhafter Mörder unterhaltsamer als ein trauriger Millionär, das ist verständlich. Für Christen darf das natürlich nicht gelten: Erst kommen all die Armen in den Himmel, dann die ganzen Aussätzigen und Zöllner, dann marschiert ein Kamel durchs Nadelöhr, dann ist Schluss. Praktizierende Schwule und passionierte Aktionäre: Pech gehabt! Die christliche Nächstenliebe erfordert es, die Draußengebliebenen am meisten zu bedauern; denn was sind ein paar Jahrzehnte Chaps, CHANEL und Champagner genossenen haben zu dürfen, gegen die Aussicht, eine Ewigkeit in Pech und Schwefel baden zu müssen? Da unten schwimmt Silke, von Rafał angefeuert, von sich selbst eher enttäuscht, im warmen Wasser, und ich lehne mich zurück in mein Frotteetuch. Mit niemandem will ich tauschen, schon gar nicht mit mir selbst.

Foto oben: ArtOfPhotos/Shutterstock | Foto unten links: Alexandra Lande/Shutterstock | Foto unten rechts: Wonderful Nature/Shutterstock

Am Abend wollten Silke und ich ergründen, ob das ‚Risorgimento‘ noch so vorzüglich war wie im vergangenen Jahr: Da hatten wir ein wunderbares, hauchdünnes Tintenfisch-Carpaccio gegessen und danach noch etwas Tolles, an das ich mich deshalb nicht besonders gut erinnern kann, weil ich es nicht mehr runterkriegte. Das Restaurant liegt unmittelbar vor der Piazzetta, so dass es vom Negroni zurück zum Prosecco nicht weit war.

Foto: Luca Santilli/Shutterstock

Wir bekamen einen Tisch ganz vorn und riesige Speisekarten. Die Spaziergänger waren uns ganz nah; sie konnten die Angaben der künstlichen Aromastoffe mitlesen. An den Nebentisch, etwas näher am Haus, also ferner dem Geschehen, wurde ein Stammgast mit seinem Sohn geleitet: dass er Stammgast war, ergab sich aus der Begrüßung des Kellners, dass der andere nichts Ausgefalleneres als sein Sohn war, hoffte ich für den jungen Mann. Wenig später kamen Mutter und Tochter dazu. Gegen die Tochter war nichts einzuwenden, die Mutter wäre in meiner Kindheit als ‚viermotorige Steppensau‘ bezeichnet worden. Eine typische Slawin, aufgetakelt, ungeniert, der Wabbel quoll aus sämtlichen Nähten. Aasfresserisch wie sie war, kriegte sie, während wir uns das Tintenfisch-Carpaccio genüsslich auf der Zunge zergehen ließen (venezianische Folkloretänze auf den Papillen?), eine Mordsportion rohen Rindsmatsch. Die anderen am Tisch bekamen auch Tatar, aber bloß sie knallte sich dazu eine solch raue Menge an Pommes frites in den aufgedunsenen Bauch, dass es nur so seine zivilisationslose Art hatte; doch noch bevor sie die Kartoffelspezialität in ihrem pavianroten Maulloch verschwinden ließ, hatte sie die Fritten bedenkenlos mit Mayonnaise und Tomatenketchup zugekleistert. Blattsalat dazwischenzustopfen gelang ihr auch noch: Kartoffelsalat, Fleischsalat, Veggiesalat, alles in einem. Wir unterdrückten unser staunendes Gelächter und hielten inne, um zu erlauschen, ob die Jauchekübel des Kapitalismus diese furchtbare Familie nun vom Balkan oder aus Russland herübergespült hatten. Rafał kennt sich da sprachlich ein wenig aus, und Silke hat ein fabelhaftes Gehör. Oje! Während ich die Blicke der Passanten auf meinem Teller spürte, fanden sie heraus, was da gesagt wurde und wie die Exoten es sagten – das waren Belgier! Westeuropäische Allesfresser. Ich hatte nicht gewusst, dass der Untergang des Abendlandes schon so weit fortgeschritten war. Was sollen die Asylanten von uns denken?

Foto: Gilly/unsplash

26 Kommentare zu “#7.4 Ein Irrtum nach dem anderen

  1. Man darf sich weder Fremde noch Freunde beim Sex vorstellen. Beides finde ich durchweg verwirrend und irgendwie auch abstoßend.

    1. Nackt gerne. Zumindest die gut aussehenden Freunde. Beim Sex eher nicht. Sex stellt man sich nicht vor, Sex hat man.

  2. Seine Begleiter zu unterhalten ist löblich. Sich im Alltag nicht mit der Wirklichkeit belasten zu wollen mitunter fatal. Man muss immer genau wissen, wann es welchen Schalter braucht.

  3. Das ist genau der Punkt, nicht wahr? Egal wie gut es einem oberflächlich auch geht, es kann eben niemand in einen hinein schauen.

    1. Seinen Mitmenschen schlechte Laune oder Traurigkeit absprechen zu wollen ist genauso idiotisch wie seine eigenen Gefühle zu unterdrücken.

      1. Seine Gefühle wie einen Bauchladen vor sich her zu tragen, ist auch nicht die Lösung. Dass niemand keine Probleme hat, wissen wir, aber mit deren Zurschaustellung sollte man genauso sparsam umgehen wie mit Chilipulver.

  4. Eine interessante These: die Armen kommen in den Himmel, die Reichen müssen draussen bleiben. Ob das in unserer Kommerz-Welt so noch gelten kann?!

      1. Also endloses Shoppen nach dem Tod? Jetzt muss ich gründlich überlegen ob ich das gut oder schlecht finde…

      2. Endloses Shoppen nach dem Tod gibt es in der Hölle: Und dabei wissen, dass man das Gekaufte in alle Ewigkeit nie wird anziehen, essen oder sich hinstellen können.

      3. Eine kommerzfreie Ewigkeit würde mir auch besser gefallen. Ich bin ja schon auf Erden überfordert.

  5. Mit griesgrämigen und wenig interessierten Gastwirten habe ich so meine Probleme. Wer nicht mit und für andere Menschen arbeiten will, soll’s einfach lassen.

  6. So viele Menschen sind unglücklich wenn sie niemanden haben der ihnen „tu dies, lass das“ sagt. Werde ich nie verstehen können.

  7. Also „Süße und Säure tanzten venezianische Folkloretänze auf den Papillen“ klingt eher nach ’nem ausgedehnten LSD-Trip als nach italienischer Küche. Nicht sicher, ob mich die Bewertung in’s Lokal ziehen würde.

    1. Ich vertraue wenn überhaupt eher den Foursquare-Bildern als den Texten. Fotos lügen weniger als unsere eigene Erinnerung oder Meinung.

      1. Und vor allem vertraue ich meiner eigenen Nase und meinen eigenen Augen 😉 Da können keinerlei Social Media / Bewertungsportale mithalten.

  8. Aber die Bewertungen nach einem Lokal-Besuch zu lesen ist lustig. Ich selbst habe mir noch nie die Zeit genommen, mich in solch einem digitalen Reiseführer zu verewigen.

    1. Nicht wahr? Manchmal sind diese Seiten ganz hilfreich, aber ich habe auch noch nie den Drang verspürt meine Erlebnisse dort zu teilen.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

19 + 9 =