Teilen:

0307
Rundbriefe

Betrifft: Das Leben

Liebe Leserinnen und Leser,

Ukraine, Inflation, Klimakrise, Gasmangel – natürlich beschäftigt mich das alles wie jede(n) andere(n) auch, aber dieses Abtreibungsurteil des Supreme Court in den USA, also, dazu will ich unbedingt etwas schreiben, weil das offenbar, abgesehen von (ja, vehementen) Frauen-Protesten, niemand tut. Der Körper der ‚Damen mit  Unterleib‘ ist ja nur die eine Seite, so berechtigt diese Einwände auch sind. Aber die andere Seite ist genauso wichtig. Gegen Kopfschmerzen darf man sich medizinisch zur Wehr setzen – gegen Schwangerschaft nicht? Selbst ungewollte Zellen werden zur Entwicklung gezwungen! In Brasilien will die zuständige Richterin eine vergewaltigte Elfjährige dazu zwingen, das Kind zu gebären, las ich gerade.1 – Empörend!

Schutz des ungeborenen Lebens? Wer schützt denn diese armen Föten davor, geboren werden zu müssen? Das Leben der meisten Menschen ist wenig lebenswert, das von vielen sogar grauenhaft. Und wer schützt die Menschheit vor noch mehr aus Verzweiflung zu allem bereiten Zu-viel-Geborenen, die Schlimmstes anrichten?

Ich lebe gut im Überfluss. Wie gern hätte ich meinen Platz auf der Erde an jemanden abgetreten, der ungeboren bleiben musste, weil seine Eltern unfruchtbar waren. Natürlich steht die, von vielen nie, von mir immer gedachte, Frage im Weltraum: Wofür lohnt es – komischerweise ergänzt man ‚sich‘ – zu kämpfen, zu leben, zu sterben? Gewerkschafter und Geistliche geben vor, das zu wissen. Zweifel sind mal rettend, mal tödlich. Es kommt darauf an, ob man gehorchen soll oder besser nicht. Die Antwort kann das Leben verändern, den Tod bedeuten oder völlig unerheblich sein. Hinterher ist man klüger oder eben tot. Jaja – ich lebe lustvoll, aber es müsste nicht sein. Ich hätte meinen Beitrag zur Rettung der Menschheit durch Nicht-geboren-Werden gern geleistet. Zu spät.

Seit Jahren höre ich in meinem Südtiroler Garten erstmals wieder einen Kuckuck. Anheimelnd. Der legt ja seine Eier, Stück für Stück, in fremde Nester. Das ausgeschlüpfte Junge wirft sofort alle Eier oder seine bereits der Schale entwachsenen Nebenbuhler aus dem Nest und lässt sich allein großziehen. So geht’s auch. Aber jetzt kommt’s: Der englische Kleriker Edward Topsell erklärte 1614 in seinem ‚The Fowles of Heaven or History of Birds‘ das Brutverhalten des Kuckucks mit dem wundersamen Wirken Gottes. Die fehlenden elterlichen Instinkte habe der Schöpfer in seiner gütigen Weise dadurch ausgeglichen, dass andere Vögel für ihn die Aufgabe übernehmen würden, seine Jungen großzuziehen. Geht’s noch?

Wir seien alle Gottes Kinder, behaupten manche. Und das Leben sei ein Gottesgeschenk. Eher ist es eine Gottesstrafe, weil man vorher offenbar ungezogen war. Und doch! Sobald man das Bewusstsein erlangt, will man überleben. Das ist ein Trieb. Kriegstreiber versuchen, ihn bei ihren Schutzbefohlenen zu überlisten: Gott und Vaterland und ähnlich hehre Werte, für die es sich zu sterben lohne.

Es heißt, schon Vaters Spermien kämpften darum, wer die Eizelle der (un)glücklichen Mutter in spe befruchten dürfe. Alles ist Durchsetzung und Kampf, von der Zelle bis zum Volk. Leider stimmt diese faschistische Ansicht. Putin beweist es gerade wieder, und wie lange wir im Westen noch so ungeschoren davonkommen – wer weiß? Vielleicht war diese kurze Zeit, in der jeder für alles demonstrierend auf die Straße gehen konnte, die beste, die der Menschheit je vergönnt war. Sich für etwas einzusetzen, das kann Lebensinhalt sein. Glück gehabt: Ziel gefunden. Und wenn nicht? An nichts glauben zu können, ist nicht erträglicher, als an etwas – anderen zufolge – Verkehrtes zu glauben. Aussuchen kann man sich das nicht. Genauso wenig wie das Lebenmüssen … das Lebendürfen. Das Daseinsziel ‚Pflichterfüllung‘ gilt als ethisch korrekt (und etwas langweilig), das Daseinsziel ‚Lustgewinn‘ gilt als morbide (und bleibt besser unausgesprochen). Ja, das Leben kann schön sein: Als Einzelkind glücklicher Eltern in Othmarschen sind die Voraussetzungen dafür so gut, dass man sich die Zeit nehmen kann, an seinen psychischen Problemen zu verzweifeln. Als elftes Kind einer alleinerziehenden Mutter im Kongo kann man sich nur wünschen, halbwegs gnädig zu verhungern oder als Kindersoldat möglichst viele Feinde zu massakrieren.

Bin ich zynisch, sehe ich schwarz? Vielleicht. Aber ich gebe mir wirklich Mühe, das Leben zu verstehen. Sogar, es zu lieben. Das merkt man doch im Blog meinen Bemühungen, einem Sauerbraten und einer Kunstausstellung gerecht zu werden, an, oder?

Trotzdem kein Gerechtigkeitsfanatiker,
Hanno Rinke



Quelle: 1 ‚Der Spiegel‘ Nr. 26, vom 25.06.2022
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

10 Kommentare zu “Betrifft: Das Leben

      1. Aber wirklich. Wie kommt es eigentlich dazu, dass da Religion und Staat so vermischt werden? Das ist doch weder von der Bevölkerung so gewollt, noch passt es ins Jahr 2022.

  1. Dass dieser Gerichtshof meint entscheiden zu müssen, was Mütter dürfen und was nicht … es scheint mir doch sehr fehlgeleitet.

    1. Es geht ja weniger um das Leben dieser Kinder, sondern eher um Macht. Ansonsten würden sie auch etwas gegen diese schreckliche Waffengewalt im Land tun.

      1. Vor allem sollen ja weiterhin viele weiße Kinder geboren werden, damit die Minderheiten nicht so schnell zur Mehrheit werden.

  2. Wer einmal lebt, der will überleben. Das sieht man ja gerade besonders eindrucksvoll bei den Ukrainern. Aber schwarz sehen sie wahrscheinlich gar nicht. Die Situation ist ja tatsächlich überall schlimm. Russland, USA, Inflation, etc…

      1. Man kann auf die Straße gehen. Allerdings passiert auch das nach jedem neuen Massenshooting in den USA. Es ändert sich trotzdem nichts.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

18 + vier =