Liebe Leserinnen und Leser,
die Idee, einfach in den Tag hinein zu leben, ist reizvoll. Solange man sich von Terminen umzingelt fühlt. Hat man dagegen keine Termine, dann wird gerade die Leere leicht zum Gefängnis. Deshalb: Wer keine Aufgaben hat, der schafft sich welche. Sieger beim Koma-Saufen zu werden oder ehrenamtlich ‚Senioren‘ genannte alte Leute bei Kaffee und Kuchen durch Vorlesen von Leichtverständlichem zu unterhalten, ohne sie zu überfordern – das sind zwei Möglichkeiten, die moralisch sehr unterschiedlich bewertet werden.
Viel effektiver als einmalige Ausbrüche aus der Belanglosigkeit sind feste Regeln. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man in ein System gepresst wird oder ob man sich ein System schafft, innerhalb dessen man selbst gestaltet. Es ist der Unterschied zwischen Hamsterrad und Rennwagen.
Fast jeder behauptet, die Abwechslung zu lieben: ‚Variatio delectat!‘ Bei den meisten gilt das aber eher für den Speiseplan als für die Anforderungen. Die betrachtet man spätestens dann mit Argwohn, wenn sie erst mal beschönigend als ‚Herausforderungen‘ bezeichnet werden. Andererseits: Bei diesem Wort traut man sich ja kaum, feige zu kneifen. Das Gegenteil der Herausforderung ist die Routine. Sie kann wohlvertrautes Muster sein oder einengende Bevormundung. Täglich Kartoffeln zu schälen ist ätzend, täglich den Rosenkranz zu beten ist beruhigend. Oder umgekehrt: Da kommt es auf die eigene Einstellung an.
Der Alltag hat seine Rituale, der Feiertag auch. Der Unterschied besteht für mich vor allem in geöffneten und geschlossenen Feinkostläden, was aber auch nicht mehr so strikt gehandhabt wird wie in den Achtzigerjahren, als ich noch für ein renommiertes Unternehmen arbeitete, oft gerade an Wochenenden. Wer zufrieden ist mit der Einteilung: Aufstehen, Anziehen, Essen, Zeitverbringen, Zähneputzen, Hinlegen – der und die sind genügsam. Na ja. Es macht natürlich einen Unterschied, ob das ‚Zeitverbringen‘ darin besteht, in einem noch nicht digitalisierten Amt Karteikarten auszufüllen oder in einem noch nicht eroberten Tunnel nach Terroristen zu fahnden. Was nicht von sich aus festgelegt ist, das legen wir fest. Wir brauchen Einteilungen und Gesetze. Im Meer wird geschwommen, im Park wird gejoggt. Im Urlaub um 11:00 Uhr das Bad in der See, zu Hause um 7:00 Uhr die Runde um die Grünanlage – zum Beispiel.
Mein Freund Pali fuhr, nachdem ihm der Führerschein trunkenheitshalber weggenommen worden war, aus Trotz und aus Bequemlichkeit nie mehr Auto. Am Steuer. Wenn ich ihn montags abholte, um mit ihm von der Elbe an die Alster zu fahren, wo wir auf demselben Flur unsere Büros hatten, dann referierte ich immer siegesgewiss, welche Termine ich die Woche über im Sitzungssaal, im Restaurant und im In- und Ausland haben würde. Leicht bewundernd machte sich Pali über meine Planungssucht lustig. Dabei war er selbst ein Systematiker.
Wildwuchs? – Gibt es nicht. Jedes Virus hat seinen Bauplan, jede Schlingpflanze ihren Algorithmus. Das lässt sich als göttliche Bestimmung auslegen wie im Kinderlied über die Sternlein, die am Himmelszelt stehen: „Gott der Herr hat sie gezählet“. Inzwischen besorgt die KI das genauso zuverlässig, aber eine Bestimmung, einen Sinn, möchten wir trotzdem immer noch gern erkennen. Das klappt am besten, wenn wir erst einmal anfangen, uns mit dem Aufbau eines Wesens oder eines Werkes zu beschäftigen und da, wo wir nichts finden, selbst ein System zu schaffen. Erfinder, Philosophen, Künstler machen das, auch weibliche. Die Ambivalenz zwischen Rationalität und Kreativität bestimmt unser Leben, meins jedenfalls. Also, um es kurz zu machen – falls das überhaupt noch geht: An jedem Dienstag und Freitag um 18:00 Uhr erscheint ein neuer Beitrag von ‚Die Elf‘ im Blog. Immer am Sonntag ab 10:00 Uhr ist meine neue Predigt abrufbar. Das war es, was ich eigentlich sagen wollte. Aber vielleicht haben Sie das ja sowieso schon gemerkt.
Apropos mein Blog: Da geht es wie immer um alles – aus dem Blickwinkel eines nur sehr langsam Heranwachsenden.
Inzwischen tapfer herabwachsend,
Hanno Rinke
Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)
So eine Routine gibt einem im Alltag Sicherheit. Zwischendurch braucht man dann Herausforderungen und Wechsel, damit einem nicht langweilig wird. Der eine braucht das bestimmt mehr als der Andere. Solange man selbst bestimmen kann, wie sich das alles abwechselt, ist doch alles gut.
Ich mag Routinen schon sehr. Manchmal ist das zu sehr der Fall, das gebe ich zu. Aber einen Zeitplan, der auf die Minute eingehalten werden muss, das ginge mir zu weit.
Das schafft ja nicht mal die Bahn.
Die schafft es am allerwenigstens. Hat sie nicht dieses Jahr ihr unpünktlichstes Jahr hingelegt? Oder habe ich mich da verlesen?
Allein, dass es glaubhaft klingt, sagt ja genug.
Jeder zweite Fernzug war verspätet. Das ist das, was ich gelesen habe. Ich wäre ja grundsätzlich bereit mehr mit der Bahn zu fahren, aber so unzuverlässig wie sie ist, kann ich mir das einfach nicht leisten.
Daran zu denken, dass durch die erforderlichen Erneuerungsmaßnamen die Situation in den nächsten Jahren noch schlimmer werden muss, ist eine gute Übung in Gelassenheit.
Die Kartoffeln gehen mir leichter von der Hand als der Rosenkranz.
Auch das Ergebnis ist leichter zu überblicken.
Ganz genau. Man sieht gleich was nach der Arbeit rauskommt. Beim Beten bleibt mir das zu schwammig.
Das Beten ist ja auch sehr egoistisch, während man die Kartoffeln auch für andere schälen oder aus dem Feuer holen kann…
Nicht allzu fromm _ Das passt dann gut zur Sonntagspredigt 😉
Jeder Mensch sucht sich halt seine eigenen Routinen. Der eine meditiert, der andere putzt die Wohnung, die nächste geht regelmäßig am Abend ins Fitnessstudio.
Und genau da kommt doch die Passage von Oben ins Spiel: „Natürlich macht es einen Unterschied, ob man in ein System gepresst wird oder ob man sich ein System schafft, innerhalb dessen man selbst gestaltet.“ Wer vom Partner zum Putzen verdonnert wird, der grummelt dabei vor sich hin. Wer das monotone Wohnung-putzen nutzt um dabei Abzuschalten, der macht das deutlich lieber.
Manchmal hilft es auch, den Partner abzuschalten.
Wie alt war Pali zu dem Zeitpunkt denn? Das scheint ja eine recht extreme Trotzreaktion gewesen zu sein.
Beim Führerscheinverlust war Pali 42. Kurz zuvor hatte er es mit seinem Fiat Spider und mir bis Sorrent geschafft. Das reichte ihm dann fürs Leben. Jedenfalls am Steuer.
Das ist ja trotzdem noch eine gehörige Portion Leben, die er dann ohne absolvieren musste. Aber gut wenn man jemanden findet, der einen fährt, ist es ja halb so schlimm.
Was Pali auch sagte: „Jeder leistet sich die Marotten, die er sich leisten kann.“ (Seine Taxen zahlte die Firma.)
Tja, da hatte er wohl recht und Glück im Unglück. Es stimmt natürlich, solche Marotten oder die damit verbundenen Entscheidungen sind nicht für jeden Mensch gleich.
Dieses Schaffen von Systemen bietet uns eben Sicherheit. Klar, am liebsten sind uns natürlich die eigenen Systeme. Trotzdem denke ich manchmal, dass die Leute, die alles über den Haufen werfen wollen, auch politisch, diesen Punkt gerne vergessen.
Eigene Systeme kann man sich nur in geringem Maß schaffen. Gut, es zu tun, wo es geht, zu akzeptieren, wo es nicht geht und den Unterschied richtig einzuschätzen.
Es ist ja immer gut, wenn man sich der eigenen Grenzen bewusst ist. Da spart man sich unnötige Kämpfe. Was man nicht verändern kann, muss man hinnehmen und dann schauen, wie man am besten damit umgeht.
Man kann sich dann alternativ ein eigenes System schaffen, wie man mit Dingen umgeht 😉
Sehr hilfreich! Dann ordnet man alle Ereignisse auf seiner eigenen Skala ein: von scheißegal bis durchdrehen.
Hahaha 😆
Wieviel Struktur man braucht damit man sich nicht leer fühlt, ist ja sicher auch eine Frage des Charakters. Ich mag es z.B. meine Routinen zu haben. Eine gute Freundin lässt sich viel eher treiben und wird eher gestresst wenn es zu viele Termine gibt.
Auch im Laufe des Lebens kann sich das ändern. Wer es in der Jugend wild trieb, kann sich im Alter oft gut treiben lassen.
Ich war auch überrascht, dass man sich mit den Jahren tatsächlich doch relativ stark verändert. Ich merke an mir selbst, dass ich viel gelassener mit ungewohnten Situationen und nervigen Menschen umgehen kann.
2023 ist ein besonders anspruchsvolles Gelassenheits-Training.
Das kam mir auch gleich in den Sinn. Diese vielen Krisen sorgen mich nach wie vor.
Herr Rinke, ich wollte nur einmal sagen, wie gut mir diese neuen Sonntagspredigten gefallen! Ihre Kommentare zu dem was gerade Thema in den Nachrichten und der Gesellschaft ist bzw., wie heute, ihre Gedanken zum Leben an sich, liefern mir immer wieder neue Sichtweisen auf eigentlich altbekannte Dinge.
Das freut mich. Vielleicht tue ich manchmal sicherer als ich bin, aber ich versuche eben auszudrücken, was ich fühle, Irrtümer nicht ausgeschlossen.
Irrtümer sind ja Teil des Lebens. Wer sich nur auf sicherem Terrain bewegt, der lebt meines Erachtens nicht wirklich.
Auch ein schönes Wort zum Sonntag. Ich würde mich da ganz gerne anschließen. Lieben Dank und eine schöne erste Adventswoche.
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