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0509
Sonntagspredigten

Betrifft: Schlotternd auf der Waage

Liebe Leserinnen und Leser,

heute wird ja alles auf die Waage gelegt: Was erlauben Sie sich?! Was erlaube ich mir, was erlauben die anderen mir oder sich selbst? – Eine Waage, die Gewicht hat. Wieso eigentlich? Für Gold zu klobig, für Bonmots nicht spitzen-findig genug. Es kommt mir so vor, als würden die früher Ausgegrenzten jetzt darüber befinden, wer von nun an ausgegrenzt zu werden hat, und alle Fortschrittlichen machen mit – aus Einsicht oder um nicht selber am Pranger zu stehen. Mitläufer immer und überall: bei den Preußen, bei den Nazis, bei den Gesinnungsfaschisten. Dagegen steht die freie Meinung. – Steht sie?

Je informierter eine Gesellschaft ist, desto widersprüchlicher wird sie. Wer nicht wissen will (Dummheit/Trägheit) oder wissen darf (Familie/Diktatur), ist leichter manipulierbar. So mögen es totalitäre Regime. Demokratie muss Opposition aushalten. Das macht sie verwundbar und flexibel. Sie macht aus allem eine Abstimmung, so, wie der Kapitalismus aus allem ein Geschäft macht. Der/die Stärkere setzt sich bei beiden durch. Aber Stärke: Das kann Mehrheit, Pfiffigkeit oder Überzeugungskraft sein. Bloße Muskelpakete reichen nicht mal im Boxring.

Nun erleben wir den Ringkampf ums Kanzleramt. Die Medien freuen sich, dass es wohl doch etwas spannender wird als erwartet, was aber nicht an der Brillanz der Kandidaten liegt, sondern an der Brisanz der Ereignisse. Täglich neue Eindrücke stürmen Einfluss heischend auf uns ein, und jede(r) müht sich: nicht so sehr, das Richtige zu versprechen (denn was wäre das?), sondern vor allem, das Verkehrte wegzulassen, also sich nicht zu versprechen. Wobei: Das Richtige wegzulassen wäre auch verkehrt, und so erfahren wir notgedrungen dauernd etwas über die Mission der Soldatinnen und Soldaten, die wir zu bewundern haben, so, wie wir im schlimmsten Fall deren Leichen und Leichlinge betrauern müssen. Zapfenstreich! Ach ja. Wir haben die Lage verkehrt eingeschätzt. Wer sind wir und war unser Fehlurteil fahrlässig, verlogen oder verzeihlich? Wir werden einander viel verzeihen müssen, glaubte Jens Spahn im Frühjahr 2020. Verzeihen wir aus Großmut oder aus Gleichgültigkeit? All das, was darüber im Netz steht, können wir lesen und glauben – oder nicht.

Schlussfolgerungen von Außenstehenden mit Misstrauen zu begegnen, das ist digital und sogar analog okay. Aber solche Wachsamkeit ist nicht nur bei der Einschätzung fremder Mutmaßungen, sondern auch bei der Infragestellung eigener Erlebnisse geboten. Wenn man sich zum Beispiel, während man einen Orgasmus durchlebt, fragt: ‚Ist das jetzt eigentlich geil genug?‘, dann ist es eher nicht geil genug. Auch unsere Protagonisten bewegen sich ganz allmählich auf den Höhepunkt zu, sind also noch weit entfernt vom Bilanzieren. Wie wir.

Im selben Boot,
Hanno Rinke

11 Kommentare zu “Betrifft: Schlotternd auf der Waage

  1. Manchmal setzen sich gut begründete, sachliche Argumente durch, oft ist es auch nur ein reißerischer Spruch, kombiniert mit der genügenden Portion Persönlichkeit. Stärke kann tatsächlich vieles sein.

    1. Ich würde ja eigentlich auch immer dafür plädieren den Dialog mit querdenkenden Menschen zu suchen. Aber es scheint, dass es keine große Bereitschaft gibt auf einer sachlichen Basis zu diskutieren.

  2. Je informierter eine Gesellschaft ist… Ich frage mich ja immer noch ob durch das unendliche Ausmaß an Information wirklich mehr individuelles Wissen zustande kommt. Ich zweifle daran.

    1. Man muss schon Initiative ergreifen um sich die ‚richtigen‘ Informationen herauszusuchen und sich das Wissen entsprechend anzueignen.

    2. Im einzelnen schon. Wer aber nur wahrnimmt, was in sein Weltbild passt oder einen wütenden Shitstorm ermöglicht, der bleibt arm im Geiste, kommt also laut Jesu Bergpredigt in den Himmel.

      1. Da kann man diesen Menschen, die arm im Geiste bleiben (wollen) wohl nur die Daumen drücken, dass das wirklich stimmt.

  3. Wer hätte vor ein paar Wochen gedacht, dass Scholz kurz vor der Wahl der klare Favorit im Bundeswahlkampf sein würde. Tatsächlich recht brisante Entwicklungen.

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