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0708
Sonntagspredigten

Betrifft: Abschießen!

Liebe Leserinnen und Leser,

vor drei Wochen, am 18. Juli, in Bern: Lauwarm. Nichts Ungewöhnliches für einen Schweizer Sommerabend. So heißt allerdings außerdem eine Band, die Dreadlocks auf dem Kopf hat und Reggae in Fingern und Stimmen. „Das geht gar nicht!“, fanden einige Zuhörer und sprachen mit dem Veranstalter. Der brach die Veranstaltung ab und entschuldigte sich schriftlich. Im Vorfeld habe er sich nicht genügend mit dem Thema ‚kulturelle Aneignung‘ beschäftigt, zumindest hätte er das Publikum ‚besser schützen müssen‘.1 Denn die Reggaeaner waren – o Gott! – Weiße.

Kulturelle Aneignung gehört zu den vielen Dingen, die die Nachkommen derer, die so vieles falsch gemacht haben, weiterhin falsch machen können. Meine Indianerhaube, als ich fünf war zum Beispiel, und die womöglich zigeunergestohlenen langen, plissierten Röcke, die meine (polnisch geborene) Mutter damals trug. Nicht so schlimm, tröstet La Mamita: ‚Der Gipsy-Look ist in Wirklichkeit ein Vintage-Ethno-Stil, der überarbeitet und mit dem Bohème-Stil und dem Hippie-Stil gemischt wurde.‘2 Darf man das? Ich sehe echt woke Fortschrittler längst viel weitreichendere Forderungen stellen, nachdem ja bereits durchgesetzt worden ist, dass eine Nichtschwarze lieber nicht das Gedicht einer in meiner Jugend ohne böse Hintergedanken als ‚Negerin‘ bezeichneten Frau übersetzen soll – weil: kulturelle Aneignung! Das gilt aber nicht nur schwarz-weiß, sondern für alle Schattierungen. Gut so. Man muss erst mal immer mehr fordern, als man nachher zu kriegen hofft: Basar des Lebens.

Kreischende Jubeltrinen dürfen demgemäß in Fernsehfilmen nur von auch im realen Leben ständig quietschenden Schwuchteln dargeboten werden, raffgierige Juden sind TV-mäßig gestattet, wenn raffgierige Juden sie spielen (mit überzogener Gage). Wobei das Thema allerdings heikel bleibt: Wenn im ‚Tatort‘ ein Asylant verdächtigt wird, weiß ich gleich, dass der als Täter ausscheidet. Trauen sich die Öffentlich-Rechtlichen nicht. Wäre ja auch dramaturgisch weniger ergiebig als der beste Freund des Toten, der der heimliche Liebhaber dessen minderjähriger Tochter – moderner: dessen hübschen Sohnes – ist und der den misstrauisch gewordenen Vater (männlich), von langer Hand geplant oder ganz spontan, zur Leiche (weiblich) gemacht hat. Ja, ich kenne die Schliche der Autoren schon recht genau, war aber trotzdem immer bereit, auch die dreifachen Rundfunkgebühren zu zahlen, um werbefrei fernsehen zu können. Nicht mehr. Von mir aus soll das ZDF am Lerchenberg und jede der neun ARD-Fernsehanstalten zu – allmählich wieder zeitgemäßen – Flächenbombardement-Übungen freigegeben werden. Jeden Abend werde ich von denen mit Fußball gequält. Irgendein Weiberhaufen oder Vereinswettbewerb tobt immer. Gäbe es nicht Netflix – ich hätte mich längst umgebracht oder ein gutes Buch gelesen. Sollte irgendwann mal wieder etwas anderes infrage kommen als der allabendliche Sport fremder, hochbezahlter Leute oder die Wiederholungen von Oftgesehenem, dann würde ich mich als pflichtbewusster Bürger natürlich zur Verfügung stellen: für Reality-Show und Absurditäten-Quiz. Ich kann: ausgeschiedener Manager eines Weltunternehmens, verkrachter Künstler, Vierteljude, alter Schwuler, fröhlicher Erbe und tapferer Behinderter. Das muss doch wohl reichen!

In Berlin 2000 war ich das meiste davon auch schon, aber im Blog thematisiere ich natürlich Interessanteres.

Versprochen,
Hanno Rinke



Quellen: 1 Veranstalter ‚Brasserie Lorraine‘ | 2 https://www.lamamita.de/fashion-style/gypsy-kleidung
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

13 Kommentare zu “Betrifft: Abschießen!

  1. Wenn es kein Aufgreifen von kulturellen Strömungen in der Musik geben dürfte, dann gäbe es die Hälfte der heutigen Musikstile nicht. Diese Diskussion erscheint mir also ziemlich platt.

    1. Es scheint auch so ein hilfloses Argument zu sein. Jeder für sich, nichts darf sich überschneiden. Letztendlich separiert uns das doch auch alle wieder.

  2. Der Tatort will ja auch nicht wirklich aufwirbeln, sondern hauptsächlich unterhalten. Heißdiskutierte Themen dürfen da nur ganz oberflächlich mal gestreift werden, sonst springen nachher die Gebührenzahler ab.

    1. Ich bin auch schon vor langer Zeit aufs Streaming umgestiegen. Die Öffentlichen hinken mir dann doch zu weit hinterher. Und auf den Privaten läuft größtenteils Müll.

      1. Es ist ja ein wenig absurd, dass nun die ersten Streamingdienste wieder Werbung integrieren wollen. Zumindest für die billigeren Abo-Modelle. Da geht man dann quasi 180° zurück zur gleichen Idee, wie im privaten Fernsehen.

      1. Ich habe mit der Zeit das Interesse verloren. Es wiederholt sich ja so vieles. Aber vielleicht sollte ich doch noch einmal einschalten. Mittlerweile haben sich bestimmt genügend Dinge verändert.

      2. Ich finde die Öffentlichen auch nach wie vor wichtig. Klar, das Programm sollte man überarbeiten. Aber man sollte ja generell immer wieder hinterfragen, was man tut oder anbietet. Da sind ARD und ZDF natürlich keine Ausnahme. Verzichtet möchte ich trotzdem nicht.

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