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Sonntagspredigten

Betrifft: Alp(en)träume

Liebe Leserinnen und Leser,

früh habe ich erkannt: Das Leben muss nicht schön sein, sondern wichtig. ‚Schön‘, das hat man nicht in der Hand und es klappt sowieso nicht. Beim Stichwort ‚wichtig‘: Da kann man selbst etwas tun. Ich arbeite immer noch daran, oder genauer gesagt, daran, dass die anderen es auch merken, weil ich mich offenbar nicht darauf verlassen mag, dass ich selber zu wissen glaube, wie es um mich bestellt ist, sondern dass es mir lieber wäre, wenn andere das behaupten: „Sein Leben ist wichtig!“ Wenn ich einem Konzern mit 600 000 Beschäftigten weltweit vorstände; wenn ich sechs Menschen zum wahren Glauben bekehrt hätte – wann findet wer mich wichtig? Publikum zählt. Da kann es, äußerlich betrachtet, arthouse-langweilig sein, aber innerlich ist es ein Action-Thriller. Woher sollen diese ‚anderen‘ das wissen? Die linke Position wäre: Jedes Leben ist gleich wichtig (muss sich allerdings der Idee vom anzustrebenden Fortschritt unterordnen); die rechte Position wäre: Unser Leben findet Erfüllung in der Unterordnung unter die Idee der Volksgemeinschaft und unter ihren Durchsetzer (Führer). Wer nicht dazugehört, hat zu verschwinden. Beide Positionen widerstreben mir. Hier, an meinem Wohnsitz in den südlichen Alpen, wirkt die Gegend bis auf vermeidbare Gletscher-Unglücke in Ordnung. Lasse ich den Rest der Welt in meine Gedanken, türmt sich ein gipfelloses Chaos vor mir auf.

‚I have a Dream‘ – unter diesem Titel ist Martin Luther Kings Rede von 1963 in die Geschichte der Rhetorik eingegangen. Dazu schrieb der FBI-Mann William Cornelius Sullivan: ‚Im Lichte von Kings einflussreicher demagogischer Rede gestern glaube ich persönlich, dass er alle anderen Negerführer zusammengenommen weit überragt […] Wir müssen ihn jetzt […] als den gefährlichsten Neger der Zukunft in dieser Nation kennzeichnen […].‘1 Gefahren sehe auch ich, wenn ich mich nachts um Schlaf bemühe.

Ich habe ebenfalls einen Traum, aber einen weniger utopischen: Trump ist zum zweiten Mal Präsident der USA. Der Supreme Court hat den Willen der Evangelikalen umgesetzt, Putin beginnt nach Wiedereingliederung der Ukraine, Moldawiens und Georgiens in sein Reich, es mit Estland zu versuchen. Interessiert Trump nicht besonders: kleines Land, irgendwo. China hat sich Taiwan geschnappt und zeigt den Europäern über seine Seidenstraße, wo es lang geht und was eine Harke ist. Rechts oder links? – Völlig egal. Jetzt schon ist die Situation verfahren. Hier in Italien will Draghi bald aufhören. In Frankreich brodelt es von beiden radikalen Seiten, Erdoğan stänkert in der NATO. Selbst im disziplinierten Japan Attentate. Zukunft Großbritanniens: völlig ungewiss. Am liebsten möchte ich aufwachen. Aber die Wirklichkeit bietet allenfalls die Möglichkeit, wieder einzuschlafen und weiter zu träumen.

Hilflosigkeit ist ein erbärmliches Gefühl. Wenn ich jetzt meine im Blog veröffentlichten Erinnerungen von 2000 lese, dann tröste ich mich: Verändert habe ich nichts, aber nachgedacht habe ich über vieles. Das muss mir dann wohl ‚wichtig‘ genug sein, denn noch wichtiger wird es nicht mehr.

Herzliche Grüße aus einem unbeschwerten Leben,
Hanno Rinke



Quelle: 1 ‚The FBI’s War on King‘
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

12 Kommentare zu “Betrifft: Alp(en)träume

  1. Wenn man die Nachrichten schaut, denkt man oft, dass sich die Dinge doch nicht ändern lassen. Vielleicht muss man doch öfters die Schönheit suchen um nicht zu verzweifeln.

      1. Es scheint sie sind auf dem besten Wege zurück. Spätestens die Novemberwahlen werden ein klares Bild zeichnen.

      2. Was wäre denn die beste Option? De Santis anstelle von Trump? Ein 82-jähriger Biden?

      3. Das scheint ja ein allgemeines Problem zu sein. Es gibt so wenig inspirierende Politiker. Die meisten verderben einem das Interesse eher als dass sie die Menschen zu begeistern wissen.

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