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Sonntagspredigten

Betrifft: Der Papst vor einer Woche

Liebe Leserinnen und Leser,

heute ist Sonntag, der 8. August, und ich lese gerade, der Summus Pontifex hat dazu aufgerufen, um 12.00 Uhr weltweit das ‚Vaterunser‘ gegen Corona zu beten. – Hat der sie noch alle? Von Merans Hauptkirche St. Nikolaus höre ich es im Augenblick 12.00 Uhr schlagen, und ob ich Gott oder Karl Lauterbach mit diesem Thema belästige, scheint mir gleichermaßen zwecklos. Trotzdem: Als ehemals frommer und nach wie vor interessierter katholischer Renegat will ich mich jetzt, wie von Franziskus dem Ersten erbeten, diesem Text widmen.

Zunächst einmal: Gottes Wille ist, dass der Mensch einen freien Willen hat. Warum er dann durch Gene und Umwelt so unterschiedliche Bedingungen schafft und außerdem im Judentum und im Islam beleidigt straft, wenn ihm was nicht passt, muss man tiefgläubige Menschen nicht hochmütig fragen. Aber sich selber fragen darf man das schon – seit geraumer Zeit sogar laut, ohne dafür verbrannt zu werden.

Das ‚Vaterunser‘1 wurde mir 1954 von meiner bigotten Großmutter während meiner Sommerferien im Adria-Badeort Riccione eingetrichtert. Sie war entsetzt, dass mich meine Eltern mit diesem wichtigsten aller Gebete noch nicht drangsaliert hatten, und ich hasste seine ehrwürdigen Zeilen von Anfang an. Jeden Abend betete ich zu Gott, aber mit meinen eigenen Worten; zu den vorgestanzten hatte ich keinen Bezug. Nachdem die katholische Kirche seit 1970 darauf verzichtet hatte, das weltweit geläufige lateinische ‚Pater noster‘ während der Messe aufsagen zu lassen, entsprach die ausgeleierte deutsche Version nicht mal mehr meinem Bedürfnis nach Elitärem. Da prahlte ich lieber mit auswendig gelernten Schiller-Balladen und hörte mir italienische Canzoni an, deren Texte meinen Verstand nicht beleidigten, weil ich sie damals nicht verstand.

Vater unser, der Du bist im Himmel …
Gott muss überall sein. ‚Oben‘ und ‚unten‘ gibt es nicht. Nur Engel lungern auf Wolken rum.

… geheiligt werde Dein Name.
‚Werde‘? Er ‚ist‘ heilig, gleich ob er nun Jehova, Allah oder Beelzebub heißt. Werden kann nur etwas Unvollkommenes, und Menschen können nicht über Heiligkeit bestimmen.

Dein Reich komme.
Lieber nicht, sonst ist ja Schluss hier.

Dein Wille geschehe, …
Gottes Wille geschieht natürlich. Sonst wäre er nicht er. Und ihm das mitzuteilen ist überflüssig, gilt als fromm, ist aber anmaßend.

… wie im Himmel also auch auf Erden.
Na klar! Aber was ist mit der Hölle?

Unser täglich Brot gib uns heute.
Das hat mich Essensverweigerer damals immer abgeschreckt: „Lieber Gott, mach, dass ich heute nicht wieder dieses zähe, zadderige Kalbsfrikassee essen muss!“, wäre einleuchtender gewesen. Gott gibt das Brot oder er lässt es sein. Ihn in seinem Ratschluss beeinflussen zu wollen bedeutet: ihm nicht zu trauen oder zu meinen, man könne ihn rumkriegen zu etwas, was er nicht bedacht hat oder nicht wollte.

Und vergib uns unsere Schuld, …
Darunter konnte ich mir in Riccione nicht viel vorstellen und fand es wichtiger, dass mir meine Eltern meine Ungezogenheiten nicht übelnahmen. Später schämte ich mich meiner Unkeuschheit, aber heute sehe ich ein, dass den Wunsch nach Vergebung auszusprechen, für reuige Täter eine Erleichterung darstellt, obwohl diese Aufforderung an Gott wieder völlig unangemessen ist.

… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Warum soll ich Gott das erzählen? Damit er sich ein Beispiel an mir nimmt? Vermutlich ist es als Vorsatz gemeint.

Und führe uns nicht in Versuchung, …
Warum sollte er das auch tun? Dafür ist doch der Teufel zuständig – oder Gottes liebe Schlange.

… sondern erlöse uns von dem Bösen (früher: ‚Übel‘).
‚Erlösung‘ ist ein wundervolles Wort. Und dass ein Gebet sie beschwört, ist verständlich, auch wenn es taktlos ist, Gott daran zu erinnern – als ob er es sonst vergessen könnte.

Denn Dein ist das Reich
und die Kraft
und die Herrlichkeit
in Ewigkeit.
Amen.


Dieser Schluss ist von den Protestanten übernommen worden und war mir deshalb immer despektierlich.
Mir ist klar, Gebete dienen der Selbstbestätigung, und deshalb ist es naiv von mir, jene Verse so zu zerpflücken, als lausche da oben wirklich jemand diesen bis zum Überdruss gebrabbelten Worten. Auf den Blog bezogen: Bevor es ziemlich unchristlich wird, werden wir in unserer Erzählung noch einmal die Stimme der Kirche hören, einschließlich Bibel-Zitat.

Ungläubig, aber mit Sinn für Pietät,
Hanno Rinke



(1Quelle: mündlich überliefert; offizielle Versionen: siehe Wikipedia)

10 Kommentare zu “Betrifft: Der Papst vor einer Woche

  1. Der Papst will gegen Corona anbeten? Ich hatte solche verblendeten und pseudo-religiösen Sachen bisher nur aus Amerika gelesen.

    1. Solange man trotzdem der Medizin und Wissenschaft vertraut, kann man ja gerne zusätzlich beten. Als Ersatz soll das ja hoffentlich nicht verstanden werden.

    2. Der Papst sollte seine Position vielleicht ausnutzen, um zusätzlich die Menschen zu ermuntern der Wissenschaft zu folgen und alle nötigen und möglichen Maßnahmen zum Schutz vor einer Ansteckung zu ergreifen. Man könnte natürlich auch einfach für die Vernunft der Menschen beten.

  2. Sich selber darf und muss man fragen. Vermutlich tun das heute auch deutlich mehr Menschen als früher. Es kann aber natürlich auch sein, dass man einfach aus Faulheit und generellem Desinteresse nicht zum Gottesdienst geht.

    1. Muss man selbst glauben um etwas überhaupt als unchristlich wahrzunehmen? Jedenfalls wäre das kein Wort, das mir jemals in den Sinn käme.

      1. Unchristlich heisst natürlich zuerst einmal das etwas nicht dem christlichen Glauben entsprechend ist. Das kann man aus eigener Überzeugung sagen, oder weil die Oma das Wort auch immer benutzt hat. Aber irgendeine Art der Bindung zu diesem Wort braucht es wohl.

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