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Sonntagspredigten

Betrifft: Zuvorkommen und Hinterherzotteln

Liebe Leserinnen und Leser,

zwei Wochen lang habe ich keine Nachrichten gesehen. Nun kann ich also die herrschenden Zustände genauso lebhaft diskutieren wie all die anderen, die auch nichts von der Sache verstehen: „Erst kommt meine Meinung, dann kommen die Tatsachen, die sich mir anzupassen haben.“ Zitat Ende. (Von mir erfundenes Fake-Zitat übrigens.) Zwei Wochen ohne Fernsehen, Smartphone und soziale Medien – das halte ich aus! So alt bin ich! Heute ist sogar mein Geburtstag. Nun bin ich also noch älter, ein Sonntagsgreis. Um mich wieder an die Welt zu gewöhnen, habe ich mich langsam herangetastet, nicht gleich mit Video-Clips, sondern über das Wort. Da las ich im ‚Spiegel‘ Nr. 24 die Titelgeschichte von Ullrich Fichtner. Wasser auf meine ausgetrockneten Mühlen:

‚Der linksliberale, antimilitaristische Mainstream zu Zeiten der guten alten Bundesrepublik (…) war aber womöglich eine durch und durch verlogene Veranstaltung. Denn wenn es stimmt, dass der Frieden in Europa im Wesentlichen den Atomwaffen und den Amerikanern zu verdanken ist, dann hieße das ja, dass der ganze gemütliche pazifistische Lifestyle nur möglich war, weil kriegerische Falken die ganze Zeit über ihn wachten. In diesem Licht sieht die ganze bundesdeutsche Friedensbewegtheit, samt ihrem eingefleischten Antiamerikanismus, wie der moralische Luxus einer Gesellschaft aus, deren Sicherheit – ausgerechnet durch die Amerikaner – ohne eigenes Zutun garantiert war.‘1

Das las ich sicher lieber als viele andere, die noch Anfang Februar in Leserbriefen darüber informiert hatten, dass sie den ‚Spiegel‘ wegen dessen unfairer Russen-Berichte abbestellen würden.

‚Focus‘-Leser sind abgebrühter. Sie finden, Scholz solle nicht immer mit Entscheidungen hinterherhinken und auch nicht Putin um Telefon-Audienz ersuchen, sondern den Waffenlieferungen an die Ukraine weniger im Wege stehen. Sie stimmen Jan Fleischhauer zu, wenn er schreibt:

‚Wer weiter die Hand ausstreckt, trotz schockierendster Grenzüberschreitungen, zeigt damit, dass er es mit den angekündigten Strafen nicht wirklich ernst meint. Aber vielleicht geht es ja genau darum: Putin zu signalisieren, dass man sich schon irgendwie einig wird, wenn er an den Verhandlungstisch zurückkehrt.‘2

Ich war in den Siebziger-, Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts jedes Jahr in New York und in Ostberlin und jedes zweite in Moskau. Ich machte mir mein eigenes Bild. So kam ich vielen Gläubigen und Skeptikern zuvor. Daheim waren meine politischen Ansichten dem progressiven Teil der Bevölkerung genauso wenig willkommen wie dem konservativen Teil meine sexuellen. Ich wusste, ohne die Übermacht der USA hätten sich die braven Leipziger ihre Beine abmarschieren können, ohne dass die Mauer gefallen wäre.

Jetzt, im Alter, bin ich Mainstream, aber froh über den Abstand, den mir ein paar Monate Italien bieten werden. Vorige Woche sind wir über Berlin angereist. Ich fand es unverändert veränderlich. Vielleicht schreibe ich später noch etwas über die neuen Erfahrungen, aber jetzt lade ich erst mal dazu ein, meine Erlebnisse von damals weiterzuverfolgen: Die böse alte Zeit bietet ja immer Stoff, sich besser und im Recht zu fühlen.

Rechthaberisch, aber zuvorkommend,
Hanno Rinke



Quelle: 1 ‚Der Spiegel‘ vom 11.06.2022, Ullrich Fichtner: ‚Widerwillige Weltmacht‘ | 2 ‚Focus‘ vom 11.06.2022, Jan Fleischhauer: ‚Scholz und Macron missachten den wichtigsten Rat von Psychologen im Umgang mit Gewalttätern‘
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

24 Kommentare zu “Betrifft: Zuvorkommen und Hinterherzotteln

  1. 2 Wochen ohne Social Media schaff ich nicht. Nach spätestens zwei Tagen brauch ich ein Update von meinen Freunden, die auf der ganzen Welt verteilt leben.

      1. Abhängigkeiten sind einschränkend, aber Janis Joplin wusste schon, dass ‚Freiheit‘ nur bedeutet, dass man nichts mehr zu verlieren hat. Auch kein glücklicher Zustand.

    1. Ich denke ja immer, dass es allen gut geht, solange ich nichts anderes höre. Das hilft vielleicht nicht jedem, aber mir macht es das Leben doch leichter.

  2. Nach meiner Meinung hat Putin alles verspielt und reden sollte man mit ihm auch nicht weiter. Luftraum schließen, Ukraine alles an Munition nötige zur Verfügung stellen und ihn ausbluten lassen. Bei 35 Grad braucht kein Mensch russisches Gas.

      1. Hat man nicht eh immer ein ganzes Jahr lang Geburtstag?! Herzliche Glückwünsche!

  3. So richtig nach Mainstream klingen Sie meistens gar nicht. Ob da wieder ein Jahr dazugekommen ist, oder nicht. Meine Glückwünsche sende ich trotzdem allzu gerne!

      1. Das soll Ihnen auch gegönnt sein. Es können und müssen ja die nächsten Generationen nun ihren Beitrag leisten.

      2. Es wäre ja auch schwierig es allen recht zu machen. Man muss sie ja nicht lesen, wenn man keinen Gefallen daran findet.

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