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2002
Rundbriefe

Betrifft: Was mich interessieren würde

Liebe Leserinnen und Leser!

Worin besteht der Unterschied zwischen a) einem Arschficker der Nation und b) einem Juden?

a) Den ersten Ausdruck hat Demonstrantin Stefanie F. sächsischen Polizisten entgegengeschleudert. Dafür kam sie vor Gericht. Ihr Anwalt Martin Kohlmann argumentierte, das sei keine Beleidigung, weil ‚jede Art von Schwuchtelei im Fernsehen als ehrenwert dargestellt‘1 würde. Diese Bezeichnung ist also positiv zu werten.

b) Den zweiten Ausdruck bittet die digitale Duden-Redaktion nicht mehr zu verwenden, weil die Bezeichnung als diskriminierend empfunden werden könnte. Die Verwendung erinnere an den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten. Alternativ wären die Bezeichnungen ‚jüdische Menschen‘ oder ‚Menschen jüdischen Glaubens‘ geeignet. Diese Bezeichnung ist also negativ zu werten.2

Wer sitzt denn da wohl beim Duden und macht Männchen? Vor welchem Zeitgeist eigentlich? Ficken und Fotze werden ausgesprochen hemmungslos ausgesprochen, auch in Fernsehbeiträgen zur besten Sendezeit. Jude muss dann so unanständig sein wie das Wort ‚Neger‘, das nicht mal mehr nach 22.00 Uhr gesagt werden darf, wenn die Programme immer mal wieder ‚für Jugendliche nicht geeignet‘ sind.

In den Filmen meiner Jugendzeit war das N-Wort völlig gebräuchlich, ohne dass sich Schwarze oder Weiße daran je störten. Dass ein Wort nachträglich zum Schimpfwort wird, ist selten. Üblicher ist es, dass ein ursprünglich unfreundlich gemeintes Wort später selbstverständlich wird: ‚schwul‘ zum Beispiel.

Jetzt sollen also die Juden zu Negern gemacht werden. Ich kenne Juden, die nicht ‚jüdischen Glaubens‘ sind. Es gibt sogar Menschen, die zum jüdischen Glauben übergetreten sind, obwohl ihre Eltern reinrassige Katholiken waren, Elizabeth Taylor zum Beispiel. Die Nazis haben auch andere Wörter im ‚Sprachgebrauch‘ gehabt, die wir immer noch benutzen, vor allem, wenn sie keine Eigenerfindung der Nazis waren. Da wird etwas hochgejubelt, und diejenigen unter uns, die Wert darauf legen, zu den Anständigen zu zählen, diese aufgeschlossenen Mitbürger richten sich lammfromm danach.

Mit genügend PR, also Geld, könnte ich den Menschen über alle erdenklichen Medien eintrichtern, dass zlisch das allergemeinste Wort sei, die schlimmste Beleidigung, die man sich denken könnte, und wer zlisch öffentlich sagt, muss zurechtgewiesen und geächtet werden. Wer aber selber zlisch ist, der oder die hat keinen Platz in einer aufgeklärten oder in der querdenkenden Gesellschaft, je nachdem. Diese Person ist nämlich entweder stinkhässlich oder abgrundtief unmoralisch, was immer hineininterpretiert wird. Und – sieh bloß! – gerade diese Interpretation ist ein so deutliches Anzeichen für die Spaltung unserer Gesellschaft, dass kein selbstbewusster Kulturkritiker es sein lassen kann, mit einer Interpretation dieser Interpretation zu glänzen: digital und analog.

Für die einen sind die Juden also das auserwählte Volk, für die anderen sind sie ganz einfach zlisch – oder zumindest ‚zlisch‘ konnotiert. Es zählt ja nicht die Religion, sondern die ‚Rasse‘. Mich würde ein Versuch interessieren, bei dem zehn Nigerianer, zehn Chinesen und zehn Finnen gleich von Geburt an unter genau denselben Bedingungen aufwachsen. In den unterschiedlichsten Konstellationen: arm, religiös, misshandelt – reich, religiös, misshandelt – reich, atheistisch, misshandelt – reich, atheistisch, verwöhnt – reich, religiös, verwöhnt – arm, atheistisch, misshandelt – arm, atheistisch, verwöhnt – arm, religiös, verwöhnt. Was dabei wohl herauskäme? Die 68er behaupteten, dass der Mensch ganz und gar von seiner Umwelt geprägt werde, Royalisten müssen sich auf die Gene berufen. Anders wäre Gottesgnadentum nicht erklärbar.

Ich fürchte, mein Versuch käme zu keinem klaren Ergebnis. Es wird in jeder der acht Konstellationen unter jeder der drei Nationen Sieger und Verlierer geben, und repräsentativ ist das Modell ohnehin nicht. Welche Schlussfolgerungen ich daraus auch zöge: Ich würde wütenden Protest ernten. Und begeisterte Zustimmung. Denn in irgendein Weltbild passen meine Beobachtungen immer.

Berlin versucht wieder, dieser Schmelztiegel unterschiedlichster Menschen zu werden, der die Stadt in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war. Betrachten also auch wir lieber weiterhin all die vielen Einzelnen mit ihren Errungenschaften und Enttäuschungen, ohne uns am kranken Volksempfinden zu stoßen!

In Aufbruchstimmung,
Hanno Rinke

Übrigens: Lässt sich zlisch nicht viel gemeiner hervorstoßen als Scheiße?



1–2 ‚Der Spiegel‘ 7/2022 vom 11.02.2022 („Der Begriff ‚Jüdischer Mitbürger‘ exotisiert uns“ / „Woher kommt die Wut? Und geht sie wieder weg?“
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

15 Kommentare zu “Betrifft: Was mich interessieren würde

  1. Was für ein interessantes und schwieriges Thema. Grundsätzlich haben Sie recht – jedes Wort kann unter den falschen Umständen als herabsetzend gewertet werden. Verbieten kann man deswegen wirklich nicht alles.

      1. Da gibt es wohl keine einfache Antwort drauf. Ich würde ja sagen, dass man nachgeben sollte, wenn, wie Lukas annimmt, tatsächlich eine Gruppe mehrheitlich derselben Meinung ist. Ich finde das aber häufig schwer zu beurteilen. Im Beispiel von Herr Rinke oben merkt man ja, wie so etwas ziemlich falsch laufen kann.

      2. Ich finde auch, dass man da unterscheiden muss. Wenn der Duden auf einmal erklären will, was man sagen ‚darf‘ und was nicht, dann läuft was falsch. Scheint hier ja auch genauso passiert zu sein. Jedenfalls schien Zentralratpräsident Schuster irritiert. Wenn nun die Gemeinschaft der Afrodeutschen sagt, sie empfinden den Ausdruck N***r als diskriminierend, dann sollte man das so akzeptieren. Das hat ja dann nichts mit Sprachpolizei zu tun, sondern mit gegenseitigem Respekt.

  2. Das habe ich ja noch nie gehört. Und die Begründung ist wirklich, dass die Nazis das Wort „Jude“ verwendet haben wenn es um Juden ging?

  3. Hmm. Und was sagt der Zentralrat der Juden oder die jüdische Gemeinschaft dazu? Kommt der Wunsch aus deren Kreisen oder hat sich jemand von außen gedacht, dass man da vorsichtig sein sollte?

    1. Das hat mich auch interessiert. Ich habe gerade einmal gegoogelt und es scheint, als hätte mal wieder jemand über den Kopf der eigentlich Betroffenen entschieden: Der Zentralrat der Juden äußert Kritik am „besonderen Hinweis“ im Duden beim Eintrag zum Begriff Jude. In dem Wörterbuch heißt es: „Gelegentlich wird die Bezeichnung Jude, Jüdin wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch als diskriminierend empfunden. In diesen Fällen werden dann meist Formulierungen wie jüdische Menschen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Menschen jüdischen Glaubens gewählt.“ Doch Zentralratspräsident Josef Schuster betonte: „Das Wort ‚Jude‘ ist für mich weder ein Schimpfwort noch diskriminierend.“ Die Duden-Redaktion kündigte eine Überarbeitung an.

      1. So etwas hätte man sich ja denken können. Da ist also wirklich jemand wieder über das Ziel hinaus geschossen.

  4. Berlin will immer Schmelztiegel sein und irgendwie klappt das ja auch. Trotzdem gibt es immer wieder Fremdenhass, Antisemitismus usw. Liegt es einfach in der Natur des Menschen? Oder schafft man es doch in ferner Zukunft zusammenzuleben?

    1. Ich fürchte solche Tendenzen gibt es überall. Egal in welcher Stadt, egal in welchem Land. Alles andere ist leider Utopie.

  5. Der riesengroße Unterschied zwischen dem N-Wort und dem Wort „Jude“ ist nunmal, dass es schwer ist einen Afro-Amerikaner oder Afro-Deutschen zu finden, der froh wäre mit dem N-Wort angesprochen zu werden. Juden, die sich nicht als Juden identifizieren bzw. die man so nicht bezeichnen soll, sind mir persönlich noch nicht untergekommen.

    1. In meiner Jugend fand kein Schwarzer etwas dabei ‚Neger‘ genannt zu werden. In den Filmen dieser Zeit wird das Wort völlig arglos gebraucht. Aber wenn ich einem Wort lange genug Bosheit unterstelle, wird es böse. Zlisch eben.

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