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Rundbriefe

Betrifft: Glauben und Turnen

Liebe Leserinnen und Leser,

weder bin ich erbsündenbesudelt auf die Welt gekommen, noch hat sich ein Stück Gottes zunächst für mich kreuzigen und anschließend von Gutgläubigen für seine Rückkehr bewundern lassen. Es bedarf keiner Priester, die kleinen Jungen in die Hose fassen, um zu erkennen, dass die ganze Angelegenheit auf einem Quatsch beruht, der seit zweitausend Jahren als erhaben gilt. Ja, ich weiß: ‚Quatsch‘ ist ein gänzlich unangemessenes Wort für etwas, das so viel Unrecht, Angst und Leid verursacht hat wie die Religionen. Und wofür das Ganze? Die meisten Menschen müssen sich offenbar einem einzigen ausgedachten Gott oder gleich drei bis hundert erfundenen Göttern zuwenden und für diese Hirngespinste Rosenkränze runterleiern oder fünfmal am Tag nach Osten beten, um ertragen zu können, dass sie sterben werden. Der Sinn des Lebens ist das, was wir daraus machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das kann ins Kloster, ins Hilfswerk oder ins Gefängnis führen. Zu glauben, dass es nach dem Tod weitergeht, hilft natürlich dabei, die Umwelt für seine Nachkommen zu schonen, im Krieg für sein Vaterland zu fallen und sich überhaupt so zu verhalten, dass man nicht in die mutmaßliche Hölle kommt.

Alle Religionsstifter treibt die Sorge um, dass die Menschheit ohne solche Disziplinierung nur fressen und ficken würde. Ausgenommen sind Sportler. Die mühen sich ab, um ihre Medaillen schon zu Lebzeiten einzuheimsen. Sport ist ja nötig geworden, als das Tagewerk die Muskeln nicht mehr genügend beanspruchte. Der Programmierer ist heute halt weit weniger körperlich tätig als vor fünfhundert Jahren der Landmann. Sport kam folgerichtig auf, zu einer Zeit, in der dem Leib im Alltag nicht mehr genügend abverlangt wurde. In der Antike waren die Athleten und ihre Trainer nackt erschienen. Verheirateten Frauen drohte die Todesstrafe, wenn sie hinsahen. Beide Maßnahmen wurden nicht wieder aufgegriffen, als sich der Begriff ‚Sport‘ im England des späten achtzehnten Jahrhunderts durchsetzte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts diente die Körperertüchtigung gern der ‚Volks- und Rassenhygiene‘. Im 20. Jahrhundert wurde alles dem Marketing untergeordnet. Trend und Kommerz: Spitzensport – Trikotwerbung – Fitnessstudio.

Meine Sichtweise auf Jägermeister-Reklame am Leib und die Zurschaustellung der physischen Bewegungsabläufe beim Kicken ist nicht mehrheitsfähig. Denn ich denke: So sinnvoll es ist, den Körper in ähnlichem Maße auszulasten wie den Geist (was vielen auch ohne Anstrengung der Gliedmaßen leicht fällt), so indezent finde ich es, Menschen bei solchen Tätigkeiten zu beobachten. Kommt mir vor, wie ihnen auf dem Klo zuzukucken.

Gewiss, wenn ich denselben Sport ausübe wie mein Betrachtungsobjekt und noch jung genug bin, um etwas daraus für mich zu lernen, oder wenn ich so alt bin, dass mir nur noch die nostalgischen Wonnen beim Anblick der Athletinnen bleiben, dann ist dieser Voyeurismus gerechtfertigt. Auch in Ascot seinen breitkrempigen Hut vorzeigen zu wollen, ist legitim, aber für Fernsehübertragungsrechte und Fußballstar-Ablöse Unsummen auszugeben, die anschließend beim Gutes-Tun fehlen – mir fehlen die Worte! Die ganze Welt – eine kapitalistische Schlangengrube: Es wird so viel gezahlt, wie es den Konsumenten wert ist. Wintersport im Kunstschnee. Klimaschutz? – Nein, danke. Lässt sich mit genügend finanzieller Unterstützung toppen: Ski-Weltmeisterschaft in Dubai zum Beispiel.

Wie bei allem, so gibt es auch hier in den verweichlichten Demokratien Gegenstimmen: Vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützte Miesmacher jammern über Menschenrechtsverletzungen in China; Optimisten halten dagegen, Sport sei völlig unpolitisch und würde, im Gegenteil, Brücken bauen. Hitler und Honecker sahen das, glaube ich, anders. Die dachten, so was schafft Prestige. Bei Xi Jinping habe ich da auch so meinen von IOC-Bach als unbegründet eingestuften Verdacht. Eher denke ich nämlich, Sport dient dem jeweiligen Regime als Rechtfertigung: ‚Wenn man es so wie wir macht, dann kommt man aufs Siegertreppchen.‘ Im Sport werden Sieger noch gebraucht, auch im Westen. Im Alltag beschäftigen sich Bürger westlicher Staaten nach all den Helden-Epen der vergangenen Jahrtausende heute lieber mit den Opfern und behaupten, selbst Opfer zu sein oder wenigstens deren Fürsprecher. Die Verlierer sind die Gewinner. Das ist Zeitgeist.

So kriegt man vielleicht doch noch die Kurve. Denn die kapitalistischen Systeme sind ja mächtig unter Rechtfertigungsdruck, auch gegenüber der eigenen intellektuellen Elite: ausbeuterisch, imperialistisch, rassistisch. Im Sozialismus geht dagegen alle Macht vom Volk aus. – Brav! Aber auch da hatte die Gleichheit immer schon Grenzen. Ich glaube einfach nicht, dass Kim Jong-uns Speiseplan dem von Gandhi oder dem seiner eigenen Bevölkerung gleicht, während er in einem seiner siebzehn Paläste schmatzend die nordkoreanischen Atomwaffen-Übungen hoch motiviert verfolgt. Opa war ‚Großer Führer‘, Papa ‚Geliebter Führer‘, er selbst ist seit dem Dezember vergangenen Jahres ‚Oberster Führer‘. Der Osten ist noch so heroisch, wie es der Westen mal war: Da kann sich Kim Jong-un ordentlich verehren lassen. Von den Spielen in Peking bleibt der Ärmste allerdings ausgeschlossen, weil er Tokio boykottiert hat. Alles völlig unpolitisch, natürlich.

Nicht nur, dass ich Sportveranstaltungen viel weniger mag als Armenspeisungen mit Schlagerstars und Sponsoren-Büfetts mit Kaviar, ich kann auch selbstgefällige Diktatoren schlecht leiden und bin froh, mich wenigstens in diesem Punkt von meinen Mitbürgern kaum zu unterscheiden.

Im Gegensatz zum olympischen Selbstverständnis bin ich politisch wach, und das merkt man wohl auch dem an, was ich unter ‚Berlin‘ verstehe. In diesem Punkt werden Sie mir wohl recht geben, wenn Sie meinen Bericht weiterlesen, in meinen Ansichten womöglich nicht.

Auf alles gefasst,
Hanno Rinke



Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

24 Kommentare zu “Betrifft: Glauben und Turnen

  1. Geht’s der Kirche denn darum, dass die Menschen nur fressen und ficken? Kontrolle und macht sind doch viel wichtiger.

    1. Kontrolle darüber, was gegessen wird (und was nicht!) und wer geliebt wird (und wer nicht), und dass außerdem genügend geopfert und gebetet wird. Dann noch die ‚Du-sollst-nicht‘-Gebote, und gut is‘.

      1. Mich wundert ja immer, dass die Kirche nicht so wirklich daran interessiert zu sein scheint mehr Menschen für ihre Religion zu begeistern. Sie ändert sich ja wirklich so gut wie gar nicht um auch 2022 noch relevant zu bleiben.

      2. Neue Dekoration hilft nur wenig, wenn schon die Idee, dass Gott einen Sohn zum Ermordet-werden auf die Erde schickt, so abwegig ist. Verzeihen könnte der Allmächtige, falls nötig, auch ohne diese barbarische Maßnahme.

      3. Man müsste ja dann Dinge über Bord werfen, an die man jahrzehntelang geglaubt hat. Wie sollte man das rechtfertigen? Also institutionell gesehen. Aus Sicht der Kriche…

      4. Da sagen Sie was. Ich fürchte die Kirche mag diee Analyse nicht so gerne hören.

    1. Da ist was dran. Trotzdem habe ich bisher nichts von den Olympischen Spielen mitbekommen. Ich habe nicht unbedingt das Gefühl etwas zu verpassen.

      1. Ich bewundere ja die Ausdauer. Manches ist auch hübsch anzuschauen. Der Wettbewerb reizt mich überhaupt nicht. Aber ich weiß, damit stehe ich allein.

    2. Es geht ja um die Spannung im Wettkampf. Nicht unbedingt um den Sport an sich. Aber da unterscheiden sich die verschiedenen Disziplinen auch sehr. Curling ist weniger aufregend anzuschauen als ein Tennismatch.

      1. Einzelne Kämpfer sind eben interessanter als Krieg. Aber Mannschaftssport hat auch seine Fans. Dabei werden Hooligans häufiger bei Fußballspielen als bei Polo-Wettkämpfen beobachtet.

      2. Und dann geht es nicht zuletzt um die Spannung bzgl. der großen Dopingskandale. Siehe Kamila Valieva.

      3. im vergleich sollte man dann auch noch einmal an sha’carri richardson beim letzten mal denken. die wurde ja etwas anders behandelt als nun die immer noch mögliche siegerin.

      1. Ja das ist auch wieder wahr. Gleichzeitig Begeisterung für die Spiele zu schaffen und kritisch zu berichten passt nicht so richtig zusammen.

  2. Djokovic will auf Grand Slam Turniere verzichten um sich nicht impfen zu müssen. Das finde ich bisher die interessanteste Sportnachricht der letzten Tage.

  3. Ich bin ehrlich gesagt immer noch nicht sicher wer am Ende das bessere Los gezogen hat: der, der sein Leben lang Verlierer ist aber letztendlich gewinnt, oder der, der immer Gewinner ist bis er ganz zum Schluss noch deklassiert wird.

    1. 50 Jahre lang gewinnen und dann ‚deklassiert‘ werden, ist längeres Glück, als bis kurz vor dem Tod leiden und mit 80 noch ein triumphales Jahr erleben. Ende gut, alles gut, das ist mir etwas zu kurz.

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