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Rundbriefe

Was es zum Leben braucht und was nicht

Liebe Leserinnen und Leser,

so wie dieses Jahr angefangen hat, so will ich jedes Jahr haben. Eigentlich müsste überhaupt die ganze Zeit so sein: Der erste Tag ist ein Montag, dann wieder der 8., der 15., der 22. und schließlich der 29. Danach würde gleich der nächste Monat anfangen, und der würde genauso funktionieren. Tut er aber nicht, obwohl der Februar in diesem Jahr mit seinem 29. Tag sogar das Zeug dazu hätte. Fast nichts auf der Welt lässt sich in ein einfaches Schema quetschen. Erstaunlich, dass wir es auf so vielen Gebieten dennoch geschafft haben. Sonst wäre Zivilisation ja gar nicht möglich. Sie hat uns weit gebracht. Zurzeit können wir nach Davos, Potsdam, Iowa, Odessa, Gaza, Taipeh und Sanaa gucken: überall was los. So viel, dass ich die Augen lieber niederschlage. Was sehe ich da? – Mich. Bauch und Füße.

Zum Leben braucht es einen Körper. Das steht doch wohl fest. KI ‚lebt‘ nicht. Noch nicht. Ist Leben wertvoll? Jedes Leben? Ist es wertvoll, dass Cholera-Bakterien und Hitler gelebt haben? Wertung hilft nicht weiter, passiert aber trotzdem ständig. Etwas anderes ist bedeutsam: Die ewige Konsequenz des Lebens ist – der Tod. Die auf Fortpflanzung bedachte Natur käme sonst gar nicht zurecht. Was zu viel wird, rottet sie aus. Der Mensch hilft ihr dabei. Teilweise absichtlich, teilweise ohne zu überlegen. Die Bauern wollen nicht nur die Diesel-Subventionen beibehalten, sondern auch die Wölfe wieder loswerden. Tierschutzaktivisten sind entsetzt. Sie fordern, Redewendungen wie ‚ein Hühnchen rupfen‘ oder ‚einen Bären aufbinden‘ zu streichen. Auch die Begriffe ‚Schmierfink‘, ‚komischer Kauz‘ oder ‚dumme Gans‘ seien zu ächten. ‚Tierwohl‘ ist ein grünes Anliegen, wie auch der Verzicht auf Genmanipulation. Der Getreidekäfer lässt sich aber leider nicht durch Ermahnungen von Umweltschützern stoppen, sondern bloß durch Pestizide von Bayer.

Der Körper wurde – zumindest in den vergangenen zweitausend Jahren – weniger geachtet als der Geist, und deshalb war das geistlose Tier weniger wert als der geistreiche Mensch. Woke Zeitgenossen sehen das eher umgekehrt, Israels Verteidigungsminister Joaw Galant aber wohl nicht, wenn er sagt: „Wir kämpfen gegen Tiere. […]“1 Nein, Tiere hätten die Hamas-Gräuel nicht verübt. Dazu braucht es ‚Geist‘ – oder ‚Ungeist‘, wie man im Deutschen seit der Goethezeit sagen kann.

Das Leben braucht einen Körper, einen Geist braucht es nicht. Der Geist oder die Seele wird von den meisten Menschen als gegeben vorausgesetzt. Warum? – Wegen der Ewigkeit. Die Gewissheit, nach einem angemessenen Leben in die unendliche Glückseligkeit abzuwandern, hat ja etwas Beflügelndes – aber eigentlich nur dann, wenn ich mir nicht erlaube, mich zu fragen, wie ganz, ganz anders dieser – dann ewige – Zustand wohl aussehen würde als der Zustand, den ich auch erreichen könnte, wenn ich bereits zu hiesigen Lebzeiten eine Sonde an der – inzwischen ziemlich genau bestimmbaren – Stelle im Gehirn eingepflanzt bekommen habe, weil ich selber das dringend gewollt hatte oder weil die Regierung es zu meinem Besten so bestimmt hat.

Noch ist es ja nicht so weit, und deshalb kann sich der Geist weiterhin frei entfalten, um die schönsten Hoffnungen zu kreieren. Als es noch wenig zu essen gab, erfand er das Schlaraffenland, wo ihm gerupfte Hühnchen und dumme Gänse in den Mund fliegen würden. Moderner ist es, sich das Paradies als einen Zustand zu wünschen, in dem die Seele badet.

Der Körper hat ja als sterbliche Hülle keinen Anspruch auf ein späteres Weiterleben, die Seele schon. Ihre Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass sie eine nicht beweisbare Erfindung ist. Geistesblitze billige ich mir eitlerweise durchaus zu, aber trotzdem kann mein Geist, der sich mit meiner Seele identisch wähnt, nicht fliegen. Leider. Er ist auf Hirn und Hoden angewiesen. Essbare Innereien, wunderbare Gedanken. Wer ist da Koch, wer ist Kellner? Der Geist beherrscht den Körper. Oder? Der Geist sagt doch dem Körper, wo ’s langgehen soll! Das führt mal zur Erektion, mal zur Querschnittlähmung; jedenfalls zu Handlungen, die der Körper gefälligst auszuführen hat. Tut er meistens auch, und zwar eher nebenbei.

Ärgerlich, anerkennen zu müssen, dass das Nicht-Bewusste (nicht das Unbewusste) unser Leben bestimmt oder zumindest stark beeinflusst. Was mein Darm so leisten muss, und erst recht mein Immunsystem, merke ich erst, wenn es nicht klappt. Weder meine Abwehrzellen noch die eingedrungenen Viren haben Bewusstsein oder Intelligenz. Wie schaffen sie es trotzdem, jeden Einzelnen und die ganze Welt so zu beeinflussen? Ungewollt, weil Wille Bewusstsein voraussetzt. Haben ungerupfte Hühnchen und dumme Gänse ihre eigene Form von Bewusstsein? Und wie sieht Gott, unser aller Schöpfer, diesen Zusammenhang? Entweder er hat sich vertan oder er hat extra Gemeinheiten in das Daseinsspiel eingebaut. Kein Gott? Gibt’s ihn/sie nicht? Also wieder die Natur. Sie ist zwar ungebildet, aber sie hat so viel Zeit, dass sie zugucken kann, wie auf der Bühne sämtliche Möglichkeiten endlos lange durchprobiert werden, während sie, das geschlechtslose Universumsschicksal, im Parkett sitzt, ohne selbst eingreifen zu müssen/wollen/können und völlig emotionslos zusieht, wie sich die Handlung weiterentwickelt. Dieses Bild ist natürlich völliger Unfug. Aber weder fällt mir ein besseres ein, noch geht es ohne Bilder. Bilder sind für Geist = Seele das, was für den Körper die Nahrung ist. Und da habe ich bei Betrachtung der oben erwähnten Schauplätze zwischen Davos und Sanaa ein schönes Bild als Wiedergutmachung für Genesis, Kapitel 1, Vers 3:

„Und Gott sprach: ‚Es werde Dunkel.‘ Und es ward Dunkel. Und Gott sah, dass das Dunkel gut war.“ Und sonst? Das ewige Leben besteht eventuell nur darin, dass es gedacht werden kann. Reicht das nicht?

Im Blog kommen wir jetzt zu ähnlich mühsamen Betrachtungen. Aber wenigstens mit Bildern.

Unverdrossen,
Hanno Rinke

P.S.: Natürlich funktioniert die Zeitenwende nur dann, wenn der fünfte Montag nicht etwa ein neunundzwanzigster Tag im bestehenden Monat ist, sondern wieder ein Erster im darauffolgenden.



Quelle: 1‚Weltexpress‘ v. 17.11.2023
Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)

41 Kommentare zu “Was es zum Leben braucht und was nicht

  1. Oh, so viel, über das man Nachdenken kann und muss. Ich nehmen mir erstmal einen Kaffee und lese die Predigt gleich noch einmal.

    1. So gehört es sich ja in der Sonntagspredigt 😉 Mühsam, wie es der Blogtext selbst sagt, aber dafür auch lohnenswert. Was es zum Leben braucht und was nicht … das hat sich für mich über die Jahre sehr geändert. Ich gehe davon aus, dass es das auch weiterhin tun wird.

      1. Im Laufe des Alterns ändert sich das, was man m ö c h t e. Das, was man braucht, sind Schlaf und Nahrung. Körperliche und geistige Beweglichkeit sind wünschenswert und veränderlich. Anregungen sind willkommen. Aber auch ein Koma-Patient lebt.

      1. Seele und Geist lassen sich nicht wissenschaftlich belegen. Sie sind philosophische Konstruktionen.

    1. Ich fand diesen kurzen Text ja sehr passend: „Seele“ meint meist den nichtmateriellen, unsterblichen Kern unserer Person. Es gibt verschiedene mögliche Antworten auf die Frage. Der Philosoph sagt: „Die Hypothese ‚wir haben eine Seele‘ ist nicht falsifizierbar. Nach Popper fehlt damit eine zentrale Voraussetzung für deren Beleg.“ Der Physiker sagt: „Die Vorstellung einer Seele widerspricht dem Energieerhaltungssatz. Auch materielose Wesen benötigen Energie, um mit dem Körper zu interagieren.“ Der Informatiker sagt: „ ‚Seele plus Körper‘ ist komplizierter als ‚Köper allein‘. Gibt es gute Gründe für das komplizierte Modell?“ Der Demoskop sagt: „Laut Statista glauben derzeit 40 Prozent der Bevölkerung an eine Seele.“ Aber die philosophisch-wissenschaftliche Betrachtung greift zu kurz. Der Glaube an die unsterbliche Seele entspricht dem Bedürfnis nach Unvergänglichkeit und ist zentraler Bestandteil der Weltreligionen. Von diesen wird die Frage natürlich bejaht.“ (Prof. Dr. Johannes Kornhuber, Direktor des Lehrstuhls für Psychiatrie und Psychotherapie FAU)

      1. So kann sich jeder das aussuchen, was seinem Denken bzw. Fühlen entspricht. Oder er/sie lebt weiter mit der Ungewissheit: dem Zustand, der dem Menschen am gemäßesten, aber von vielen nicht auszuhalten ist. Religionen und Populisten freut das.

      2. Mich überrascht, dass nur 40% der Menschen an eine Seele glauben. Ist die Zahl korrekt?

      3. Die Seele ist ein langgestrecktes Weizengebäck der schwäbischen Küche. Die Seele ist außen knusprig, innen weich, luftig und feucht.
        Wikipedia

  2. Ich würde ja auch fast sagen, dass die beiden sich gegenseitig beherrschen. Aber jetzt wo ich es schreibe komme ich wieder ins Grübeln.

    1. Das, was wir ‚Geist‘ nennen, folgt gewissen Algorithmen, das, was wir‘ Körper‘ nennen, auch. Sie müssen interagieren, falls man sie überhaupt unterscheiden kann. Haben Tiere eine Seele? Hat Künstliche Intelligenz Geist?

      1. Einen Glauben bestimmt nicht, auch die Menschen wären womöglich besser dran, wenn sie darauf verzichten könnten, statt in seinem Namen Kriege zu führen. Da aber die Seele nicht klar definierbar ist, darf jede Hundebesitzerin ihrem Mops eine Seele zuschreiben, ohne dass wir ihr das Gegenteil beweisen können.

    1. Kommt nicht eh bald die 4-Tage-Woche? Spätestens wenn die KI dafür gesorgt hat, dass wir alle nicht mehr so viel arbeiten müssen?

      1. Die einen werden sehr spezianisiert arbeiten und viel Geld (Krypto)geld verdienen. Die anderen werden ruhig gestellt und damit zufrieden sein.

    2. Ein Denkfehler, lieber Norbert. An der Anzahl der Sonntage ändert das System ja genauso wenig wie an allen anderen Wochentagen. Nur die Monate sind alle gleich. Schade, dass die Astronomie, bzw. Gott, da nicht mitspielt.

  3. Die KI-generierte Influencerin Aitana Lopez ist 25 Jahre alt, hat über 172.000 Follower und verdient 10.000 Euro pro Monat. Ist das schon Leben oder fehlt da noch was?

  4. Der Geist beherrscht den Körper solange, bis der Körper rebelliert. Sei es durch Krankheit, Überanstrengung, oder was auch immer. Dann kann sich das Ganze schnell umdrehen. Da versucht der Geist es dann nur noch dem Körper so gut es geht recht zu machen, damit der wieder einigermaßen funktioniert. Erst dann findet der Geist wieder seine Freiheit.

    1. Damit wird dann auf eine Art und Weise die Titelfrage zumindest teilweise beantwortet: Was es zum Leben braucht ist das Gleichgewicht von Geist und Körper.

      1. Ein Beispiel: Erst will der Geist eine Droge, die der Körper nicht braucht. Dann zwingt der Körper den Geist, die Droge weiter zu beschaffen, weil er abhängig ist. Aus der Nummer kommt der ‚Geist‘ nur schwer wieder raus. Der Einklang vom Körper mit dem, was den Rest der Persönlichkeit ausmacht, ist erstrebenswert und womöglich die Voraussetzung für Glück. Leben braucht aber weder Geist noch Glück.

      2. Rein biologisch kommt das hin. Für alles was mehr ist, braucht es das dann aber schon.

      3. Ja. Rein biologisch lässt sich die menschliche Existenz nicht befriedigend erklären.

  5. Zivilisation ohne Ordnung ist ja immer schwierig. Ob diejenigen, die unsere Ordnung so gerne über den Haufen werfen würden deswegen unzivilisiert sind? Vielleicht.

    1. Die reine Anarchie ist nicht lebbar. Ganz so geregelt die im Sozialismus und im Kloster muss es aber auch nicht sein.

      1. Ich mag ja den Mittelweg eigentlich ziemlich gerne. Aber momentan ist das nicht mehr so en vogue.

      2. Ich kann das nachvollziehen. Die Mitte muss ja gar nicht immer lauwarm heißen. Aber man hält sich eben von den Extremen und allem was zu riskant ist fern. Und gleichzeitig hält man sich Spielraum nach allen Seiten hin frei.

      3. Wir leben in einer Welt der Schlagzeiten, und die Mitte produziert keine Schlagzeiten.

      4. Das ist wohl wahr. Wie kommt man aus diesem Strudel der Extreme dann wieder raus?

      5. Beim kulinarischen Strudel: essen.
        Beim physikalischen Strudel: Nicht gegen den Sog des Strudels ankämpfen, sondern mit aller Kraft Richtung Boden tauchen. Ganz unten ist die Sogwirkung am schwächsten. Versuchsweise auch in der Politik anwendbar.

      6. Würde das im Politischen heißen, dass man das Spiel quasi erstmal mitspielen müsste, um das Ganze dann von Innen heraus zu unterwandern und umzumodelieren? Oder wie könnte man das übersetzen?

      7. Das wäre der von den 68ern angestrebte Marsch durch die Institutionen. Dabei haben sich die Marschierenden dann aber mindestens so verändert wie die Institutionen. Man läuft eben nicht immer, um anzukommen, sondern manchmal auch, um zu gestalten. Das Leben – ein Roadmovie.

  6. Dass Joaw Galant sagt man kämpfe gegen Tiere … nun ja. Dass selbst Trump (krieglos) davon redet, dass man das Ungeziefer im Land ausrotten müsse … unglaublich.

    1. Der Ton ist allerorts so schrill, dass man wirklich Angst haben muss wie sich die Weltpolitik in den nächsten Monaten entwickeln wird. Man fühlt sich ziemlich hilflos.

      1. Im Bundestag war der Ton zwischen Strauß und Wehner schon 1960 schrill. Was Theaterdonner ist und was Programm, ist manchmal schwer zu unterscheiden.

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