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Rundbriefe

Wenn die Brücke einstürzt

Liebe Leserinnen und Leser,

‚Der Sinn des Lebens‘ ist – abgesehen von Monty Python – nur den Gläubigen bewusst, nicht den Denkern. Das muss Denker, Schwätzer, schweigende Mehrheiten und zu Koalitionen verurteilte Regierungen nicht davon abhalten, sich und ihren Kindeskindern eine atomspaltungsfreie Welt mit Maissprit aus afrikanischen und südamerikanischen Demokratien zu wünschen, Bauern, Ärzten, Steuerzahlern gefallen zu wollen, und überhaupt das Leben aller so gestaltet zu wissen, wie es allen gefällt: denen, die dieses Dasein führen müssen, aber auch denen, die ihnen dabei zusehen und beurteilen, ob Gerechtigkeit, Umweltschutz und Toleranz der betrachteten Gruppen und Völker den eigenen Wertmaßstäben entsprechen.

Daneben muss man aber auch mal an sich selbst denken: Nahrung, Kleidung, Karriere – Themen von erheblicher Bedeutung für Schlachtvieh, ‚Armani‘ und Frauenquote. Jedes einzelne dieser Themen reicht aus, um sich ausschließlich mit dem Diesseits zu beschäftigen und sogar zu behaupten, man dächte dabei auch oder nur an die Zukunft. Deren Eigenart ist es aber nun mal, dass sie zwar geplant werden muss, sich aber nicht planen lässt.

Das beginnt schon bei Kleinigkeiten: Ich lade – nur so zum Beispiel – meine Nachbarn mit Kindern zum Kalbsgulasch ein. Bei meinem Fleischer, der sonst immer alles hat, gibt es nur Rindsgulasch. Ich vertraue darauf, dass bei klugem Würzen die Gäste, die sowieso mehr meinen Worten nachlauschen sollen als dem Kuhgeschmack, den Unterschied nicht bemerken werden. Jedoch: Die Mutter meiner Nachbarin hat am Nachmittag etwas ereilt, wie ihr deren Nachbarin telefonisch mitteilte; meine Nachbarin muss die knapp 90 Kilometer zu ihr fahren, um zu überprüfen, ob es sich um einen Kreislaufzusammenbruch oder um einen hysterischen Anfall handelt. Ihr Mann ist auf dem Weg vom Büro zu seiner Nachmittagsgeliebten beim Zusammenstoß mit einem überfallenen Gefangenentransporter tödlich verunglückt; der Sohn hat aus Schulfrust wegen der strengen pädagogischen Maßnahmen aufgrund einer Amokschützin in seiner Klasse die Einladung glatt verschusselt, und seine Schwester ist Veganerin, isst also bloß die nackten Kartoffeln; gut, dass ich keine Eiernudeln gemacht habe.

Wenn aber bereits solche unvorhersehbaren Missgeschicke einem Gastgeber sein kleines Abendessen vermiesen können, wie sieht es da erst aus, wenn es um Dinge geht, die ganze Stadtteile oder die Menschheit betreffen? – Nicht besser. Einige Menschen, zu denen ich mich zähle, versuchen, dem Problem mit Dramaturgie zu begegnen: Alles läuft so ab, wie es richtig ist, weil ich es mir richtig mache (falls Gott das nicht schon für mich getan hat. Dann habe ich gemäß seiner Fügung den ursprünglich vorgesehenen Zug verpasst, um einem bestimmten Menschen zu begegnen – oder nicht zu begegnen, das ist ja genauso schicksalsentscheidend. Anstelle von Zügen können auch fiebrige Erkältungen, verlorene Schlüssel und Erdbeben zur Wende beitragen. Wichtig ist, das alles wichtig zu nehmen und richtig einzuordnen).

Wie auf so vieles andere auch bin ich, als ich anfing selbstständig zu denken, von meiner Mutter auf ‚Die Brücke von San Luis Rey‘ aufmerksam gemacht worden. Das Buch beeindruckte mich so sehr, dass ich darüber einen Vortrag in der Schule hielt. Ich empfand mich zu jener Zeit noch als gläubigen Katholiken, den die Verbrennung des als Chronist fungierenden Mönches schmerzte, weil als Grund für das Autodafé galt, dass er die Frage nach dem ‚überindividuellen Lebenssinn‘ (Wikipedia) zu stellen gewagt hatte.

Und doch: Beim Einsturz der Brücke starben alle zum genau richtigen Zeitpunkt ihres Lebens, lässt sich aus den Biografien ableiten. Damals nahm ich mir vor, es dereinst genauso hinzubekommen, und bis es so weit wäre, immer so zu leben, dass sich der Zeitpunkt dieses entscheidenden Augenblicks für Gott und für mich von Jahr zu Jahr deutlicher herauskristallisieren würde. Immer habe ich versucht, aus Zufall ‚Geschick‘ zu formen und im willkürlich Erscheinenden das übergeordnet Notwendige klar zu erkennen. Damit das besser klappte, habe ich Tagebücher, Bücher, Gedichte und Theaterstücke geschrieben, ich habe Songs und Sinfonien verfasst, bei denen es in meiner Macht stand, Form und Inhalt zu bestimmen, und ich habe mir den Ablauf des Lebens im Film so zurechtgebastelt, dass er sinnstiftend rüberkam.

Weil ich diese Eigeninitiative für ein notwendiges Lebensprinzip halte, erlebe ich es immer mit empörter Missbilligung, wenn ich Menschen fragen höre, warum Gott ein ihnen geschehenes Leid zugelassen habe, oder wenn ich das alberne ‚Warum?‘ auf einem Kindergrabstein lese. Wie furchtbar wichtig nimmt sich der Fragende? Alle paar Minuten passiert überall auf der Welt jemand anderem etwas ebenso Schlimmes. Na ja, der Fragesteller nimmt sich genauso wichtig, wie ich mich nehme. Und dann frage ich eben entweder nach dem ‚überindividuellen Lebenssinn‘ oder ich besaufe mich an Kunst oder an Schnaps oder an (einem?) Menschen, damit ich den Genuss dieser Drogen wieder in das mir gemäße Leben einordnen kann, das zu meinem folgerichtigen Tod führen wird. Kein Gotteszweifler soll mein Grab je mit einem ‚Warum?‘ schänden. Zur Vervollständigung der Antwort habe ich jeden Tag beigetragen. Kein Gebet von mir wird vorher Gottes Willen, mir meinen zu lassen, in Zweifel gezogen oder ihn um Änderung seiner vor Anbeginn aller Zeiten gefällten Entschlüsse angebettelt haben.

Musikalisch habe ich schon ziemlich gut vorgesorgt. Viele neue Lieblingsstücke, die die eindrucksvollsten Stunden meines Alters begleiten werden, traue ich mir nicht mehr zu, also ist die bereits vorhandene Zusammenstellung meiner Biografie in Tönen nach wie vor gültig und wirft heute noch denselben ‚Liedschatten‘ wie vor ein paar Jahren, als ich sie konzipierte. Ich höre hinein: in die Töne und in mich, und mir wird bewusst – ich bin zu alt zum Leben (wie ich es mir während der Glanzzeit jener Klänge bis in alle Zukunft ausgeschmückt hatte) und zu jung zum Sterben, was meine körperliche und seelische Verfassung (also eigentlich nur mich selbst etwas) angeht.

So ist beim Hin- wie beim Weghören die Wehmut meine Grundstimmung – ach, sie war es doch immer, so grell ich sie auch manchmal zu übertünchen trachtete. Da bleibt halt alles gleich, während es sich ständig verändert.

Diesen Text habe ich am 4. April 2011 geschrieben. Er kann die Brücke bilden zwischen den beiden Blog-Beiträgen, die jetzt auf Lesewillige zukommen.

Herzlich,
Hanno Rinke



Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)

42 Kommentare zu “Wenn die Brücke einstürzt

  1. Na sowas, der Satz „Diesen Text habe ich am 4. April 2011 geschrieben.“ hat mich überrascht. Aber da sieht man wieder, wie zeitlos solche Gedanken sind.

  2. Auch das Älterwerden gehört doch zu einem Leben dazu. Nicht nur das Ungestüme und die Energie der Jugend. Ich würde deshalb auch der Meinung sein, dass man gar nicht zu alt zum Leben sein kann. Gerade wenn, wie sie sagen, die körperliche und seelische Verfassung so gut sind, dass der Tod noch weit entfernt ist.

      1. Zum Glück weiss man es nie. Ich würde es zumindest nicht wissen wollen, wie alt ich werde.

      2. Man könnte sich die Zeit besser einteilen, denkt man. Aber das Ende wäre wie bei einer Hinrichtung.

      3. Ich stelle mir dann immer vor, man bekäme die Antwort, dass man schon mit Vierzig sterben würde. Dann wäre man doch sicher für den Rest seinen Lebens gestresst noch möglichst viele Dinge zu erledigen oder zu erleben. Ich glaube ich möchte lieber überrascht werden.

      4. Wer Überraschungen beim Todeszeitpunkt liebt, ist mit einem Schuss aus dem Hinterhalt besser bedient als mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs.

  3. Haha, so viel und so gerne man auch plant, wem bei allem nicht bewusst ist, dass das Leben an sich ziemlich ungeplant passiert, der wird viel Frustration erfahren.

    1. Ja klar, aber das ist doch alles eine Balance. „Go with the flow“ ist da wohl das passende Schlagwort. Aber man will ja gleichzeitig auch mal einen Weg zu Ende gehen und nicht an jeder Kreuzung eine neue Reise anfangen. Sonst kommt man zu nichts und irrt nur vor sich her.

      1. So ganz planlos zu sein finde ich eher anstrengend als befreiend. Das heißt ja auch nicht, dass man die ganze Zeit verbissen an seinen Plänen festhalten muss.

  4. Bei mir kommt das auf den Tisch, was ich selbst gerne esse. Da gehört nicht immer aber oft auch Fleisch dazu. Meine Gäste müssen sich genauso an meine Kochvorlieben anpassen, wie ich an ihre Diäten.

    1. Ich gebe Ihnen grundsätzlich recht. Eine private Einladung ist ja kein Restaurantbesuch. Man muss sich dementsprechend mit dem was gekocht wird, zufriedengeben. Die Wahrheit ist aber trotzdem sicher, dass man sich irgendwo in der Mitte trifft. Oft spricht man als Gastgeber sogar grob ab, was es zu essen geben wird. Denn, wenn man letztendlich mit guten Freunden am Tisch sitzt und der/die einzige ist, dem das Essen schmeckt, dann schrumpft die Tischgesellschaft über kurz oder lang sehr zusammen.

      1. Bis auf boshafte Ausnahmen läd man sich ja Gäste ein, denen es schmecken soll.

      2. Man kann den veganen Sohn der besten Freundin natürlich ignorieren oder ausladen. Beides hat sich in den meisten Fällen aber nicht als der Freundschaft dienlich ausgezahlt.

      3. Mir fehlt da die Erfahrung, aber ausgeladene Söhne klingen nach einer Belastung für die Freundschaft.

    2. Ich koche nicht gerne vegan. Das liegt aber hauptsächlich daran, dass ich selber keine Veganerin bin und deshalb nicht die besten Rezepte parat habe. Ich versuche für jeden etwas zu essen zu haben, aber vertraue als erstes immer auf meine Stärken beim Kochen.

      1. Ich habe während des Neuanstrich meiner Wohnung für einen veganen Maler gekocht. Merke: vegan ist nicht wie immer, bloß ohne Fleisch. Etwas mehr Mühe muss man sich schon geben.

      2. Das ist der Punkt, der mich immer nervt, wenn ich mit Freunden in vegane Restaurants gehe. Oft scheinen mir das einfach kleine Unternehmen zu sein, die mit dem vegan-Trend Geld machen wollen. Dort werden dann oft klassische Gericht fleischlos zubereitet. Ich denke da z.B. an ein veganes vietnamesisches Restaurant in meinem Viertel. Da gibt es alle Gerichte mit Tofu statt mit Fleisch. egal ob das passt oder nicht. Alternativ gibt es viele „Bowls“.Die Schüssel wird einfach zum Gericht erklärt. Wirklich neue Rezepte, die auf tierische Produkte verzichten, scheinen mir in der Gastronomie noch rar zu sein.

      3. Tofu statt Fleisch klingt erst einmal nach der naheliegendsten Alternative. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass mittlerweile überhaupt so viele Restaurants Gerichte für Veganer anbieten.

      4. Wenn man wirklich sucht, findet man auch. Sogar Zuhause: Bei ‚Amazon‘ gibt es zahllose vegane Kochbücher. Ich selbst würde auf Butter und Sahne nur ungern verzichten. Gerade am Gemüse.

      5. Das kommt für mich auch nicht in Frage. Ich esse oft und gerne vegetarisch. Aber Butter gehört für mich zu vielen Gerichten dazu. Von Teigwaren und Kuchen ganz zu schweigen.

      6. Nicht mal auf Zahnseide, Wollsocken und Lederriemen würde ich gern verzichten. Auf Honig schon eher.

  5. Vielleicht ist dieser Sinn des Lebens der Gläubigen gar nicht so überzeugend. Wer nicht glaubt und trotzdem seinen Sinn im Leben findet, der hat doch eigentlich viel mehr erreicht. Und er hat, denke ich mal, vor allem ein Sinn gefunden, der nicht nur auf das Leben nach dem Tode zielt, sondern im Hier und Jetzt verankert ist.

      1. Ja genau. Da kann dann auch jeder für sch entscheiden, was dieser Sinn sein kann und ob man so einen allgemeinen Lebenssinn überhaupt braucht um glücklich zu sein.

      2. Der Sinn ist nicht immer klar erkennbar. Aber ein als sinnlos empfundenes Leben will keiner führen.

      3. Das ist klar. Sinnlos will sein Leben bestimmt niemand empfinden. Nur das Ausmaß solch eines Sinns variiert wohl. Den einen reicht es persönliches Glück zu finden, die anderen wollen etwas Bedeutendes hinterlassen, die nächsten wollen die Welt zu einer besseren machen.

      4. Traurig, dass so viele, die die Welt besser machen wollten, sie schlechter gemacht haben, wenn sie an die Macht kamen.

      5. Man muss sich dann fast zwangsweise fragen, ob diese Leute die Welt wirklich besser machen wollten oder ob das nur Schein war. Wenn die erste Frage mit ja beantwortet wurde, bleibt noch das Rätsel warum das nichts geworden ist. Das eigenen Können überschätzt? Die Realität falsch eingeschätzt? Die falschen Pläne gehabt?

      6. Bei Hitler, Khomeini und Putin würde ich sagen: Die falschen Pläne gehabt.

  6. Man könnte unsere Existenz wirklich mit diesem einen Satz umschreiben: Alles bleibt gleich, während es sich ständig verändert.

  7. Dieses „warum“ wird manchmal benötigt um den eigenen Schmerz ertragen zu können. Man kann da versuchen viele Antworten zu geben, aber keine davon wird etwas nützen. Vielleicht steckt auch etwas von der am Ende des Textes erwähnten Wehmut in der Frage. Eine Art schmerzvolle Sehnsucht nach schöneren Zeiten.

    1. Ein plakatives WARUM hilft da auch nicht weiter, zumal es ja wohl anklagend gemeint ist. „Gott, du hast dich nicht richtig gekümmert.“ Unerwachsen!

      1. Loriot fand ein Leben ohne Mops sinnlos, Söder eins ohne Bratwurst. Aus Tofu?

      2. Ich fände den fehlenden Mops leichter zu verschmerzen als die Wurst. Aber machbar ist sicher beides.

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