Liebe Leserinnen und Leser,
Tschaikowskis Sinfonien mag ich, besonders die fünfte. So ein schöner Schluss! Auch bei Schostakowitsch ist mir die fünfte wichtig, und die monumentale siebte. Prokofjew hat ebenfalls Interessantes geschrieben. Tolstoi habe ich gern gelesen, Dostojewski mit Leidenschaft. Kandinsky schätze ich in Maßen. Kein Zweifel, die russische Kunst ist ein wichtiger Bestandteil der europäischen Kultur. Einzelne Russen, meist aus Moskau oder St. Petersburg, haben sie geschaffen. Aber das ganze Volk zwischen Murmansk und Wladiwostok – ist das überhaupt ein Volk? Von ‚Volkscharakter‘ zu sprechen finde ich ja schon fast faschistisch, aber die Mehrzahl der Lappländer ist wohl doch anders als die Mehrzahl der Sizilianer. Und die Russen?
‚Obrigkeitshörig und phlegmatisch‘, sagen Russen, die finden, dass sie selbst anders sind. ‚Wenn Putin weg ist, werden diese Untertanen dem nächsten starken Mann huldigen, egal, wer kommt‘, sagen die verwestlichten Russen. Ob das stimmt? Väterchen Stalin war wenig besser als Hitler, und nicht die Russen haben ‚Hitler‘ besiegt, sondern die Briten und vor allem die Amerikaner, auch wenn die Russen schneller in Berlin waren.
Mein Vater wurde noch kurz vor Kriegsende an die Front kommandiert (als ‚letzte Goebbels-Spende‘, nannte er das), und er erzählte immer, dass die sowjetischen Befehlshaber die Soldaten in den Kampf schickten und gleich gnadenlos in ihre eigenen Leute haben feuern lassen: Menschenmaterial gab es ja genug. Inzwischen habe ich diese Einschätzung auch bei Historikern gelesen.
Nun gibt es in Deutschland die, die sowieso eine starke Neigung zur russischen Mentalität haben, und die, die finden, man dürfe Putin nicht reizen, sonst würde er mit Atombomben schmeißen. In der ‚Emma‘ erschien ein – an den Kanzler gerichteter – offener Brief. Dessen Thesen und die Gegenargumente des darauffolgenden offenen Briefes in der ‚Zeit‘ werden seither wie angesagte Klamotten durch Feuilletons und Talkrunden geschleppt. In vermeintlicher Sicherheit, in der ich hier sitze, scheint es vielleicht wohlfeil, Betroffenen lieber Durchhaltewillen als Kapitulation zu wünschen. Trotzdem hat mich Jan Fleischhauers Sicht am meisten überzeugt, und deshalb möchte ich ihn jetzt aus dem ‚Focus‘ vom 6. Mai zitieren:
Schon altersmäßig sind viele, die jetzt zur ‚Besonnenheit‘ mahnen, wie das neue Wort für Untätigkeit lautet, von einem Atomkrieg weniger betroffen. Alice Schwarzer wird dieses Jahr 80 Jahre alt, Alexander Kluge ist gerade 90 geworden, Habermas ist 92 Jahre alt, Martin Walser sogar schon 95. Ich weiß, der Tod kommt immer verfrüht. Aber für einen 25- oder 30-Jährigen kommt er doch deutlich verfrühter.
Diese Süffisanz gefällt mir. Ich gehöre ja selber zu den Alten, auch wenn ich versuche, meine ganzen (selbst verschuldeten) Unpässlichkeiten ohne Selbstmitleid zu schildern, nicht zu jammern, sondern gerade wieder im Blog aufzuzeigen: Jedes Alter ist voll von Ärger und Schmerz. Aufzugeben sollte keine Option sein, weder mit zwanzig noch mit achtzig. Der Humor kann schwarz sein, aber er muss, sobald endlich wieder ein ganz kleines bisschen Licht zu sehen ist, unter allen Umständen auferstehen, nicht gleich wie der Heiland, wie Phoenix aus der Asche genügt fürs Erste. Und wenn das ferne Licht dann doch nicht das Ende des Tunnels war, sondern bloß das ewige Leben: reicht doch!
Siegesgewiss,
Hanno Rinke
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)
Betrifft: Nie zuvor – und ab jetzt für immerBetrifft: Ungelogen!
Fleischhauer trifft da einen guten Punkt
Ein weiterer wichtiger Punkt wäre wohl, dass man (wie immer) lieber mit der Ukraine diskutieren sollte als über sie.
Das gilt trotz allem aber auch für Russland. Man sollte immer wieder versuchen diplomatische Gespräche zu führen und Putin an den Tisch zu holen.
Putin macht momentan nicht den Anschein, als wäre er an Diplomatie interessiert. Aber Sie haben natürlich schon recht. Man muss es kontinuierlich versuchen. Frieden (und vor allem dauerhaften Frieden) wird man nicht erreichen können, solange sich eine Partei als Verlierer sieht.
Windelweiche Bittstellerei erreicht bei Putin nichts. Wie man ein befriedigendes Ergebnis erreichen soll, bei dem Putin sich einreden kann, nicht der Verlierer zu sein, sehe ich im Augenblick noch nicht.
Man kann nur hoffen, dass die Berichte wahr sind und längst ein Putsch vorbereitet wird. Das würde die Situation ohne Frage um einiges vereinfachen.
Das hat natürlich zur Bedingung, dass man einen Putsch anzettelt, weil man nicht mit der Richtung, die Putin für sein Land vorsieht, einverstanden ist. Wenn es nur darum geht einen angeblich schwerkranken Mann zu ersetzen, dann ändert sich an der politischen Lage vielleicht gar nicht so viel.
Die meisen Russen stehen hinter Putin und werden auch hinter seinem Nachfolger stehen. Da helfen Illusionen nicht weiter.
Gruselig. Aber leider wird das wahr sein.
Dieser Emma-Brief hat mich überrascht. Gerade weil die Argumentation eben darauf abzielt, dass sich die Ukrainer am besten unterwerfen sollten. Da kann ich beim besten Willen nicht folgen und verstehe auch die Unterzeichner nicht.
Die Angst, selbst in einen Konflikt zu geraten, führt dazu, sich nicht einzumischen. Manchmal wird man dabei aufgemischt. Dann ist man ‚betroffen‘.
Das Leben kann wirklich voll von Ärger und Schmerz sein. Trotzdem kann ich mir kaum vorstellen, wie es sein muss in einer Kriegszone zu leben. Dass sich dieser Konflikt weiter über Europa ausbreitet, macht mir nach wie vor Angst.
Angst kann man haben, man sollte sich aber nicht von ihr beherrschen lassen.
Das ist keine Frage. Man sagt ja nicht umsonst, Angst kann lähmen.
Was kommt wohl nach dem Ende? Hoffentlich nichts mehr. Zu viele Gedanken mache ich mir darüber aber auch nicht. Man kann sich ja eh nur überraschen lassen.
Das einzige, was mich stört, ist, dass man nachher nicht zu den Gläubigen sagen kann: „Siehste! Wusst‘ ich’s doch – hier is‘ nix!“